Deutschland, Israel und Palästina – ein Diskussionsbeitrag

von Karl-Jürgen Müller

Die Bilder vom 7. Oktober und der Krieg Israels gegen den Gaza-Streifen haben erneut die Frage aufgeworfen, wie Deutschland seine Beziehungen zu Israel und zu Palästina gestalten will. Dabei stehen sich zwei Positionen gegenüber: Die eine wird von der amtierenden deutschen Regierung praktiziert und gerechtfertigt. Es ist eine fast bedingungslose Unterstützung für die Politik Israels, gerechtfertigt vor allem mit der besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel nach dem millionenfachen Mord an europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland. Das Stichwort dafür ist, die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson (so Angela Merkel in der Knesset im Jahr 2008). Die andere Position knüpft ebenfalls an die deutsche Verantwortung nach 1945 an, stellt aber das bundesdeutsche Grundgesetz als Lehre aus den nationalsozialistischen Verbrechen und Fundament künftiger deutscher Politik ins Zentrum: die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte; Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaat; die Verpflichtung auf den Frieden und die allgemeinen Regeln des Völkerrechts. Auch in den deutschen Reaktionen auf die Politik Israels dürfe diese Richtschnur nicht aufgegeben werden. Diese Position kann sich zudem auf die 1948 verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte berufen, die in ihrer Präambel ausdrücklich davon spricht, dass «die Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben» – ein deutlicher Hinweis auf die nationalsozialistischen Verbrechen.
  Wie eine deutsche Politik aussieht, die ihrer vermeintlichen Staatsräson folgt, zeigte der deutsch-türkische Gipfel am 17. November. Während der türkische Staatspräsident Erdoğan gelegentlich der gemeinsamen Pressekonferenz1 die israelische Politik und die westliche Israelpolitik konkret kritisierte, berief sich der deutsche Bundeskanzler Scholz auf die erwähnte «Staatsräson», blendete dabei aber die Opfer des israelischen Krieges gegen den Gaza-Streifen aus und beschränkte sich diesbezüglich auf eher abstrakte, unverbindliche Formulierungen.
  Wörtlich sagte Bundeskanzler Scholz:
  «Am 7. Oktober hat die Hamas Israel auf barbarische Weise angegriffen. Die Bundesregierung verurteilt diesen Terrorakt der Hamas auf das schärfste. […] Wer Deutschland kennt, der weiss: Unsere Solidarität mit Israel steht ausser Frage. Israel hat das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich zu verteidigen. Gleichzeitig sagen wir: Jedes Leben ist gleich viel wert. Auch das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza bedrückt uns. […] Lassen Sie mich ganz klar sagen: Das Existenzrecht Israels ist für uns unumstösslich. Und lassen Sie mich genauso klar sagen: In unserem Land ist kein Platz für Antisemitismus, egal, ob er politisch motiviert ist oder religiös, ob er von rechts kommt oder von links, ob er seit Jahrhunderten hier gewachsen ist oder von aussen ins Land kommt.» Er fügte dann noch an: «Zugleich trete ich all denjenigen entgegen, die nun allen fünf Millionen Musliminnen und Muslimen in Deutschland ihren Platz in unserem Land absprechen wollen. Gegen solche Versuche wende ich mich genauso entschlossen.»
  Präsident Erdoğan sagte:
  «Ich spreche immer ganz offen – auch hier, denn der 7. Oktober wird als Anfang dargestellt, und die Vorgänge danach werden weniger dargestellt. Wir sprechen von 13 000 Kindern, Frauen, alten Menschen, die getötet worden sind. Daneben gibt es eigentlich fast überhaupt keinen Punkt mehr, den man Gaza nennen kann. Alles ist dem Erdboden gleichgemacht worden. Jeder spricht von Hamas, von morgens bis abends, auch von den Waffen oder der Kraft, der Macht der Hamas. Kann man das überhaupt vergleichen mit dem, was Israel hat? Hat Israel eine nukleare Waffe? – Ja. Aber wenn Sie Israel fragen, wird Israel nicht ja sagen, weil sie natürlich nicht unbedingt die Wahrheit sagen. Es wird ausserdem immer davon gesprochen, dass man eine finanzielle Unterstützung Israels gewährleistet. Wird auch Hamas solch eine Unterstützung gewährleistet? – Natürlich nicht. Auch die Unterstützung, die Palästina erhalten müsste, wird nicht erteilt. In dieser Not ist vielleicht auch folgendes sehr wichtig: Gotteshäuser, Gebetshäuser werden zerbombt, Kirchen werden zerbombt, auch Krankenhäuser werden zerbombt. Die Bombardierung von Krankenhäusern, das Töten von Kindern: Das gibt es in der Tora nicht, das dürfen sie nicht. Auch im Zusammenhang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte darf man das nicht. Aber wie werden und wurden diese Kinder getötet, wie werden die Menschen in den Krankenhäusern getötet? Werden wir dort einfach nur schweigen, werden wir unsere Stimme nicht erheben? Und wenn wir unsere Stimme nicht erheben, wenn wir nichts tun, wie werden wir den Preis dann in der Geschichte zahlen, wenn man dann zurückblickt?»
  Dann sagte er noch: «Wir sind natürlich auch bereit zu helfen, wenn es um die Rettung der Geiseln geht. Aber wie steht es um die Zahl der Geiseln auf der anderen Seite, in Israel, also der palästinensischen Geiseln? Wie hoch ist also, wenn wir von den Geiseln sprechen, die Zahl der Geiseln auf der palästinensischen Seite? In Israel gibt es ja sozusagen das Mehrfache an Geiseln, also an Palästinensern, die als Geiseln gehalten werden und die momentan in Israel gefangen sind. Auch das müssen wir sehen. Wenn wir das nicht sehen, wäre das nicht fair.»
  Peter Vonnahme, von 1982 bis zu seiner Pensionierung 2007 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München, hat in den Nachdenkseiten vom 9. November 20232 einen ausführlichen und lesenswerten Artikel zum Thema veröffentlicht und mit einem Nachtrag noch einmal deutlich erklärt, er verwahre sich dagegen, seine Ausführungen mit dem Verdikt des «Antisemitismus» zu belegen. Statt eigener Worte sei dieser ehemalige Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zitiert. Nach Darlegungen zu von der israelischen Politik zu verantwortenden Verletzungen des Völkerrechts und gar Völkermord, aber auch der Verantwortung Deutschlands für das Existenzrecht Israels kommt Vonnahme genauer auf die vermeintliche deutsche Staatsräson zu sprechen. Er schreibt dort:
  «Aus unserer Sonderverantwortung für Israel leiten sich auch wohlverstandene Freundschaftspflichten ab. Echte Freundschaft erweist sich nicht in der stillschweigenden Hinnahme oder gar Unterstützung von Fehlverhalten. Sie zeigt sich vielmehr im Mut, dem Freund notfalls in den Arm zu fallen, wenn er im Begriff ist, Fehler zu machen; andernfalls ist man ein bequemer und damit unzuverlässiger Freund. […] Wenn erkennbar ist, dass Israel sich verläuft, muss Deutschland als Freund helfend eingreifen; jetzt wäre die Zeit dazu. […]
  Traurige Tatsache ist jedoch, dass Deutschland bei israelischen Rechtsbrüchen in der Regel schweigt. Gelegentliche Reaktionen der deutschen Bundesregierung sind oftmals Zeichen von bedrückender Einseitigkeit und Perspektivlosigkeit. Wenn etwa die deutsche Aussenministerin Baerbock sagt, ‹In diesen Tagen sind wir alle Israeli›, hat das mit recht verstandener Freundschaft nichts mehr zu tun. Diese Äusserung ist unterkomplex und der Verantwortung einer Ministerin nicht angemessen. Baerbock blendet offensichtlich aus, dass sich Israel auf einem verhängnisvollen Irrweg befindet, der letztlich sogar seine Existenz in Gefahr bringen kann. Unübersehbar nimmt in der arabischen Nachbarschaft das Unverständnis, bisweilen sogar der Hass gegen Israel zu; weltweit schwindet die Solidarität mit Israel. Zweifelhaft ist auch, ob die von Israel seit Jahren verfolgte Politik der Härte gegenüber dem palästinensischen Volk die Gefährdungen für die eigene Bevölkerung verringert. Der Blutzoll der letzten Wochen spricht dagegen.
  Die von Kanzler Scholz unlängst abgegebene Erklärung, ‹Unsere Verantwortung, die sich aus dem Holocaust ergibt, macht es für uns zu einer ewigen Aufgabe, für die Existenz und Sicherheit des Staates Israel einzutreten›, ist einseitig und gefährlich. Sie ist gewissermassen ein Blankoscheck in dem Sinne, dass Israel machen kann, was es will, und Deutschland hierbei sekundiert. Damit lässt der Kanzler das Völkerrecht weit hinter sich. Ausserdem macht er sich zum naiven Büttel eines rechtvergessenen und rachsüchtigen Apartheidstaates. Norman Paech3 mahnt eindringlich, wer gegen einen Waffenstillstand votiere oder sich der Stimme enthalte, mache sich zum Komplizen eines Völkermords. Völkermord sei ein Verbrechen, das nach Paragraph 6 Völkerstrafgesetzbuch und Art. 6 des Römischen Statuts strafbar ist. Wer Israels Krieg unterstütze, mache sich mitschuldig. Dies solle die Bundesregierung genau bedenken.»  •



1 https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/pressekonferenz-von-bundeskanzler-scholz-und-praesident-erdo%C4%9Fan-zum-besuch-des-praesidenten-der-republik-tuerkei-in-berlin-am-17-november-2023-2241456
2 https://www.nachdenkseiten.de/?p=106411 vom 9.11.2023
3 Norman Paech ist Jurist und emeritierter deutscher Professor für Politikwissenschaft und für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg.

Kriegshetze der übelsten Art

km. Die Aussage des deutschen Kriegsministers Pistorius, «Wir müssen kriegstüchtig werden», war nicht nur eine Propagandaformel – sie war ganz ernst gemeint. Das zeigt ein Artikel, den Zeit online am 19. November veröffentlichte.1 Verfasser des Artikels sind zwei deutsche Kriegstreiber an vorderster Front: Nico Lange, Senior Fellow für die «Zeitenwende»-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz, und Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. Unausgesprochen erkennen beide Autoren an, dass die Ukraine nicht mehr in der Lage ist, den Krieg gegen Russland fortzusetzen. Aber sie ziehen daraus nicht die vernünftige Konsequenz, endlich mit ernsthaften Verhandlungen zu beginnen und den Krieg zu beenden. Statt dessen fordern sie nun den «totalen Krieg» gegen Russland. Sie malen ein Weltkriegsszenario an die Wand. Dies drohe, sollte es zu einer Verhandlungslösung kommen, die Russlands Kriegsziele beachtet.
  Wer unvoreingenommen ist, der kann diese Ziele nennen: eine Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine und der Schutz der russischsprachigen Bevölkerung. Konkret: keine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine – und mittlerweile: die Integration der mehrheitlich russischsprachigen Landesteile in die Russische Föderation. Der Ausblick: eine europäische Sicherheitsordnung mit gleicher Sicherheit für alle europäischen Staaten, auch für Russland.
  Lange und Masala formulieren dies – ohne jeden Beleg – radikal anders. Sie stellen es so dar, als wenn eine solche Verhandlungslösung eine Weltkatastrophe auslösen würde. Kostprobe: «Sirenen heulen. Handy-Warntöne schrillen tausendfach. Luftalarm in München, Frankfurt und Berlin. Marschflugkörper und Drohnenschwärme dringen in den deutschen Luftraum ein. Schon seit Tagen stehen auch deutsche Soldaten in Feuergefechten in den baltischen Staaten. In Reaktion auf russische Angriffe dort löste die Nato einen Artikel-5-Beistandsfall aus. Russland reagierte mit Raketen.» Das Horrorszenario wird weiter ausgemalt: Weltkrieg und das Ende von Demokratie und Menschenrechten. Für Deutschland: «Unser Leben in Deutschland wäre unsicherer, ärmer und einsamer.» Für Europa: «Niemand in Europa wäre mehr sicher.» Und für die Welt: «Ein russischer Sieg über die Ukraine würde das Ende der Welt, wie wir sie kennen, einläuten.» Beide Autoren geben sich sicher: «Klingt das übertrieben? Nein! Falls Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gewinnt, ist dieses Szenario realistisch.» Und jetzt kommt der Satz, um den es beiden eigentlich geht: «Deshalb lohnt es sich, mit allem, was Europa und den Vereinigten Staaten zur Verfügung steht, die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen den russischen Aggressor zu unterstützen.» Konkret für Deutschland: «Mehr deutscher Einsatz könnte erheblich dazu beitragen, die globale Ordnung vor fundamentalen Umwälzungen zu bewahren, die gegen unsere Interessen und gegen unsere Grundwerte stehen.» (Hervorhebungen km)
  Entfernt man von solcher Kriegshetze den propagandistischen Ballast, so wird vor allem eines deutlich: In Deutschland geben derzeit die Kräfte den Ton an, die nichts anderes sind als Vollzugsorgane US-amerikanischer Interessen und Politik. In den USA verliert der Krieg gegen die Ukraine mehr und mehr an Unterstützung. Deshalb soll Deutschland künftig die Hauptlast des Krieges tragen. So würden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die USA können sich aus dem kostspieligen Krieg herausnehmen – und zugleich könnte der lästige Konkurrent und lange Zeit unsichere Kantonist Deutschland (wegen seiner vormals recht guten Beziehungen zu Russland) noch länger und stärker in den Krieg verwickelt und jede Aussöhnung mit Russland auf Jahrzehnte blockiert werden.
  Ja, es ist in der Tat so: «Ein russischer Sieg über die Ukraine würde das Ende der Welt, wie wir sie kennen, einläuten.» Aber was wäre so schlecht an einer Welt, in der das Völkerrecht Geltung bekäme, in der die Staaten der Welt souverän und gleichberechtigt zusammenarbeiten, in der es keinen Hegemon und keine «einzige» Weltmacht mehr gibt, in der sich der Globale Süden erholen könnte …
  Gibt es in Deutschland denn niemanden mehr, der Leute wie Pistorius, Lange und Masala, Baerbock, Kiesewetter und Strack-Zimmermann, und wie sie allen heissen, stoppen kann?  •



1 https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/krieg-ukraine-russland-wladimir-putin-sieg-europa/komplettansicht (vollständig nur für Z+-Abonnenten)


Wladimir Putin am G-20-Gipfel: «Russland hat sich nie geweigert, mit der Ukraine über Frieden zu verhandeln»

«Einige unserer Kollegen hier haben erwähnt, dass sie über ‹Russlands anhaltende Aggression in der Ukraine› schockiert sind. In der Tat sind Militäroperationen immer eine Tragödie für die betroffenen Menschen, die betroffenen Familien und das Land als Ganzes. Und wir müssen unbedingt darüber nachdenken, wie diese Tragödie beendet werden kann.
  Russland hat sich nie geweigert, mit der Ukraine über Frieden zu verhandeln. Nicht Russland, sondern die Ukraine hat öffentlich verkündet, dass sie sich aus dem Verhandlungsprozess zurückzieht. Darüber hinaus hat der ukrainische Staatschef einen Erlass unterzeichnet, der solche Verhandlungen mit Russland verbietet.
  Ich verstehe, dass dieser Krieg und der Verlust von Menschenleben schockierend sind und nicht anders sein können. Aber was ist mit dem blutigen Staatsstreich in der Ukraine im Jahr 2014, auf den der Krieg des Kiewer Regimes gegen seine eigene Bevölkerung im Donbass folgte? Hat Sie das nicht schockiert? Sind Sie nicht schockiert über die Ausrottung von Zivilisten in Palästina und im Gaza-Streifen heute? Ist es nicht schockierend, dass Ärzte Kinder operieren – Unterleibsoperationen durchführen – und ein Skalpell am Körper eines Kindes ohne Betäubung verwenden müssen? Hat es Sie nicht schockiert, als der UN-Generalsekretär sagte, der Gaza-Streifen habe sich in einen riesigen Kinderfriedhof verwandelt?»

Der russische Präsident Wladimir Putin per Video in seinem Wortbeitrag
zum Treffen der G20 am 22. November 2022 in Indien;
Quelle: http://en.kremlin.ru/events/president/news/72790 vom 22.11.2023

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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