von Karl-Jürgen Müller
Tom J. Wellbrock, Journalist und Mitherausgeber des deutschen Blogs neulandrebellen, schrieb am 3. November1, in Kriegszeiten nehme der innere und äussere Druck, sich für die eine oder andere Seite der Front zu positionieren, enorm zu: Wenn es nur noch «Gute» und «Böse» gibt, soll und will jeder auf der Seite der «Guten» stehen – selbst wenn er uninformiert ist und eigentlich kein Urteil fällen kann.
Auch deshalb haben es die neutralen Staaten in Kriegszeiten besonders schwer – obwohl gerade sie in solchen Zeiten von besonders grosser Bedeutung sind – so lange es noch den Willen gibt, das Ausmass der Zerstörungen und Opfer so gering wie möglich zu halten.
Sonst aber gilt: Es gibt immer weniger Stimmen, die bei einer Verhandlungslösung behilflich sein können. Statt dessen droht ein totaler Krieg, der nur noch mit der völligen Kampfunfähigkeit und der bedingungslosen Kapitulation der einen oder anderen Seite enden kann.
Europa hat dies faktisch im Ersten und ganz ausdrücklich im Zweiten Weltkrieg so erlebt. Das Ausmass und die Folgen dieser Katastrophen sind bekannt. Oder vielleicht auch schon wieder vergessen?
Es mag Kriege geben, die ohne eine bedingungslose Kapitulation der einen Seite nicht sinnvoll beendet werden können. Vielleicht war dies im Zweiten Weltkrieg so. Aber selbst hier bleibt die Frage, was möglich gewesen wäre, wenn die Kriegsgegner Deutschlands Hitler nicht viele Jahre zuvor mächtig protegiert hätten, wenn sie den innerdeutschen Widerstand entschlossen unterstützt und mit diesem dann wirkliche Friedensverhandlungen geführt hätten.
Der Preis des Krieges
Der Preis des Krieges bis zu seinem bittersten Ende ist immer besonders hoch.
Sicher ist auch: Wer den eigenen Machtanspruch absolut setzt und nichts eigenes in Frage stellen will, ist nicht verhandlungsfähig, sucht verbissen die schwere Niederlage, die Kapitulation des «Feindes». Mittlerweile gilt es zum Beispiel als nachgewiesen, dass zwar Russland im März/April 2022 zu einer Verhandlungslösung mit der Ukraine bereit war, die US- und die britische Regierung den Krieg aber unbedingt fortsetzen wollten.2 An dieser Konstellation hat sich bis heute im Grundsatz nichts geändert. Ähnlich ist es derzeit im Nahen Osten: Die grosse Mehrheit der Staaten der Welt fordert einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung – Israel und seine engsten Verbündeten lehnen dies (bislang) ab.
Patrik Baab:
Auf beiden Seiten der Front
Was ein sich immer länger hinziehender Krieg für die betroffenen Menschen bedeutet, wurde immer wieder beschrieben. Anfang Oktober hat Patrik Baab, ein deutscher Politikwissenschafter und Publizist, ein Buch veröffentlicht, das sehr viele sehr wichtige Informationen enthält, die im westlichen Mainstream verschwiegen werden. Der Titel des Buches lautet: «Auf beiden Seiten der Front. Meine Reisen in die Ukraine». Ich teile nicht alle politischen Urteile dieses Buches – kann aber trotzdem die Lektüre sehr empfehlen.
Patrik Baab hatte schon vor dem 24. Februar 2022 und dann erneut im Spätsommer/Herbst 2022 die Ukraine im Westen und auch im Osten des Landes besucht. Er gibt in seinem Buch nicht nur viele Gespräche mit Menschen aus dem Westen und dem Osten der Ukraine sowie aus Russland wieder, sondern ordnet diese Gespräche auch historisch und politisch ein. So gewinnt der Leser ein aufklärendes, aber auch erschütterndes Bild von der sehr langen Vorgeschichte des 24. Februar 2022, vom im Westen oftmals totgeschwiegenen innerukrainischen Krieg seit dem Frühjahr 2014 und vom Kriegsverlauf und seinen Folgen seit dem 24. Februar 2022. Auf der Rückseite des Buches ist zu lesen: Patrik Baab erzählt «die Geschichte hinter den Schlagzeilen und der Propaganda: vom Maidan-Putsch 2014 über den Bürgerkrieg im Donbass zum Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Nato. Das Buch zeigt die politischen Interessen und den geostrategischen Konflikt, um den es in Wahrheit geht. Es ist ein Poker am Rande eines Atomkriegs mitten in Europa – ein Tanz auf dem Vulkan.» Hinzufügen muss man: Auch die den Krieg schürenden wirtschaftlichen Interessen werden unter Nennung von Ross und Reiter sehr genau beschrieben.
Patrik Baab ist Deutscher, und ihm wurde in seinem Land das Leben schwer gemacht3 – weil er seinem journalistischen Grundsatz gefolgt ist: «audiatur et altera pars» – höre auch die andere Seite! Aber Deutschland ist Kriegspartei, und seine Politiker und seine Medien verlangen von den Deutschen, sich klar zu positionieren: auf der Seite der deutschen Kriegsführung.
Was Deutschlands Kriegsbeteiligung
für Russland bedeutet
Patrik Baab erinnert daran, was dies tatsächlich bedeutet. Auf Seite 169 zum Beispiel schreibt er über den gezielten Beschuss der Zivilbevölkerung in der ostukrainischen Stadt Donezk: «Tag und Nacht rollt ein Grollen durch die Strassen, immer wieder unterbrochen durch ein dunkles Bersten. Das sind die Einschläge französischer und deutscher 155-mm-Artilleriegranaten, US-amerikanischer 777-Haubitzen und der HIMARS-Raketen, die ukrainische Truppen auf die Zivilbevölkerung abfeuern. […] Leben im Donbass – das heisst seit März 2014 Sterben im Donbass.» (Hervorhebungen km)
Eine Seite weiter schreibt er: «Ich schreibe das, weil es viele Menschen in Deutschland nicht wissen wollen. Sonst könnten sie nicht endlich wieder die Russen hassen und trotzdem zu den Anständigen gehören. Sie müssen lernen, dass sie für die Menschen hier wieder besudelt unter den Völkern sitzen; deutsche Waffen erneut auf den Blutfeldern des einstigen deutschen Vernichtungskrieges. Da hört man sich lieber die Lügen der Regierungen von der Zeitenwende an, ein unprovozierter Angriffskrieg habe begonnen, am 24. Februar 2022, wie aus heiterem Himmel.»
Und auch das, was auf Seite 207 zu lesen ist, sollte jeder ernst nehmen: «Wieder werden deutsche Panzer gegen Russland rollen. 80 Jahre nach dem Sieg der Roten Armee in der Schlacht bei Stalingrad ist dies für ausnahmslos jeden Russen das grösstmögliche Trauma: ein Hauch von Hitler! Nach all den Angriffskriegen der Nato und der Ost-Erweiterung von Washingtons Vasallen-Bündnis sieht Moskau darin den endgültigen Beweis, dass der Westen keinen Frieden will.»
Ja, auch mir ist die deutsche Politik, sind die deutschen Medien und die deutschen «Eliten» fremd geworden. Bis auf wenige Ausnahmen haben sie sich für den Kriegskurs einspannen lassen, treiben ihn sogar massiv voran, wollen sogar an der Spitze der Bewegung stehen: ein radikaler – sich allerdings in den vergangenen 30 Jahren Schritt für Schritt («Salamitaktik») abzeichnender – Bruch mit der deutschen Staatsräson in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg («Nie wieder Krieg!»).
«Wir müssen kriegstüchtig werden» –
Ist das alles, was Deutschland zu bieten hat?
Nun hat der deutsche Verteidigungsminister Pistorius öffentlich über sein Land gesagt: «Wir müssen kriegstüchtig werden.»4 Kriegsbeteiligung allein mit massenhaft Waffen für kriegsführende Länder (noch vor Jahren für Deutschland zumindest offiziell ein No-go), mit militärischer Anleitung und Kriegsausbildung ausländischer Truppen reicht nicht. Der Bundeswehrverband, der offizielle Verband der deutschen Soldaten, war erfreut über diese «Provokation» – und fordert mehr Tempo dabei.5 Und Pistorius hat konkretisiert. Es gebe einen «Aggressor» in Europa: Russland. Und gegen den müsse Deutschland einen «Abwehrkrieg», einen «Verteidigungskrieg» führen können. Das ist die Rhetorik des Kalten Krieges. Noch schlimmer: Pistorius weiss genau, dass Russland bislang keine Pläne hatte, Deutschland anzugreifen. Allerdings: Deutschland ist seit dem 24. Februar 2022 im Rahmen seiner «Zeitenwende» Kriegspartei gegen Russland.
Um so mehr gilt: Sich aktiv für den Frieden einzusetzen – jetzt und heute, für einen gerechten Frieden, für ein Ende des gegenseitigen Tötens und all der Zerstörungen –, das ist eine «Positionierung», die geboten ist.
Patrik Baab schreibt am Ende seines Buches: «Nach unserer Ankunft in Berlin morgens gegen vier stelle ich den Führer durch die Sowjetunion von 1928 wieder in die Vitrine. Sándor Radós Traum von einem Europa der Menschen und Völker ist ausgeträumt. Aber Träume können nicht sterben. Sie leben fort in einer anderen Zeit.» Daran kann ich anknüpfen.
Aber er schreibt dann auch: «Sergey und ich trinken noch ein paar doppelte Whisky. Die helfen uns auch nicht weiter. Sie rufen nur Gedanken wach an die Jahre des Friedens in Europa, die wir nie mehr wiedersehen würden.» Ich hoffe sehr, dass Europa einen anderen Weg gehen wird. •
1 https://de.rt.com/meinung/185738-distanzieren-und-positionieren-innerer-frieden/ vom 3.11.2023
2 vgl. Funke, Hajo; Kujat, Harald. «Wie eine aussichtsreiche Friedensregelung des Ukraine-Krieges verhindert wurde. Der Westen wollte statt dessen den Krieg fortsetzen»; https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/home-ausgabe-10.html vom 26.10.2023
3 Patrik Baab schildert und kommentiert die Vorgänge in einem eigenen Kapitel: «Nordwärts: Im Propaganda-Krieg» (S. 223ff.)$
4 vgl https://bilder.deutschlandfunk.de/95/84/2c/8c/95842c8c-3280-4d54-ad43-e253ab538b4f/interview-pistorius-231031-100.pdf vom 31.10.2023
5 vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article248319128/Bundeswehr-Verband-lobt-Provokation-von-Boris-Pistorius-und-fordert-mehr-Tempo.html vom 2.11.2023
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