Die Banalität der Propaganda

von Patrick Lawrence*

Die Annalen der schrecklichen Kunst – Hitlers, Mussolinis, Japans und Amerikas während des Zweiten Weltkriegs – zeigen, dass sie nicht unbedingt anspruchsvoll sein muss. Die Aufführung von «Mein Kampf» durch den israelischen Präsidenten hat das gerade wieder bewiesen.

Ich habe am 12. November einen Videoclip von Isaac Herzog gesehen, der alle Vögel abschiesst in bezug auf seine Dummheit und der es auch schafft, bösartig zu sein. Darin hält der israelische Präsident ein Exemplar von «Mein Kampf» in der Hand, übersetzt ins Arabische.
  Das Video wurde einen Tag nach einer grossen Demonstration in London für einen Waffenstillstand in Gaza und die Befreiung der Palästinenser von der langen, gewaltsamen Unterdrückung durch Israel aufgenommen. Hier ist ein Teil dessen, was Herzog zu sagen hatte:
  «Ich möchte Ihnen etwas Exklusives zeigen. Das ist das Buch von Adolf Hitler ‹Mein Kampf›. Es ist das Buch, das zum Holocaust führte, und das Buch, das zum Zweiten Weltkrieg führte. Es ist das Buch, das […] zur schlimmsten Greueltat der Menschheit führte, gegen die die Briten kämpften.
  Dieses Buch wurde erst vor wenigen Tagen im nördlichen Gaza-Streifen in einem Kinderzimmer, das zu einer militärischen Operationsbasis der Hamas umfunktioniert wurde, bei der Leiche eines der Terroristen und Mörder der Hamas gefunden, und er machte sich sogar Notizen, er markierte und lernte immer wieder von Hitlers Ideologie, die Juden zu töten, die Juden zu verbrennen, die Juden zu schlachten.
  Das ist der wahre Krieg, in dem wir uns befinden. All diejenigen, die gestern demonstriert haben – ich sage nicht, dass sie alle Hitler unterstützen. Aber ich sage nur, dass sie diese Ideologie im Grunde unterstützen, wenn sie nicht verstehen, worum es bei der Hamas geht.»

  Sie können die eine Minute und 22 Sekunden dauernde Version dieses Videoclips [https://twitter.com/dialectichiphop/status/1723709746916589868] oder eine längere BBC-Version [https://www.bbc.com/news/av/world-67396773] ansehen. In beiden sehen wir, wie das israelische Staatsoberhaupt die Holocaust-Karte, die Hitler-Karte, die jüdische Opfer-Karte und die Hamas-als-mordende-verbrennende-schlachtende-Monster-Karte auf einmal ausspielt.
  Ich kann den Fernsehsender, der die kürzere Version von Herzog gezeigt hat, nicht identifizieren, und ich bin erstaunt, dass die BBC sie ernst genug genommen hat, um sie auszustrahlen, aber so ist die BBC heutzutage – immer da für die transatlantische Sache.
  Wie bemerkenswert fadenscheinig Propaganda in den meisten Fällen ist, dachte ich, nachdem ich Herzog gesehen und meine Notizen gemacht hatte. Das gilt für viele, viele Fälle in den Annalen der schrecklichen Kunst – Hitlers, Mussolinis, Japans und Amerikas während des Zweiten Weltkriegs. Wenn man sich das jetzt ansieht, ist nichts davon besonders raffiniert, aus dem einfachen Grund, weil es das nicht sein muss.
  Bei der Propaganda geht es um eine starke Wirkung, Scharfsinn ist das Letzte, woran der Propagandist denkt. Das Banale wird immer ausreichen. Die Japaner während des Pazifikkriegs wurden «Japsen» oder «Nips» genannt, und in der Fülle der amerikanischen Propagandabilder hatten sie Hasenzähne und Bleistiftschnurrbärte und trugen runde Brillen über ihren bösen asiatischen Augen.
  Nachdem ich das Herzog-Video gesehen hatte, machte ich mich auf die Suche nach Filmmaterial aus London [https://www.youtube.com/watch?v=izcARmpvVOU] vom Vortag. Seit dem Ausbruch der Feindseligkeiten am 7. Oktober hat es viele Demonstrationen gegen Israels brutale Militärkampagne im Gaza-Streifen gegeben, und es mögen noch viele weitere folgen, aber London am 11. November scheint die bisher grösste zu sein.
  «Free Gaza», «Ceasefire Now», «Not in Our Names» – dies waren einige der Rufe und Kritzeleien auf Plakaten, als sich der Protest langsam durch das Zentrum Londons vom Hyde Park bis zur mehrere Kilometer entfernten US-Botschaft wand. Die Polizei schätzte die Zahl der Demonstranten auf 300 000. Nach dem Filmmaterial zu urteilen, das mir zur Verfügung steht, würde ich eher von einer halben Million ausgehen.
  Wenn man sich genug Propaganda ansieht, ob zeitgenössisch oder historisch, stellt man fest, dass es keine Rolle spielt, ob die Drehbücher und Bilder die Rohheit und Unwürdigkeit derjenigen verraten, die die Propaganda produzieren. Es geht lediglich darum, die Gedanken und Gefühle einer gedankenlosen Mehrheit zu erfassen, wie auch immer das geschehen mag.

Die israelische Propagandaabteilung ist verzweifelt

Aber dieses Vorhaben ist heute, im Zeitalter der digitalen Medien und einer zunehmend einflussreichen unabhängigen Presse, schwieriger geworden. So scheint es mir. Die Menschen können jetzt mehr sehen und sehen es klarer und unmittelbarer, sofern sie sich dafür entscheiden, hinzusehen. Und das tun immer mehr Menschen.
  Wenn uns der idiotische Herzog-Clip irgendetwas verraten hat, dann dies, dass die israelische Propagandaabteilung in einem verzweifelten Zustand ist, da sie den PR-Krieg bereits verloren hat, während die israelischen Verteidigungsstreitkräfte das Loch immer tiefer graben.
  Nachdem ich das Herzog-Video und dann die Aufnahmen aus London gesehen hatte, dachte ich an eine denkwürdige Passage in Hannah Arendts «The Origins of Totalitarianism»:
  «In einer sich ständig verändernden, unverständlichen Welt hatten die Massen den Punkt erreicht, an dem sie gleichzeitig alles und nichts glaubten, alles für möglich und nichts für wahr hielten. Die Massenpropaganda entdeckte, dass ihr Publikum jederzeit bereit war, das Schlimmste zu glauben, egal wie absurd es auch sein mochte, und dass es sich nicht sonderlich dagegen wehrte, getäuscht zu werden, weil es ohnehin jede Aussage für eine Lüge hielt.»
  Als Arendt 1951 ihre berühmte Abhandlung schrieb, blickte sie auf das Dritte Reich und die stalinistische Sowjetunion zurück. Aber der Gedanke scheint ihr danach nie mehr fern gewesen zu sein.
  In einem Gespräch mit einem französischen Aktivisten für freie Meinungsäusserung, kurz vor ihrem Tod im Jahr 1975, fand Arendt noch deutlichere Worte für das, was unter Umständen wie den unseren passieren kann. «Wenn dich immer alle anlügen», sagte sie zu Roger Errera, «ist die Folge nicht, dass du die Lügen glaubst, sondern dass niemand mehr etwas glaubt.»
  Ein halbes Jahrhundert, bevor Herzog sein Video produzierte und Demonstranten die Strassen Londons füllten, hat Arendt das Wochenende 11. November perfekt beschrieben.
  Es ist eine gute Sache, dass immer weniger Menschen auf die Psychopathen und Propagandablitze des nationalen Sicherheitsstaates, der Konzernmedien und der skrupellosen […] Regime wie das israelische hereinfallen.
  Aber in einer Welt zu leben, in der man nichts von dem glaubt, was gesagt wird, ist eine eigene Art von Elend. Es ist eine Kapitulation des öffentlichen Diskurses und des öffentlichen Raums vor dem Bösartigen, dem Unanständigen, dem Unmenschlichen, dem Erniedrigenden und Entwürdigenden. Die Wahrheit und damit auch logisches Denken und Anstand werden «alternativ».
  Gibt es einen Weg, dass wir über unsere entwürdigenden Umstände hinauswachsen können? Oder müssen wir auf unbestimmte Zeit in einem Zustand der Negativität, des Nicht-Glaubens und der Entfremdung von unserem eigenen Gemeinwesen verharren?

Die Rückeroberung der Sprache

Meine Antwort lautet ja auf die erste Frage, nein auf die zweite: Es gibt immer einen Weg, eine andere Zukunft zu gestalten – das ist eine Frage des allgemeinen Prinzips. In diesem Fall muss das Projekt mit der Rückeroberung der Sprache beginnen. Die Ablehnung der offiziellen Sprache der Machthaber, wie es so viele Menschen heute tun, ist ein Anfang. Wir müssen dann wieder lernen, die Sprache zu sprechen, die nicht gesprochen wird, die Sprache, in der die Wahrheit steckt.
  Nicht zuletzt auf Grund meines beruflichen Werdegangs bin ich besonders sensibel für die Macht der Sprache, wenn sie entweder für Klarheit und Verständnis oder für Verschleierung und Irreführung eingesetzt wird.
  Die Sprache der Institutionen, die Sprache der Macht, besteht aus verschleiernden Euphemismen – «globale Führung», «Kollateralschäden», «Regimewechsel», «die Geheimdienstgemeinschaft», «die regelbasierte Ordnung» und so weiter durch das bürokratische Lexikon – und aus dreisten Fälschungen, wie sie uns Isaac Herzog am vergangenen Sonntag angeboten hat. Orwell beschrieb in «Politics and the English Language», wie die Sprache von Ideologen und bürokratischen Mandarinen unsere Fähigkeit, klar zu denken, zerstört – was genau ihre Absicht ist. Seit er seinen Aufsatz im April 1946 in Horizon veröffentlichte, hat sich das Problem, wie wir es haben, um sieben Jahrzehnte verschlimmert.
  Dieser Sprachgebrauch hat die Sprache selbst entwaffnet und sie ihrer Durchsetzungskraft beraubt, so dass ein Sprechen oder Schreiben ausserhalb der Lehrmeinung als Ort eines ernsthaften Diskurses abqualifiziert werden kann. Die Sprache wird als Medium des kreativen Denkens oder als Anregung zu neuem, phantasievollem Handeln untauglich gemacht.
  Der absurde, beleidigende Gebrauch des Begriffs «Antisemitismus», der uns jetzt heimsucht, ist ein typisches Beispiel dafür. Die offensichtliche Absicht ist es, ein weitgehendes Schweigen aufzuerlegen, um die Verbrechen der israelischen Apartheid zu verschleiern.
  Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist die der Wiederherstellung. Es geht darum, die Sprache zurückzuerobern, ihr Leben zu erneuern, sie dem betäubenden Einfluss von Institutionen, Bürokratien und Konzernmedien zu entreissen, die die Sprache zu einem Instrument zur Durchsetzung von Konformität verformt haben. Deshalb ist jeder Aufschrei und jedes Plakat, das man in diesen Tagen in London oder vielen anderen Städten hört oder sieht, wichtig, ein Akt von Bedeutung und Wert.
  Klare Sprache ist ein Instrument – schnörkellos, einfach geschrieben und gesprochen, umgangssprachlich im besten Sinne dieses Wortes, aber durchaus fähig zu Subtilität und Komplexität. Sie ist die Sprache der Geschichte, nicht des Mythos. Diese Sprache wird nicht für die Sache des Imperiums, sondern immer für die Sache des Menschen gesprochen. «Freies Palästina», «Vom Fluss zum Meer»: Dies sind Beispiele für die von mir beschriebene Sprache mit zwei und vier Wörtern.
  Dies ist die Sprache, die notwendig ist, um der Macht entgegenzutreten, anstatt sich ihr anzupassen. Es ist eine Sprache, die den Nutzen von Intelligenz und kritischem Denken voraussetzt. Sie ist dazu gedacht, viele wertvolle Fragen zu stellen. Sie ist vorbehaltlos der Erweiterung dessen gewidmet, was als feindselige Antwort auf «das grosse Unsagbare», wie ich es nenne, sagbar ist.
  Durch diese Sprache erwartet uns ein lebendigerer, erfüllender öffentlicher Diskurs. Mit Hilfe dieser Sprache können die Isaac Herzogs, Antony Blinkens und Ursula von der Leyens, die unseren öffentlichen Raum beschmutzen, auf das reduziert werden, was sie sind – Lügner und Propagandisten. Die Macht der Sprache, die ich beschreibe, wird der Sprache, die sie sprechen, jede Macht nehmen.
  Lasst es uns aussprechen, lasst es uns schreiben, lasst es uns auf Wände und Pappbögen kritzeln. Lasst es uns als das mächtigste Werkzeug kennenlernen, das denjenigen zur Verfügung steht, die das Schweigen ablehnen, das Isaac Herzog den Londonern am vergangenen Wochenende aufzwingen wollte.  •

Teile dieses Artikels sind meinem neuen Buch «Journalists and Their Shadows» entnommen, erhältlich bei Clarity Press oder über Amazon

Quelle: Consortium News vom 14.11.2023

(Übersetzung Zeit-Fragen)



Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein vorletztes Buch ist «Time No Longer: Americans After the American Century», Yale 2013. Im Juli ist sein neues Buch «Journalists and Their Shadows» bei Clarity Press erschienen. Seine Webseite lautet patricklawrence.us. Unterstützen Sie seine Arbeit über patreon.com/thefloutist.


«Wir fordern Integrität in der Berichterstattung westlicher Medien über Israels Greueltaten gegen die Palästinenser»

Eine Erklärung von mehr als 1500 Journalisten* (Auszüge)

[…] Wir schreiben, um auf ein Ende der Gewalt gegen Journalisten in Gaza zu drängen und um westliche Redaktionsleiter aufzufordern, bei der Berichterstattung über Israels wiederholte Greueltaten gegen Palästinenser einen klaren Blick zu bewahren. […]
  Israel hat der ausländischen Presse den Zugang verwehrt, die Telekommunikation stark eingeschränkt und Pressebüros bombardiert. […] Zusammen mit der jahrzehntelangen Praxis, Journalisten tödlich anzugreifen, zeigen Israels Massnahmen eine weitreichende Unterdrückung der Meinungsfreiheit. […]
  Wir stehen an der Seite unserer Kollegen in Gaza und würdigen ihren mutigen Einsatz bei der Berichterstattung inmitten von Blutbad und Zerstörung. Ohne sie würden viele der Schrecken vor Ort unsichtbar bleiben. […]
  Wir machen die westlichen Nachrichtenredaktionen auch für die entmenschlichende Rhetorik verantwortlich, die dazu dient, die ethnische Säuberung der Palästinenser zu rechtfertigen. […] Mehr als 500 Journalisten unterzeichneten im Jahr 2021 einen offenen Brief, in dem sie ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck brachten, dass die US-Medien die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel ignorieren. Die Forderung nach einer fairen Berichterstattung ist jedoch unbeantwortet geblieben.
  Die Nachrichtenredaktionen haben statt dessen palästinensische, arabische und muslimische Sichtweisen untergraben und als unzuverlässig abgetan und sich einer aufrührerischen Sprache bedient, die islamfeindliche und rassistische Vorurteile verstärkt. Sie haben Fehlinformationen gedruckt, die von israelischen Beamten verbreitet wurden, und es versäumt, die wahllose Tötung von Zivilisten im Gaza-Streifen zu hinterfragen, die mit Unterstützung der US-Regierung begangen wurde.
  Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober, bei dem mehr als 1200 Israeli, darunter vier Journalisten, getötet und etwa 240 weitere gefangengenommen wurden, haben sich diese Probleme verschärft. In der Berichterstattung wurde der Angriff als Ausgangspunkt des Konflikts dargestellt, ohne den notwendigen historischen Kontext darzustellen – dass der Gaza-Streifen de facto ein Gefängnis für Flüchtlinge aus dem historischen Palästina ist, dass die israelische Besatzung nach internationalem Recht illegal ist und dass die Palästinenser regelmässig von der israelischen Regierung bombardiert und massakriert werden.
  UN-Experten haben gewarnt, dass sie «überzeugt sind, dass das palästinensische Volk von einem Völkermord bedroht ist», doch westliche Medien zögern weiterhin, Völkermordexperten zu zitieren und die existentielle Bedrohung, die sich in Gaza abspielt, genau zu beschreiben.
  Das ist unsere Aufgabe: die Macht zur Rechenschaft zu ziehen. Andernfalls riskieren wir, zu Komplizen eines Völkermords zu werden.
  Wir erneuern die Aufforderung an die Journalisten, ohne Furcht und Gefälligkeit die volle Wahrheit zu berichten. Präzise Begriffe zu verwenden, die von internationalen Menschenrechtsorganisationen klar definiert sind, einschliesslich «Apartheid», «ethnische Säuberung» und «Völkermord». Zu erkennen, dass die Verdrehung unserer Worte, um Beweise für Kriegsverbrechen oder Israels Unterdrükkung der Palästinenser zu verbergen, ein journalistisches Fehlverhalten und ein Verzicht auf moralische Klarheit ist. […]



* Bei den Verfassern des Briefes handelt es sich um eine Gruppe von in den USA ansässigen Reportern lokaler und nationaler Nachrichtenredaktionen.
Mittlerweile haben mehr als 1500 aktuell tätige und ehemalige Journalisten den Brief unterzeichnet. Rund 30 Journalisten haben auf Druck ihrer Arbeitgeber hin ihre Unterschrift zurückgezogen.

Quelle: https://www.protect-journalists.com/

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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