Über den Stand des Seilziehens zwischen Bern und Brüssel herrschte vor den Parlamentswahlen im Oktober Stillschweigen. Am 8. November hat nun der Bundesrat bekanntgegeben, dass er seine internen Gespräche mit den Kantonen und den Sozialpartnern sowie die Sondierungsgespräche mit der EU-Kommission abgeschlossen habe. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA werde nun einen Entwurf für ein Verhandlungsmandat ausarbeiten. Inhaltlich hält sich der Bundesrat sehr bedeckt, formell wird das Ganze etwas anders strukturiert als das im Mai 2021 gescheiterte Rahmenabkommen.1
Bereits am 6. November plauderten aber die Gewerkschaften – die in die Planungsphase einbezogen worden waren – an ihrer Medienkonferenz aus dem Nähkästchen. Sie haben am Dossier des Bundesrates eine ganze Menge auszusetzen. Mit ihrer Kritik leisten sie einen hilfreichen Beitrag zur unverschleierten Information der Bevölkerung.
Ob «Paketansatz» oder «institutionelles
Rahmenabkommen» ist Hans was Heiri
Der Bundesrat ist nach wie vor weit davon entfernt, seinen verfassungsmässigen Auftrag zu erfüllen, nämlich die Interessen der Schweizer Bevölkerung zu vertreten. Statt dessen mutet er uns eine praktisch unveränderte Neuauflage des gescheiterten institutionellen Rahmenabkommens in neuem Gewand zu.
Beim «Paketansatz» stehen die institutionellen Regeln des EU-Systems, die für alle bisherigen und künftigen bilateralen Verträge zwischen Bern und Brüssel gelten sollen, nicht mehr in einem zentralen Abkommen. Statt dessen würden die Grundregeln des EU-Rechts diskret in jedes einzelne bisherige oder künftige Abkommen (in jedes Päckli) hineingepflanzt.
Auf folgenden bekannten Grundregeln beharrt Brüssel seit zehn Jahren, weil sie Teil des EU-Systems sind: Verpflichtung der Schweiz zur Übernahme der gegenwärtigen und künftigen Rechtsentwicklung der EU, faktische Unterstellung der Schweiz unter die Rechtsprechung des EU-Gerichtshofs («Neue Zürcher Zeitung»: «Für die EU ist dies ein Heiligtum») sowie Übernahme des EU-Verbots staatlicher Beihilfen (zu deutsch Liberalisierung/Privatisierung des Schweizer Service public). Insofern ist es für uns egal, ob man das Ding nun «Rahmenabkommen» oder «Paketansatz» nennen will. In diesem Sinn hält die «Neue Zürcher Zeitung» fest: «An zentralen Elementen hat sich im Vergleich zum gescheiterten Rahmenvertrag nichts geändert.»2 Wesentlich ist und bleibt für uns Bürger, dass das Schweizer Staatsmodell nun einmal nicht zum undemokratischen und bürokratischen EU-System passt.
Nicht erwähnt wird in der Medienmitteilung des Bundesrates die Unionsbürgerrichtlinie, die Bundesrat Ignazio Cassis, als er vor einigen Jahren die Leitung des EDA übernahm, als «rote Linie» bezeichnete. Gemäss der «Neuen Zürcher Zeitung» will die Schweiz «hier vor allem zwei Dinge vermeiden: die Einwanderung in die Sozialhilfe und verfassungswidrige Einschränkungen bei Ausschaffungen».3 Diese Ziele, so die «Neue Zürcher Zeitung», seien «laut Angaben aus Bern erreicht». Das wollen wir aber schwarz auf weiss sehen!
Bundesrat hat die Pflicht, seinen Kollegen
das Schweizer Staatsmodell zu erklären
Statt dass unsere Bundesräte ihren Kollegen in unseren Nachbarländern und anderswo erklären, warum die beiden Systeme nicht zusammenpassen, lassen sie es zu, dass die Brüsseler Bürokraten ihre Regeln unauffällig in die einzelnen Verträge verpacken. Verträge notabene, die wir zum Teil gar nicht brauchen, weil sie nicht in unserem Interesse sind, oder die wir als gleichberechtigte Partner inhaltlich mitgestalten wollen. Die Schweiz könne nicht erwarten, dass wir von der EU als Partner auf Augenhöhe behandelt werden, denn die EU sei viel grösser und bevölkerungsreicher, ist zuweilen zu hören, und zwar nicht nur von seiten mancher demokratieferner EU-Politiker, sondern erstaunlicherweise auch von Schweizern. Ein wirklich merkwürdiges Argument. Die Schweizer Kantone zum Beispiel sind absolut gleichberechtigt, obwohl ihre Bevölkerungszahlen sich extrem stark unterscheiden. Den EU-Politikern das Elementarwissen über die Schweizer Demokratie zu erklären, wäre die dringendere Aufgabe unserer Politiker und Diplomaten, als dauernd zwischen Bern und Brüssel hin- und herzupendeln, um das neueste Kommando einzuholen.
Lohnschutz und Service public
statt Liberalisierungsprogramm
Unter diesem treffenden Titel spricht der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) nicht nur die Arbeitnehmer, sondern einen grossen Teil der Bevölkerung an. In seiner Medienmitteilung fasst Chefökonom Daniel Lampart zusammen: «Die mit den Sondierungen beauftragte Bundesverwaltung hat in den Gesprächen [mit Brüssel] einem Abbau des Lohnschutzes sowie einer Liberalisierung des Strommarktes für Kleinkunden sowie dem Marktzugang von Flixtrain und anderen Anbietern im grenzüberschreitenden Personenverkehr zugestimmt.»4
Blenden wir den Bundesrat mit seiner Medienmitteilung vom 8. November im O-Ton ein: «So wird beispielsweise der Service public von den Verhandlungen nicht tangiert.» Eine kühne Behauptung! Gut, sprechen die Schweizer Gewerkschaften Klartext.
«Öffentlicher Verkehr der Schweiz
darf nicht unter die Räder der EU kommen»
Alle Gewerkschaftsvertreter an der Medienkonferenz wiesen auch die Forderung der EU, den Personenverkehr für private Unternehmen zu öffnen, deutlich zurück. Adrian Wüthrich: «Die Öffnung des Personenverkehrs für private Unternehmen stellt einen Paradigmenwechsel und eine Gefahr für das Schweizer öV-System dar.» Matthias Hartwich, Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV): «Das öV-System der Schweiz ist ein Erfolgsmodell. […] Um dieses funktionierende und gute System beneiden uns unsere Nachbarn […]. Menschen und Güter gelangen zuverlässig, pünktlich und umweltfreundlich an ihre Ziele.» Hartwich warnt: «Die Liberalisierung, die in Teilen Europas im Bahnsektor erzwungen worden ist, hat in aller Regel zu schlechterem Angebot, schlechteren Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten, Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit geführt. Wir wollen auch in Zukunft zuverlässige Bahnen in der Schweiz – für Menschen und Güter. Das ist notwendig, um Verkehr von der Strasse auf die Schiene zu bringen; in der EU geschieht gerade das Gegenteil.»7
Hartwich erinnert daran, dass der öV in der Schweiz Teil des Service public ist: «Die Schweizer Stimmbevölkerung und das Parlament haben wiederholt klargemacht, dass die Schweiz am bestehenden öV-System festhalten will. Die Menschen wollen keine Verhältnisse wie in Deutschland. Sie lehnen deshalb eine Liberalisierung im öV ab, wie sie von Teilen der EU-Kommission gefordert wird. Sie wollen keinen Abbau des Service public.»
Fazit der Gewerkschafter
«Mit einer gleichzeitigen Schwächung des Lohnschutzes, einer Liberalisierung im Bahnverkehr und bei der Stromversorgung ist ein Abkommen mit der EU von vornherein zum Scheitern verurteilt.» (Adrian Wüthrich)
«Die Zerstörung des funktionierenden Schweizer öV, um eine Einigung mit der EU-Kommission zu erzielen, kommt für den SEV nicht in Frage.» (Matthias Hartwich)
«Der Bundesrat muss diese Fehler korrigieren und in den Verhandlungen mit der EU die Interessen der Schweizer Bevölkerung vertreten. Er muss in den Verhandlungen den Lohnschutz und den Service public sichern.» (Daniel Lampart) •
1 «Der Bundesrat beschliesst, ein Verhandlungsmandat mit der Europäischen Union (EU) zu erarbeiten». Medienmitteilung des Bundesrates vom 8.11.2023
2 Schöchli, Hansueli. «Schweiz/EU. In Kernpunkten bleibt Brüssel hart». Neue Zürcher Zeitung vom 8.11.2023
3 Schöchli, Hansueli. «Schweiz/EU. In Kernpunkten bleibt Brüssel hart». Neue Zürcher Zeitung vom 8.11.2023
4 Lampart, Daniel. Medienkonferenz vom 6.11.2023. SGB-Position zum Verhandlungsmandat mit der EU-Kommission
5 Alleva, Vania. Unia Zentralsekretariat. «Stand Europa-Dossier: Lohnschutz nicht gesichert». Point de Presse vom 6.11.2023
6 Wüthrich, Adrian. Medienkonferenz vom 6. November 2023. «Europapolitik: Lagebeurteilung und Forderungen der Gewerkschaften. Nur ein echt verhandeltes und ausgewogenes Vertragspaket hat vor dem Volk eine Chance»
7 Hartwich, Mathias. «Öffentlicher Verkehr der Schweiz darf nicht unter die Räder der EU kommen». Referat an der Medienkonferenz vom 6.11.2023
mw. Den wesentlichen Unterschied des ominösen neuen «Paketansatzes» zum gescheiterten Rahmenabkommen erklärte der frühere Unterhändler des EDA für die Bilateralen II, Michael Ambühl, kürzlich in Radio SRF: «Jetzt haben wir ein Abkommen, das nicht nur institutionelle Fragen regelt, die eigentlich alle nicht wirklich in unserem Interesse sind, die alle nur Konzessionen der Schweiz gegenüber der EU bedeuten würden.» (Hervorhebung mw)
«Jetzt gibt es ein Bilaterale III-Paket […], in dem Geben und Nehmen in einem besseren Ausgleich ist. Man kann zum Beispiel für die Schweiz positive Abkommen aushandeln, zum Beispiel ein Stromabkommen, im Lebensmittelbereich, im Gesundheitsbereich, wo wir mitgestalten können. Dann kann das Gesamtpaket leichter auch die eine oder andere Kröte beinhalten, die man vielleicht leichter schlucken kann.»
Positiv zu vermerken ist, dass Michael Ambühl empfiehlt, sich von der EU nicht zu einem Zeitplan drängen zu lassen, und darauf hinweist, dass die Schweiz für Brüssel ein «problemloser Partner» ist, zuverlässig, ohne grosse Schulden, ohne Korruption.
Quelle: Karasek, David. «Michael Ambühl: Wieso soll es jetzt klappen?»
Radio SRF. Tagesgespräch vom 9.11.2023
Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.