«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren»

Ein Aufruf für die heutige Welt

von Eliane Perret, Psychologin und Heilpädagogin

In Frieden zu leben ist ein tief verwurzelter Wunsch aller Menschen. Um so drängender sind wir heute gefordert, gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, unter denen ein Zusammenleben in Würde und Freiheit möglich ist. Wir alle sind – jeder in seinem Aufgabenfeld – aufgerufen, unseren Beitrag zu leisten, ansonsten bleibt dieses Ziel eine leere Forderung. Besondere Verantwortung tragen unsere vom Volk gewählten und beauftragten Entscheidungsträger. Sie müssen Mitmenschen sein, die sich in ihrem Handeln am Wohle aller orientieren, und dürfen sich nicht von bewussten oder unbewussten egoistischen Machtansprüchen verführen lassen.
  Doch sind gerade in der Schweiz mit ihrem einmaligen direktdemokratischen System alle Menschen in die Verantwortung eingebunden, ein gleichwertiges Zusammenleben möglich zu machen. Das braucht gereifte Persönlichkeiten, die ihren Blick über den eigenen Horizont hinaus auf die Welt richten und anstehende Aufgaben erkennen und anzupacken gewillt sind. In diesem Kontext kommt unserer Volksschule spezielle Bedeutung zu, denn sie ist – in Unterstützung und Ergänzung der Familie – ein unverzichtbares Übungsfeld, um in kleinen, altersgemässen Schritten die Fähigkeiten zur demokratischen Mitgestaltung zu entwickeln. In der Beziehung und mit der Anleitung ihrer Lehrer und Lehrerinnen können die Kinder und Jugendlichen ein gesundes Empfinden für gegenseitige Wertschätzung und Achtung aufbauen und echtes Mitgefühl mit leidenden Mitmenschen entwickeln. Dazu gehört eine spontane Abscheu gegenüber Unrecht, verbunden mit dem Wunsch, zu gesellschaftlichen Bedingungen beizutragen, in denen die Würde aller Menschen nicht nur geachtet, sondern in gegenseitigem Geben und Nehmen gelebt wird. Die Bildungsinhalte unserer Schulen müssten diesem Ziel speziell Rechnung tragen.

Heutige Lehrpläne:
 nur dürre Formulierungen

Doch ist dem nach wie vor so? Nach 30 Jahren Schulreformen? Suchen wir in den für die deutschsprachige Schweiz aktuell verbindlichen Lehrplänen, so finden wir die Begriffe «Demokratie» und «Menschenrechte» im Kompetenzbereich «Demokratie und Menschenrechte verstehen und sich dafür engagieren»1. Was darunter zu verstehen ist, findet man als dürre Kompetenz gefasst: «Die Schülerinnen und Schüler können die Entwicklung, Bedeutung und Bedrohung der Menschenrechte oder Kompetenzen erklären» oder in der ebenso dürren Kompetenzstufe: «… können Kinder- und Menschenrechte erläutern». Und nun? In der Praxis stehende Lehrerinnen und Lehrer wissen um die Komplexität eines solchen Themenkreises und dass eine lediglich intellektuelle Auseinandersetzung und Begriffsklärung niemals genügt, sondern ein gefühlsmässig tiefer gehender Lernprozess nötig ist. Eine anspruchsvolle, aber bereichernde Aufgabe für Lehrerinnen und Lehrer, die sich auch glücklicherweise (entgegen der Ausbildung) nicht als Lerncoach verstehen, sondern ihre Aufgabe auf dem Boden eines personalen Menschenbildes ausfüllen und dazu die breite Palette der Unterrichtsfächer in individueller Art und kreativ zu nutzen wissen.

«Wir könnten eigentlich
 alle Freunde sein …»

Genau beobachten zu lernen gehört beispielsweise zu einem fachlich fundierten und Erfolg versprechenden Zeichnungsunterricht. Wir probierten das aus, und jedes Kind zeichnete die Umrisse seiner Hand auf einem leeren Blatt nach. Als die Skizzen in wildem Durcheinander auf dem Boden ausgelegt waren, sollte jedes seine eigene Hand finden oder die eines anderen Kindes zuordnen können.2 Es ist gut vorstellbar, dass dies eine anspruchsvolle Aufgabe war. Denn obwohl die Kinder unterschiedlichen Geschlechts und Alters waren, verschiedene Hautfarben hatten und unterschiedlich gross waren, sahen ihre Hände doch sehr ähnlich aus und waren nur an kleinen Eigenheiten zu unterscheiden. Daraus ergab sich die schon eher philosophische Frage, warum das so schwierig war. Kinder machen sich gerne Gedanken zu solchen Fragen, sie fühlen sich ernst und gross genommen. Bald standen verschiedene Vermutungen im Raum, die sie miteinander diskutierten. Ganz nebenbei übten sie dabei, sich in Ruhe zuzuhören, einen Moment innezuhalten und die Überlegungen der anderen Kinder zu den eigenen dazuzufügen (nach Lehrplan nüchtern als «Überfachliche Kompetenzen» bezeichnet). Schliesslich waren sie sich darin einig, dass sich eben die Menschen in sehr vielem sehr ähnlich sind und sich nicht in bessere oder minderwertige aufteilen lassen. «Wir könnten eigentlich alle Freunde sein», meinte ein Schüler nachdenklich, der sonst oft in Streitereien verwickelt ist. War da nicht in einfache Worte gefasst, was im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen festgehalten ist?

Nach den Greueln
 des Zweiten Weltkrieges

«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.»
  Diese Feststellung in Artikel 1 schliesst an die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen an, gefolgt von Artikel 2 mit dem Verbot der Diskriminierung: «Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist.»3
  Als am 10. Dezember 1948 um drei Uhr nachts Eleanor Roosevelt, Vorsitzende der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündete, war nach den Greueln des Zweiten Weltkriegs ein Dokument geschaffen worden, das weltweit ein friedliches Zusammenleben möglich machen sollte. Sie war in einem zweijährigen Diskussionsprozess von acht umsichtigen und verantwortungsvollen Männern und Frauen aus Australien, Chile, China, Frankreich, Libanon, der Sowjetunion, Grossbritannien und den Vereinigten Staaten ausgearbeitet und in der Folge in der Generalversammlung der Vereinten Nationen von den damals 58 Mitgliedsstaaten ohne Gegenstimmen und mit acht Enthaltungen verabschiedet worden. Seither wurde sie in mehr als 200 Sprachen übersetzt.

Ein weltweit gültiger Wertekatalog

Auch wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte keinen völkerrechtlich bindenden Status hat, so war doch zum ersten Mal in der Geschichte festgehalten, welche Rechte für alle Menschen gleichermassen gelten sollten. Es war ein von allen Völkern und Nationen zu erreichendes gemeinsames Ideal geschaffen, das den Menschen auf der ganzen Welt den Weg zu einem Leben in Würde und Freiheit bereiten sollte, eine Bedingung für einen dauerhaften Frieden. Daraus leitete sich das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, das Verbot von Sklaverei und Folter, die Gedanken- und Glaubensfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäusserung, Bildung, Arbeit, Gesundheit und Wohlbefinden ab, um nur einige der weiter ausdifferenzierten Paragraphen zu nennen. Vieles davon ist später in die nationalen Verfassungen aufgenommen worden oder mittlerweile für alle Staaten zwingendes Völkerrecht. Dieses auf den bitteren Erfahrungen eines weltweiten Krieges gegründete Vermächtnis hält unmissverständlich fest, dass niemand das Recht hat, das gesellschaftliche Zusammenleben mit Gewalt bestimmen zu wollen, oder befugt ist, die dem Menschen von Natur aus zukommenden Rechte einzuschränken, zu beschneiden oder zu missachten. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, gründeten die Vereinten Nationen 1993 das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte. Es soll die Menschenrechte auf nationaler und internationaler Ebene fördern und durchsetzen.
  Um so ernüchternder ist es, das Weltgeschehen der darauffolgenden Jahrzehnte zu reflektieren, denn leider sind wir weit davon entfernt, dass die Gültigkeit dieser Rechte überall auf der Welt erkannt wird. Die sogenannte Nachkriegszeit ist geprägt von weltweiten bewaffneten Konflikten, nur gerade im September 1945 waren 26 Tage ohne Krieg.

Die Bemühungen um einen
 weltweiten Frieden spürbar machen

Natürlich konnten wir in dieser Zeichnungsstunde und den darauffolgenden Schulstunden nicht in dieser Tiefe auf die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehaltenen Grundlagen eines friedlichen und würdevollen Zusammenlebens eingehen. Aber die Kinder hörten von diesen Bemühungen für einen weltweiten Frieden, sie wurden für sie gefühlsmässig spürbar gemacht. Darauf könnte später aufgebaut werden, denn ein würdiger Umgang der Menschen ist keine Selbstverständlichkeit, die auf den Wunschzettel gesetzt werden kann. Er muss im Zusammenleben gelegt, gestärkt, gefördert, stets erneuert und weitergetragen werden – ein wichtiges Arbeitsfeld, zu dem Psychologie und Pädagogik viel zu sagen hätten, basierend auf dem Naturrecht und einem personalen Menschenbild. Vielleicht so, wie Eleanor Roosevelt geantwortet hatte auf die Frage: «Wo beginnen die Menschenrechte?» «An den kleinen Plätzen, nahe dem eigenen Heim. So nah und so klein, dass diese Plätze auf keiner Landkarte der Welt gefunden werden können. Und doch sind diese Plätze die Welt des Einzelnen: Die Nachbarschaft, in der er lebt, die Schule oder die Universität, die er besucht, die Fabrik, der Bauernhof oder das Büro, in dem er arbeitet. Das sind die Plätze, wo jeder Mann, jede Frau und jedes Kind gleiche Rechte, gleiche Chancen und gleiche Würde ohne Diskriminierung sucht. Solange diese Rechte dort keine Geltung haben, sind sie auch woanders nicht von Bedeutung. Wenn die betroffenen Bürger nicht selbst aktiv werden, um diese Rechte in ihrem persönlichen Umfeld zu schützen, werden wir vergeblich nach Fortschritten in der weiteren Welt suchen.»4 Doch kann die Verantwortung nicht nur beim einzelnen Menschen liegen, denn der Schutz der Würde des Menschen muss auch in den Verfassungen der Länder und in internationalen Konventionen verankert sein und ernst genommen werden. Die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie bietet hierzu beste Voraussetzungen.

Was erzählen wir
 den Kindern zu Weihnachten?

Doch auch hier gilt es wachsam zu sein und Sorge zu tragen, denn die Bestrebungen, unser Land aus seiner Neutralität herauszulösen und in die Kriegsfront einzubinden, sind lautstark und unverfroren. Es braucht ein starkes Gegengewicht, den erpresserischen Druckversuchen standzuhalten und durch Spin-doktoren ausgeklügelter Meinungslenkung Einhalt zu gebieten. Tun wir das nicht, dann werden wir vor unseren Kindern und Jugendlichen stehen, wie Annemarie Buchholz-Kaiser, Psychologin und Historikerin, bereits vor mehr als zwanzig Jahren nachdrücklich gewarnt hatte: «Erzählen wir nächstes Jahr zu Weihnachten unseren Kindern, dass es früher einmal Demokratien gab? Länder, wo die Menschen frei waren, wo sie über ihre Gesetze bestimmen konnten, wo jeder Bürger und jeder Einwohner von Natur aus eine Würde hatte, wo es Menschenrechte gab und jeder einen Anspruch auf eigenes Denken, auf eine eigene Meinung hatte, eine freie Meinung, ein Recht auf eine eigene Religion und Tradition, auf Rechtsverfahren, die an Beweise gebunden waren? Erzählen wir ihnen nächstes Jahr, dass – früher – den Menschen der Friede ein grosses Anliegen war, dass sie sich dafür mit ganzer Kraft und Überzeugung eingesetzt haben? Dass sie überlegt haben, wie man den ärmeren Ländern der Welt helfen könnte? Dass es einmal Stimmen gab für Frieden und soziale Gerechtigkeit? Dass es einmal eine Schweiz gab, in der mehrere Sprachregionen, mehrere Mentalitäten, mehrere Religionen dank direkter Demokratie ein Modell friedlichen Zusammenlebens, ein Filigranwerk an demokratischem Gestalten von unten nach oben, entwickelt hatten, das auch für Krisen- und Kriegsregionen der Welt einen Ausweg bieten würde? Erzählen wir ihnen all das im Imperfekt? Oder tun wir vorher noch einiges andere?»5
  Lieber würde ich ihnen erzählen, wie ein schwedischer Same den bekannten Schweizer Fotografen Werner Bischof begrüsst hatte: «So, so, aus der Schweiz kommst du, dem Land des Friedens.»6  •


1 Kompetenzbereich RGZ 8. www.zh.lehrplan21.ch, abgerufen am 6.11.2023
2 Ähnliche Aufgabenstellungen finden sich auch im Buch «Wie ich mit Kindern über Kriege und andere Katastrophen spreche» von Eliane Perret und Rüdiger Maas.
3 https://unric.org/de/allgemeine-erklaerung-menschenrechte/
4 https://www.planet-wissen.de/geschichte/menschenrechte/geschichte_der_menschenrechte/pwiedieallgemeineerklaerungdermenschenrechte100.html; abgerufen am 6.11.2023
5 Buchholz-Kaiser, Annemarie. «Was erzählen Sie nächstes Jahr zu Weihnachten Ihren Kindern?» In: Zeit-Fragen vom 21.12.2001
6 Bildlegende in der Zeitschrift Du, Nr. 6, Juni 1949

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