Digitalisierung darf nur Hilfsmittel sein – zum Wohle der Menschen

Eine aktuelle Zusammenschau

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

«Die Schweiz hinkt, was die Digitalisierung anbetrifft, im Vergleich zu anderen Ländern hinterher», war kürzlich in der Tagespresse zu lesen. Als Gründe dafür nennt der Autor unter anderem «Föderalismus, Konservatismus, wenig technologieaffine Verantwortliche in Regierungen und Parlamenten».1 Nicht erwähnt wird dagegen das direktdemokratische Entscheidungsrecht der Bürger, Bürger, die mehrheitlich einen natürlichen Abwehrreflex dagegen haben, digital durchdrungen und gemanagt zu werden. Dass es bei der immer lückenloseren Digitalisierung unseres Lebens in erster Linie ums Geschäft geht, ist selbstredend kein Thema im Gastkommentar von Thomas Reitzke. Denn er ist «Managing Director» beim globalen IT-Konzern «T-Systems», einem der «führenden Dienstleister für Informationstechnologie und Digitalisierungslösungen in Europa» mit einem Jahresumsatz von rund vier Milliarden Euro (2022).2

Keine digitalen Experimente
 mit der direkten Demokratie!

Nun ist es ja nicht so, dass wir Schweizer keine Handys und Computer hätten. Die Verwaltungen und Dienste des Bundes, der Kantone und Gemeinden und erst recht der Unternehmungen sind bis zur Grenze der Bürgerferne und der Kunden-Unfreundlichkeit digitalisiert. Was IT-Manager wie Thomas Reitzke stört, ist, dass in der Schweiz der Durchmarsch seines und anderer Konzerne nicht per Regierungsbeschluss durchgewinkt wird, sondern oft auf die Barrieren des Schweizer Staatssystems, zum Beispiel die Zuständigkeit der Kantone oder den Einspruch des Souveräns, stösst (leider nicht immer: Beispiel «Bologna», das ohne Widerstand der «Veto-Player» über unsere Hochschulen hereingebrochen ist).
  Aus zwei Online-Leserkommentaren zu Reitzkes Artikel: «Ich bin extrem technologieaffin und bin gerade bei den demokratischen Prozessen und bei der Identifizierung sehr froh darum, dass die Schweiz keine Experimente macht. […] Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Und gerade die Risiken für die Demokratie sind enorm.» – «Gott sei Dank hinkt die Schweiz der Digitalisierung hinterher! Der Philosoph Konrad Paul Liessmann sagte kürzlich mal: ‹Die Erfahrung zeigt, dass die ethischen Systeme sich nach den technischen Systemen richten und nicht umgekehrt.› Sprich, die Moral passt sich sehr oft den technischen Möglichkeiten an.»
  Die Gefahren der Digitalisierung für die Gewährleistung demokratischer Entscheide konnten wir vor kurzem bei der Nationalratswahl miterleben. Drei Tage nach der Auszählung der Wahlzettel musste das Bundesamt für Statistik (BfS) bekanntgeben, dass es am Wahlsonntag (22. Oktober) falsche Zahlen veröffentlicht hatte. Grund dafür war eine «fehlerhafte Programmierung im Datenimportprogramm für die beiden Appenzell und Glarus».3
  Damit sind die in der Schweiz mehrmals gescheiterten Experimente mit elektronischen Abstimmungen vorläufig vom Tisch. Denn solange auf Papier abgestimmt wird, ist die Gefahr fehlerhafter Ergebnisse minim. In den Gemeinden werden sämtliche Stimm- und Wahlzettel über Jahre aufbewahrt, so dass jeder Verdacht auf einen Fehler bei der digitalen Speicherung oder Weitergabe von Resultaten nachgeprüft werden kann. Also, tragen wir es mit Fassung, wenn die Schweiz punkto Digitalisierung «hinterherhinkt».

Service public hat den Menschen
 zu dienen, nicht den IT-Konzernen

In seinem Zeitungskommentar fordert Reitzke das neu gewählte Schweizer Parlament dazu auf, anstehende politische Probleme, zum Beispiel die für viele Haushalte kaum tragbaren Krankenkassenprämien, nicht mit politischen Lösungen anzugehen, denn «mit Sicherheit […] gäbe es einfachere Wege, Kosten zu senken – bei gleichzeitiger Verbesserung des Systems und Erhöhung des Nutzens für Patientinnen und Patienten. Der Schlüssel ist die Digitalisierung.» E-Health umfasse viel mehr als das elektronische Patientendossier, so Reitzke, das Sparpotential käme laut der ETH und McKinsey auf 8,2 Milliarden jährlich.
  Das Gesundheitswesen gehört nicht zu meinen Fachgebieten, gerne überlasse ich eine genauere Durchleuchtung des Themas den Fachleuten. Aber dass Programme von IT-Konzernen und einseitige Gutachten im Sinne des Auftraggebers eingesetzt werden, um unser gutes Gesundheitswesen herunterzuwirtschaften, damit der Staat Milliarden sparen und die Tech-Firmen Milliarden verdienen können, das ist die Höhe! Kosten senken bei gleichzeitiger Erhöhung des Nutzens für die Patienten? Verzell du das em Fährimaa!
  Es darf doch nicht sein, dass in der wohlhabenden Schweiz Landspitäler trotz nachgewiesenen Bedarfs geschlossen werden oder dass an den St. Galler Spitälern Hunderte von bestqualifizierten und altgedienten Ärzten und Pflegefachleuten aus rein ökonomischen Gründen in den nächsten Jahren entlassen werden sollen. Dabei weiss jeder, dass im Schweizer Gesundheitswesen grosser Mangel an Ärzten und Pflegepersonal herrscht, so dass diese oft an ihre Belastungsgrenzen kommen. Und da machen wir Spitäler zu und entlassen Fachkräfte? Unsere Service-public-Institutionen brauchen nicht kostenneutral zu sein. Damit alle Menschen im Land gut versorgt werden können, bezahlen wir unsere Steuern. Wenn wir sparen wollen, verkleinern wir gescheiter die Verwaltungsblasen im Bund und in den Kantonen.

Mit KI werden Arbeitskräfte auf Leistung
 getrimmt oder durch Roboter ersetzt

Der aktuelle Riesenhype der digitalen Welt ist die «künstliche Intelligenz (KI)». Damit sollen unter anderem «Probleme im Arbeitsmarkt» gelöst werden. Microsoft hat bereits 13 Milliarden Dollar in KI investiert und lud Mitte November zu einer Tech-Konferenz in Seattle ein. Dort wurde unter anderem der «Copilot» vorgestellt, ein «digitaler Helfer für die tägliche Arbeit», der «den Mitarbeitenden in Service und Produktion [helfe], komplexe Aufgaben zu erledigen und Probleme schneller zu lösen, ohne ihren Arbeitsablauf zu unterbrechen».4
  Der Journalist Philipp Gollmer berichtet aus Seattle, wie diese «Hilfe» aussehen kann: «Zunächst holt Microsoft vor allem Büroarbeiter ab. In Kombination mit Mixed-Reality-Brillen* […] soll Copilot bald auch Arbeiter in Fabrikhallen unterstützen. Mit Sprachbefehlen sollen sie direkt an Informationen gelangen, etwa zur Wartung oder zum Aufbau einer Maschine, ohne mühsam in einer Dokumentation nachschauen zu müssen.»5
  Als digitaler Nicht-Profi, mit beiden Beinen in der realen Welt stehend und mit Vernunft begabt, versuche ich das Wesentliche dieser Beschreibungen herauszuschälen. Erstens soll die Leistung der Arbeitnehmer erhöht werden, indem sie nicht mehr selbst denken oder «mühsam in einer Dokumentation nachschauen» müssen, sondern von einem digitalen «Assistenten» alles für den Arbeitsgang Nötige fortlaufend diktiert bekommen. Das erinnert unangenehm an die Fliessbandarbeit früherer Zeiten: Heute wird der Arbeiter statt durch die Band-Geschwindigkeit durch die digitalen Anweisungen auf Leistung getrimmt.
  Zweitens werden die Arbeitgeber dazu verlockt, ihr Geld in KI zu investieren, weil sie dann weniger Arbeitskräfte brauchen. Das heisst, mit KI werden «Probleme im Arbeitsmarkt» durch Entlassungen «gelöst». Erinnern Sie sich an die «Pflegeroboter», die in Spitälern und Altersheimen Mahlzeiten servieren oder Medikamente verteilen sollen? Offensichtlich haben deren techno-affine Erfinder noch nie etwas davon gehört, dass das Wichtigste, was alte und kranke Menschen neben der fachlichen Hilfe brauchen, um sich aufgehoben zu fühlen und genesen zu können, die Pflege durch einen Mitmenschen ist, die emotionale Anteilnahme, die freundliche Stimme, die menschliche Beziehung. Das gilt übrigens auch für die Arbeitskräfte im Büro und im Gewerbe: Statt mit digitalen Anweisungen gefüttert zu werden, wollen viele lieber selbst nachschauen oder einen Kollegen oder den Chef fragen, wenn sie irgendwo anstehen.
  In manchen Branchen wird den Unternehmern sogar vorgegaukelt, dass sie die Arbeitskräfte gleich ganz einsparen können. So werden in US-amerikanischen Städten, zum Beispiel in San Francisco, fahrerlose Taxis eingesetzt – bis zum ersten Unfall, dann wird’s teuer für die Firma.6 Für die entlassenen Taxifahrer ein doppeltes Unglück. Zum einen haben sie keine Arbeitsstelle mehr, zum anderen fühlen sie sich nutzlos, weil sie angeblich geradesogut durch einen Roboter ersetzt werden können. Wirklich? Viele Fahrgäste unterhalten sich gerne mit dem Chauffeur, sie freuen sich, wenn er ihnen den schweren Koffer zur Tür trägt und fahren gerne das nächste Mal mit demselben Taxifahrer.

Wozu eine umfassende Bildung für jedes Kind?
KI fördert die 20:80-Gesellschaft

Philipp Gollmer berichtet aus Seattle: «Wie genau Copilot die Leute produktiver macht, erläuterte der Microsoft-Kommunikationschef Frank Shaw im Gespräch mit Journalisten mit einem Beispiel. ‹Die Hälfte der Word-Nutzer schliessen das Programm wieder, ohne einen Buchstaben geschrieben zu haben›, sagte er. Sie wüssten nicht, wie genau sie beginnen möchten. ‹Hier kann KI eine Einstiegshilfe sein›, sagte Shaw, indem sie oben auf dem leeren Blatt Papier frage, was man schreiben möchte, und bereits einige Vorschläge für Formulierungen mache. Copilot kann weiter […] bei der Beantwortung von E-Mails helfen.»7
  Wer sich Sorgen macht um die schlechte Schulbildung unserer Jugend, als Folge des Lehrplans 21, einer ungenügenden Lehrerbildung und heterogener und zu grosser Klassen ohne lehrergeführten Unterricht, dem wird es mulmig angesichts solcher «Hilfe» für Erwerbstätige. Wozu sollen die Kinder einen Text schreiben lernen, wenn sie später nur ein Stichwort eingeben müssen, und schon wird der Text geliefert? Warum sollen KV-Lehrlinge (kaufmännische Lehre) die doppelte Buchhaltung verstehen, wenn sie im Betrieb lediglich Rechnungen und Mahnungen verschicken müssen, die zudem weitgehend vorformuliert sind? Wieso sollen die Primarschüler sich das Einmaleins einprägen oder die schriftliche Division lernen, wenn ohnehin jeder einen Taschenrechner hat, und warum müssen sie die Rechtschreibung beachten, wenn Word doch die Fehler anstreicht und einen Korrekturvorschlag anbietet?
  Auf einige dieser Fragen antwortete Beat Döbeli, Lehrerausbildner an der Pädagogischen Hochschule (PH) Schwyz, in Radio SRF kurz und bündig: Nein, die Schüler müssten das alles nicht können, sondern sollten ihre Lernzeit lieber für zeitgemässere Lerninhalte verwenden. Auf die Frage: «Verblödet die Schülerschaft, wenn künstliche Intelligenz vieles schneller und mit der Zeit besser bewältigen kann als der Mensch?» antwortete Döbeli, er sei überzeugt, dass dies nicht der Fall sei: «Schon die alten Griechen fürchteten, wegen der Wachstafel die Merkfähigkeit einzubüssen», so der Lehrerausbildner.8 Dieser absurde Vergleich demonstriert, dass wir auf das Fach Geschichte keinesfalls verzichten dürfen.
  Hier schliesst sich der Kreis: Bildungsreformer und -politiker aus verschiedensten Ecken tragen die Verantwortung für die grosse Zahl schlecht gebildeter Jugendlicher, und die globalen Tech-Konzerne produzieren die dazugehörige Software und die passenden Roboter. Ein kleiner Anteil der Jugend (rund 20 Prozent) lernt in ihrer Schulzeit trotz aller untauglichen Reformen dennoch das Nötige, um nachher eine Lehre mit Berufsmittelschule oder das Gymnasium absolvieren zu können – falls sie eine günstige Lernhaltung und eine gehörige Portion geistiger Anregung von zu Hause mitbringen und falls sie Eltern (und bestenfalls auch einmal einen Lehrer) haben, die sie sinnvoll begleiten. Förderlich für eine gelingende Integration in das Berufs- und Gesellschaftsleben ist es auch, wenn die Eltern genügend Deutschkenntnisse haben und notfalls Unterstützung beim Lernen geben oder eine Privatschule bezahlen können. «Chancengleichheit» kann man diesen unbefriedigenden Zustand jedenfalls nicht nennen – darüber kann kein digitalisiertes Hilfsmittel hinwegtäuschen.

KI verschlingt eine grosse Menge Energie

Und ’s Tüpfli ufs i: «All diese KI-Anwendungen, erst recht wenn Menschen rund um den Globus sie nutzen sollen, verschlingen eine grosse Menge Energie und Rechenleistung», so Philipp Gollmer in der «Neuen Zürcher Zeitung». Auf seine Nachfrage verneint Microsoft-CEO Satya Nadella, dass KI zu Energieengpässen führt: Denn «die Verbesserung der Rechenkapazität pro Energieeinheit dank KI sei erstaunlich. Das beschleunige auch den wissenschaftlichen Fortschritt und werde auch das Energieproblem lösen.» Alles klar? Die ironische Schlussbemerkung von Gollmer trifft die Sache auf den Punkt: «Glaubt man also Microsoft, ist Copilot der Schlüssel zu all unseren Problemen.»  •



1 Reitzke, Thomas. «Die Schweiz digital erneuern». In: Neue Zürcher Zeitung vom 17.11.2023
2 https://www.t-systems.com/de/de/ueber-t-systems/unternehmen 
3 «Wähleranteile waren falsch – Bund verrechnet sich: FDP liegt jetzt doch vor der Mitte». SRF News vom 26.10.2023
4 https://www.connect-living.de/news/microsoft-ignite-2023
5 Gollmer, Philipp. «Microsoft setzt voll auf künstliche Intelligenz». In: Neue Zürcher Zeitung vom 20.11.2023
6  «Der Chef der Robotaxi-Firma Cruise ist während der Ermittlungen zu einem Unfall mit einer Fussgängerin in San Francisco zurückgetreten.» Keystone-SDA vom 20.11.2023
7 Gollmer, Philipp. «Microsoft setzt voll auf künstliche Intelligenz». In: Neue Zürcher Zeitung vom 20.11.2023
8 Pribakovic, Ivana. «Beat Döbeli: ‹Mit ChatGPT sind alle überfordert›». Radio SRF. Tagesgespräch vom 21.11.2023

* Laut Wikipedia wird durch Mixed-Reality-Brillen «die natürliche Wahrnehmung eines Nutzers mit einer künstlichen (computererzeugten) Wahrnehmung vermischt».

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