«Das globale Ökosystem braucht eine neutrale Schweiz»

Interview mit Scott Ritter anlässlich der 30. Konferenz «Mut zur Ethik» vom 1.–3. September 2023, Teil 1

Zeit-Fragen: Scott Ritter, Sie waren schon einmal in der Schweiz, aber das ist schon lange her. Jetzt sind Sie zurückgekommen. Was sind Ihre Eindrücke von der Konferenz «Mut zur Ethik»1, an der Sie gerade hier in der Schweiz teilgenommen haben, und was waren Ihre Eindrücke bei Ihrer früheren Schweiz-Reise?
Scott Ritter: Das letzte Mal, dass ich in der Schweiz war, ist 30 Jahre her, mehr als 30 Jahre. Es ist also eine Menge Zeit vergangen. Aber als ich jetzt erneut gelandet bin, hatte ich zuerst ein Gefühl der Vertrautheit; denn die Schweiz, an die ich mich erinnere, war immer ein sehr sauberes, ordentliches Land, ein schönes Land, schöne Aussichten, gut organisiert – das war es, was mich hier begrüsste. Erst im Laufe dieser Konferenz, als insbesondere die Frage der Schweizer Neutralität aufkam, wurde mir klar, dass die Schweiz von heute eine ganz andere ist als die Schweiz, in die ich vor 30 Jahren kam. Und wenn man sich mit Leuten unterhält, ist es interessant, wie man etwas sehen kann, ohne zu verstehen, was unter der Oberfläche vor sich geht. Wäre ich einfach nur durch die Schweiz gefahren, hätte ich die Realität, die sich heute in der Schweiz abspielt, nicht verstanden: die Sorgen in bezug auf die Situation der Bildung im Land, die Rolle der Demokratie, insbesondere die einzigartige Form der direkten Demokratie in der Schweiz. Und dann natürlich die Frage der Neutralität. Ich denke, jeder, der die Nachrichten verfolgt, weiss, dass die Schweiz gerade eine Krise in bezug auf ihren Neutralitätsstatus durchmacht.
  Aber Ausländer, wie wir Amerikaner es sind, wir lesen nur die Meldungen. Wir verbinden damit keine menschlichen Gefühle. Und noch einmal: Wenn man nicht weiss, wie die Schweiz funktioniert, liest man von der direkten Demokratie und nimmt an, dass die Schweizer Regierungsbeamten nach dem Willen des Volkes handeln. Dann stellt man fest, dass der Wille des Volkes nicht einmal konsultiert wird. Dass die Schweizer Regierung Schritte unternimmt, die dem zuwiderlaufen, was die Schweiz ausmacht.
  Schon vor 30 Jahren, als ich in die Schweiz kam, wusste ich, dass ich an einen besonderen Ort komme, einen anderen Ort. Sie war nicht Teil der Nato. Sie war eine neutrale Nation. Und als ich vor ein paar Tagen hier gelandet bin, habe ich diese Annahme aus reiner Gewohnheit gemacht, weil ich die Nachrichten, die ich über die Aushöhlung der Schweizer Neutralität gelesen habe, nicht damit in Verbindung gebracht habe. Ich habe das nicht mit der Realität in Verbindung gebracht.

Als Amerikaner die Neutralität
 aus Schweizer Perspektive verstehen

Aber diese Konferenz veranlasste mich dazu, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und es mit Schweizer Augen zu sehen. Das war vielleicht das Wichtigste: Es aus einer Schweizer Perspektive zu verstehen und dabei darüber nachzudenken, was das für mich als Amerikaner bedeutet. 
  Nun habe ich vom US-Botschafter Scott Miller und seinen unangemessenen Bemerkungen und seiner Haltung gegenüber der Schweiz erfahren. Ich bin sehr stolz darauf, Amerikaner zu sein. Und ich bin sehr stolz darauf, dass Amerika es schafft, sich selbst zu helfen und seine Probleme selbst zu lösen. Deshalb werde ich wütend, wenn Amerikaner versuchen, anderen Menschen vorzuschreiben, was sie in ihrem Leben tun sollen. Ich würde nämlich auch wütend werden, wenn mir jemand vorschreiben wollte, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Ich weiss, dass es Probleme gibt. Ich weiss, dass sie gelöst werden müssen. Ich werde eine Lösung finden. Vielen Dank.
  Es ist die Arroganz und Hybris eines amerikanischen Botschafters, der versucht, dem Schweizervolk durch seine Regierung, eine willfährige Regierung, eine Lösung zu diktieren. Aber ich wusste nicht, dass die Schweizer Regierung so weit vom Volk entfernt ist. Das ist neu für mich.

«Mut zur Ethik» verstehen …

Und dann habe ich die Leidenschaft und die Intelligenz der Vorträge auf dieser Konferenz gehört. Ich muss sagen, ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Ich meine, ich gebe manchmal zu viel von mir preis, aber ich wusste nicht, was «Mut zur Ethik» bedeutet, und ich meine, selbst wenn ich die Worte nachgeschlagen hätte, hätte ich nicht gewusst, was es wirklich bedeutet. Aber dadurch, dass ich hierhergekommen bin und Ihnen zugehört habe, wie Sie darüber gesprochen und es betont haben, wissen Sie, der Mut Ihrer Überzeugungen. Und das wurde auf dieser Konferenz zum Leben erweckt.
  Es war interessant und faszinierend, das zu beobachten. Dann wird man als Mensch mit dem Mut der Überzeugungen anderer Menschen konfrontiert, und das fordert einen heraus, sich zu fragen: «Tue ich genug? Bin ich mutig im Sinne meiner Überzeugungen?» Es waren also ein paar wirklich interessante Tage.

Für die gemeinsame Sache
 der Menschlichkeit zusammenarbeiten

Was haben Sie von der Konferenz mitgenommen, was war für Sie am wichtigsten?
Ich habe viel daraus mitgenommen, aber das Wichtigste ist die absolute Notwendigkeit, dass alle für die gemeinsame Sache der Menschlichkeit zusammenarbeiten, und ich denke, dass die Schweiz, das kleine europäische Land mit seiner Geschichte der Neutralität, das Richtige ist. Genauso, wie wir andere Dinge in der Welt schützen – dort sprechen wir über das Aussterben von Arten und darüber, was für eine Tragödie es für die Welt ist, wenn Tiere aussterben, und wie notwendig es ist, sie zu erhalten. Dabei geht es nicht nur um die Erhaltung einer einzelnen Art, sondern um die Erhaltung aller Arten. Denn in einem Ökosystem muss alles harmonisch zusammenarbeiten, und das globale Ökosystem braucht eine neutrale Schweiz. Wenn wir die Neutralität der Schweiz aussterben lassen, zerstören wir das globale Ökosystem. Es gerät aus dem Gleichgewicht.
  Ich verlasse diese Konferenz engagierter denn je, weil ich mich weitergebildet habe, weil ich mit dem Wissen ausgestattet wurde, für die direkte Demokratie in der Schweiz zu kämpfen. Denn ich kämpfe für die amerikanische Demokratie. Ich kämpfe für die Menschlichkeit. Ich kämpfe für die Erhaltung der Welt – und ich hätte diesen Blick auf die Bedeutung der Neutralität nicht, wenn ich nicht an dieser Konferenz teilgenommen hätte.

«Die Neutralität ist vielleicht
 die mutigste Sache der Welt»

Was bedeutet für Sie die Neutralität der Schweiz? Wie sehen Sie die Neutralität aus der Sicht von jemandem, der in der ganzen Welt gereist ist und gearbeitet hat?
Bevor ich diese Frage beantworte, muss ich zuerst ganz ehrlich sagen, dass das, was ich über die schweizerische Neutralität wusste und auch heute weiss, noch sehr begrenzt ist.
  Nun, die Schweiz ist ein neutrales Land, aber es geht wohl nicht nur um die Schweiz. Es geht um das Konzept der Neutralität im allgemeinen. Früher habe ich die Welt in Schwarz und Weiss eingeteilt, Gut gegen Böse, und so war eine neutrale Person für mich jemand, der sich weigert, Stellung zu beziehen, der für nichts einsteht. Das war meine Wahrnehmung. Aber als ich erwachsen wurde und mit der Realität des Lebens konfrontiert wurde, habe ich festgestellt, dass das Leben nicht schwarz und weiss ist, sondern sehr grau – mit vielen, vielen Grautönen.
  Durch Erfahrungen und Begegnungen mit Menschen wurde mir klar, dass die Neutralität vielleicht die mutigste Sache der Welt ist. Es ist leicht, sich von der einen oder anderen Sichtweise einfangen zu lassen, und es ist leicht, es als WIR gegen SIE zu rechtfertigen, als Gut gegen Böse, wie auch immer man es nennen will. Aber am Ende des Tages ist das Ergebnis sehr destruktiv, sehr destruktiv. Und wenn man die Zerstörung sieht, die damit einhergeht, wird einem klar, dass es keine Rolle spielt, ob man gut oder böse ist, oder welche Vorstellung man hatte, als man in den Konflikt ging. Der Konflikt tötet einfach Menschen. Das ist alles, was er tut. Er tötet Menschen und vernichtet sie. Und das ist das Böse, denn beide Seiten denken, dass sie auf der richtigen Seite stehen: «Ich habe recht.» «Ich habe recht.» Sie prallen aufeinander. Das Böse, das durch diesen Konflikt entsteht, führt zu toten Menschen. Und die Neutralität ist dazu da, dieses Übel zu verhindern. Die Neutralität soll verhindern, dass diese beiden Seiten aufeinanderprallen. Die Neutralität ist ein Eingriff der Vernunft, ein Eingriff der Menschlichkeit.

«Neutralität ist die
 globale Sicherheitszone»

Leider sehen wir sie meist in der Zeit nach einem Konflikt, wenn die neutralen Parteien hinterher helfen, das Chaos zu beseitigen, die beiden zu trennen, Familien zusammenzubringen und den Menschen zu helfen; und sie werden als eine Kraft des Guten wahrgenommen. Aber wenn man über die Neutralität nachdenkt – vor allem in der Art und Weise, wie es die Schweizer tun –, dann versuchen sie, Konflikte zu verhindern. Das ist das Wichtigste von allem; es war Teil meines persönlichen Wachstums. Ich denke, als Erwachsener, als Mensch, muss ich erkennen, dass die eigentlichen Feiglinge die Menschen sind, die keine Neutralität zu wahren wissen. Die eigentlichen Feiglinge sind die Menschen, die einen starken Standpunkt einnehmen, weil das der einfachste Weg ist. Es ist der Weg des geringsten Widerstands. Der wirklich mutige Mensch ist derjenige, der in der Lage ist, sich von der Einzigkeit dieses Weges zu lösen und offen dafür zu sein, die Sichtweise des anderen zu berücksichtigen. Aber das ist angesichts der Vorurteile sehr schwierig. Manchmal braucht man also einen neutralen Ort, um dies zu tun.
  Wir brauchen Neutralität. Neutralität ist die globale Sicherheitszone, die es den Menschen ermöglicht, zusammenzukommen und Probleme zu lösen, um Konflikte zu vermeiden. Und das ist es, was ich zu schätzen weiss. Ich muss schockiert sein, denn ich dachte, die Schweizer würden auch daran glauben. Und nachdem ich hierhergekommen bin und herausgefunden habe, dass die Schweiz von dieser Haltung abgewichen ist, muss ich ganz offen sagen, dass ich Ihre Regierung für eine der feigsten Regierungen halte, die man sich vorstellen kann. Dass sie den Weg des geringsten Widerstandes gegangen ist, dass sie vergessen hat, wofür die Schweiz stand.
  Die Schweiz vergisst ihre Geschichte. Und wenn man seine Geschichte vergisst, wird man ein Niemand. Denn wenn die Schweiz ihre Neutralität aufgibt, wird sie zu einem Klon der EU. Sie wird ein kleines Deutschland, ein kleines Frankreich, ein kleines Italien. Sie wird zu einem kleinen Nichts. Im Moment ist die Schweiz eine grosse Nation, weil sie für etwas Grosses steht. Aber wenn man das wegnimmt, wofür steht die Schweiz dann noch? Alpen, Jodeln…?

Herzlichen Dank, Scott Ritter, für das Gespräch.  •



1 30. Konferenz «Mut zur Ethik» zum Thema «Eine multipolare Weltordnung nimmt Gestalt an – Menschsein und Menschlichkeit in einer sich verändernden Welt» vom 1.–3. September 2023 (vgl. Zeit-Fragen Nr. 20/21 vom 3. Oktober 2023).

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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