«In unserer Familie haben alle Mitglieder, vom ältesten bis zum jüngsten, dieselbe kleine Schwäche: das Lesen.» Oh, je! Ist diese Familie wohl von einer Lese- und Rechtschreibeschwäche oder gar -störung betroffen? Legasthenie, wie es fachsprachlich heisst, deren Ursachen kontrovers diskutiert werden? Mussten sie, wie es heute üblich ist, nach Ausschluss organischer Ursachen wie Schwerhörigkeit oder Fehlsichtigkeit, entsprechende Testverfahren inklusive Intelligenztest über sich ergehen lassen? Oder wurden allenfalls die Rahmenbedingungen dieser Familie über mehrere Generationen als ungünstig eingestuft, oder beurteilte man den seelischen und psychischen Druck, die Arbeits- und Wohnsituation seit langem als so prekär, dass die Lesefertigkeit darunter gelitten hatte? Hatte man bei ihnen den Moment verpasst, sie frühzeitig in Förderprogramme einzubinden oder Therapien zu verordnen, wie es heute empfohlen wird? Haben sie deshalb Anrecht auf einen «Nachteilsausgleich» und bei Prüfungen mehr Zeit zur Verfügung? Dürfen sie mündliche statt schriftliche Lernzielkontrollen machen? Oder gehören sie leider zu den sogenannten Illetristen, die trotz langjährigem Schulbesuch des Lesens so wenig kundig sind, dass sie die diesbezüglichen Alltagsanforderungen kaum bestehen können?
Beim Lesen die Welt vergessen
Nein, es ist der Anfang einer Geschichte von Michael Ende, die so ihren Fortgang findet: «Kaum einer von uns ist je dazu zu bewegen, sein Buch aus irgendeinem Grund beiseite zu legen, um etwas anderes Dringendes oder Unaufschiebbares zu erledigen. Das soll nicht heissen, dass dieses Dringende und Unaufschiebbare nicht getan wird. Wir finden nur, dass es überhaupt nicht nötig ist, deshalb auf das Lesen zu verzichten. Man kann doch sehr gut das eine tun und das andere dabei nicht lassen, nicht wahr? Ich gebe zu, dass dadurch mitunter dieses oder jenes kleine Missgeschick vorkommt – aber was macht das schon?»
Aha, tönt spannend und reizt zum Weiterlesen! Die Akteure der Geschichte sind derart in ihre Lektüre vertieft, dass sie ihr eigenes Tun nicht mehr ganz im Auge haben. Wie der Grossvater, der seine Tabakpfeife statt im Aschenbecher in der Blumenvase ausklopft, aus der er dann trinkt, in der Meinung, seine Hustenmedizin einzunehmen. Oder die strickende Grossmutter, die über den langen Schlauch erschrickt, der sich in der Stube ringelt (eigentlich hätten es Socken werden sollen) und – so denkt sie – von der Feuerwehr vergessen wurde. Ob es nun der malende Vater, die kochende Mutter, die telefonierende Schwester, der Lift fahrende Bruder, der Frosch oder die Katze ist, alle sind ins Lesen vertieft und vergessen die Welt um sich herum.
Es geht also «Genau genommen …», wie der Titel der Geschichte lautet, um eine Familie, die sich das Lesen zum Hobby gemacht hat. Würden wir uns das nicht für alle Kinder und Jugendlichen wünschen? Es ist aber hinlänglich bekannt, dass mittlerweile eine grosse Anzahl von ihnen trotz langjährigem Schulbesuch nicht über jene Lese- und Schreib-kompetenzen verfügt, die es ihnen ermöglichen, den privaten und beruflichen Alltag selbständig gestalten zu können. Aus der Presse kennt man vielleicht tragische Fälle, wie den eines Hilfsarbeiters im Zürcher Oberland, der jahrelang keine Steuererklärung einreichte, vom Steueramt stets zu hoch eingeschätzt wurde und aus Scham nie Einsprache gegen die Steuereinschätzungen einreichte. Doch schon damals – 2014 – zählte man im Bundesamt für Statistik (BfS) 800 000 betroffene Menschen und befürchtete eine Zunahme in den nächsten Jahren.
Im kommenden Dezember soll die neueste Erhebung der Lesefähigkeiten unserer Kinder und Jugendlichen – mittels der Pisa-Studie ermittelt – veröffentlicht werden. Bereits bei der letzten Erhebung war der Anteil der schwächsten Leser auf 25 Prozent gestiegen, was «laut Experten bedeutet, dass in der Schweiz die Hälfte der 15jährigen den Alltag nur knapp bewältigen kann», wie die NZZ am Sonntag schreibt.1 Um so sorgfältiger muss nach den Ursachen gesucht werden.
Zuckerguss statt Ursachenforschung
Es wird nicht nötig sein, nochmals Zahlen zu erheben durch Teilnahme an der sogenannten IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung), die alle fünf Jahre in 60 Ländern die sogenannte Lesekompetenz von Viertklässlern überprüft. Nicht neue Studien aus dem Elfenbeinturm der Hochschulen, sondern ein Ernstnehmen dessen ist gefragt, was bisherige Erhebungen und Praktiker in den Schulen und Lehrbetrieben und Gymnasien schon lange feststellen. Auch Deutschland hat im übrigen Grund zur Sorge, denn die IGLU-Untersuchung zeigte, dass jeder vierte deutsche Viertklässler nicht richtig lesen kann. Ob es allerdings genügt, eine Milliarde Euro zur Förderung der sogenannten Lesekompetenzen zu sprechen, mutet eher an, als ob ein Konditor seinen missratenen Kuchen durch eine Zuckerglasur retten möchte, statt die Zutaten seines Rezeptes und seine Arbeitsweise zu überprüfen.
Grund zur Sorge – seit langem
In der letzten Pisa-Rangliste zur sogenannten Lesekompetenz war die Schweiz sogar hinter Deutschland und auch Schweden platziert. Um die Jahrtausendwende war es noch umgekehrt gewesen. Aber auch da war der Anteil der Jugendlichen mit sehr schwachen Lesefähigkeiten mit 12 Prozent bereits besorgniserregend. Die seither getroffenen Gegenmassnahmen waren offensichtlich eine Fehlüberlegung und basieren auf einer mangelhaften Ursachenanalyse. In unserer Gesellschaft ist man unzählige Male am Tag mit Schrift und Text konfrontiert. Wer nur mit Mühe einen Text entziffern kann und kaum oder gar nicht versteht, was drin steht, ist nicht nur in seinem Lebensalltag und seinen Lebenszielen eingeschränkt, sondern auch in seiner Selbsteinschätzung, ein wertvoller und gleichwertiger Mensch zu sein, zutiefst betroffen.
Einmal mehr:
der Föderalismus auf der Anklagebank
Mit der Volksabstimmung 2006 wurde in der Schweiz ein Bildungsartikel in die Bundesverfassung aufgenommen, der bestimmte einheitliche Regelungen wie gleiche Schulstufen für die ganze Schweiz versprach. Er wurde angenommen, von vielen in der Meinung, dass damit ein Wohnortswechsel von einem Kanton in den andern erleichtert würde. Ähnlich war es mit dem bis heute hoch umstrittenen Lehrplan 21. Viele verantwortungsbewusste Stimmbürger haben erst im nachhinein bemerkt, dass die versprochenen Erleichterungen nicht folgten, die neuen Bestimmungen jedoch erste Schritte hin zu einem zentralistischen Bildungsdiktat waren. Seither wird eine schrittweise Entmachtung der Kantone und ein Bildungszentralismus angestrebt. Es ist deshalb geradezu einschläfernd, wenn der Föderalismus wie im besagten Artikel als Prügelknabe zur Erklärung der Lesemisere herhalten soll, weil dadurch die Einführung gezielter Massnahmen zur Behebung der Lesemisere in der Schweiz verhindert werde. Dabei wäre gerade die Kantonshoheit im Bildungsbereich ein Garant dafür, dass auf die Gegebenheiten und Bedürfnisse der jeweiligen Kantone ausgerichtet und schnell und gezielt Massnahmen ergriffen werden könnten.
Migrantenkinder – schon, aber …
Es stimmt, in den vergangenen Jahren ist die Zahl jener Kinder kontinuierlich gestiegen, die nicht Deutsch als Muttersprache (Erstsprache) haben. Also, warum nicht da den Grund für die Lesemisere suchen? Natürlich steht hier ein pädagogisches Problem an, denn diese Kinder brauchen einen fundierten und intensiven Deutschunterricht. Dazu gab es vor einigen Jahren noch die sogenannten Kleinklassen E, in denen sich neu in der Schweiz wohnhafte Kinder die notwendigen Deutschkenntnisse aneignen konnten, um danach dem Unterricht in den Regelklassen sprachlich folgen zu können. Eine Wohltat für jedes Kind, als erstes eine intensive Unterstützung und menschliche Begleitung im fremden Land zu bekommen. Nun müssen sich die meisten von ihnen von Anfang an in einer Regelklasse zurechtfinden, mit einigen Stunden zusätzlichem Deutschunterricht – statt sich zuerst in der neuen Sprache zurechtzufinden und die Muttersprache korrekt zu lernen –, und schon in der Primarschulzeit die Unterrichtsstunden dazu aufwenden, sich einige Sprachfragmente in Englisch und Französisch anzueignen. Das alles ungeachtet der Nutzlosigkeit dieses Unterfangens (für alle Kinder), wie unabhängige Studien gezeigt haben.2
Noch mehr Zuckerguss
Wenn heute, wie im obgenannten Artikel, die Heterogenität in den Klassen als mögliche Ursache und differenzierender Unterricht als richtige Antwort darauf angeführt wird, so ist es ein weiteres Beispiel für eine mangelhafte Analyse der Situation. Allerdings wäre ein Nachdenken tatsächlich wichtig! Die Heterogenität in den Schulklassen, bedingt durch die sogenannte Integration/Inklusion aller Kinder in der Regelklasse, und der individualisierende Unterricht gehören in Wirklichkeit gerade zu den Ursachen der Lesemisere. Sie verhindern einen sprachlich anregenden Lernprozess, die Modellwirkung sprachgewandter Kinder, Übungsfeld des gemeinsamen Gesprächs und der gemeinsamen verbindenden Lektüre – kurz das Lernen von und miteinander. Auch das eine falsche Zutat im Kuchenteig, die durch Zuckerglasur verdeckt werden soll.
Lernblockade im Elfenbeinturm
Es scheint bei der Analyse des aktuellen Problems bestimmte Lernblockaden zu geben. Eine davon ist die Unantastbarkeit des digitalen Lernens. Nun hatte Schweden vor einiger Zeit den Mut gehabt, Forschungsergebnisse zu den Ursachen ihrer durch die IGLU-Studie dokumentierten Lesemisere ernst zu nehmen (und den finanzmächtigen Bildungskonzernen eine Absage zu erteilen). Es verbannte die bisher als Unterrichtsmittel üblichen digitalen Geräte, allen voran die Tablets, aus den Schulzimmern der Primarschüler und plant eine Rückkehr zu Büchern im Schulzimmer. Ein renommiertes Forschungsteam hatte belegt, dass sich das Lesen auf dem Bildschirm negativ auf das Leseverständnis auswirke und Texte am Bildschirm schneller und oberflächlicher gelesen werden, also ein vertieftes Lernen behindern würden.3 Aber auch hier winken unsere leider oft praxisfernen «Experten» an den Hochschulen ab, mit dem «ewiggestrigen» Argument, es sei die Aufgabe der Schule, die (morgen schon veralteten!) Fähigkeiten für das digitale Lesen zu vermitteln, Geräte sinnvoll nutzen zu lernen und digitale Texte kritisch lesen zu können …
Fazit: Es braucht mehr Sorgfalt
Die Lesemisere in der Schweiz kann nicht behoben werden durch eine oberflächliche Ursachenforschung, die es nicht wagt, heisse Eisen anzufassen: Da sind die Reformen der letzten 30 Jahre, durch die in unserem Schulsystem kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist. Sie haben die wissenschaftlich fundierte Pädagogik – gründend auf einem an den Humanwissenschaften orientierten personalen Menschenbild – den Forderungen des bildungsindustriellen Komplexes geopfert. Das vor dem Hintergrund eines biologistischen Menschenbildes, das Schwierigkeiten von Kindern beim Lesen auf Hirnfunktionsstörungen reduziert. Vernachlässigt oder gar negiert wurde seither, dass Leseschwächen und -störungen oft verursacht sind durch untaugliche, mittlerweile zum Teil verbotene Methoden4, bei denen Kinder auf sich gestellt, ohne kompetente und einfühlsame Anleitung durch eine Lehrperson, sich den komplexen und anspruchsvollen Lese- und Schreiblernprozess aneignen sollten und dabei falsche Lernstrategien und Fehler verinnerlichen.
«Genau genommen …»
Die lesende Familie in der Geschichte von Michael Ende hatte diese Probleme nicht. Nein, sie lasen alle gerne, liebten Bücher und vergassen die Welt um sich herum wie die grosse Schwester, die gespannt den Telefonhörer ans Ohr drückte: «Telefone sind bekanntlich eigens für vierzehnjährige Schwestern erfunden, denn ohne den Hörer am Ohr müssten alle vierzehnjährigen Schwestern der Welt so gewiss an Nachrichtenmangel sterben wie Taucher ohne Atemgerät an Luftmangel. Aber unsere vierzehnjährige Schwester hat obendrein noch ein Buch in der Hand, in dem sie liest.» Multitasking? Nein, sie hatte versehentlich gar keine Nummer gewählt. «Nach ungefähr zwei Stunden fragt sie ganz nebenbei: ‹Sag mal, wer ist eigentlich dieser Tüt-tüt, von dem du die ganze Zeit redest?›»
Sollten wir unseren Kindern und Jugendlichen nicht wieder vermehrt solche Leseerlebnisse ermöglichen? Und zum Beispiel ernst nehmen, was Afra Sturm, Didaktikprofessorin an der Fachhochschule Nordwestschweiz, in der «Neuen Zürcher Zeitung» zu sagen wagt: «Sollte der Anteil der sehr schwachen Leser erneut steigen, müssen wir die Art, wie wir den Schülerinnen und Schülern das Lesen beibringen, grundsätzlich hinterfragen».5 Warum noch zuwarten? •
1 Schöpfer, Linus. «Für den Alltag nicht gewappnet»: Die Schweiz hat eine Leseschwäche. In: NZZ am Sonntag, 19. November 2022. https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/kultur/die-schweiz-verlernt-das-lesen-und-wird-anfaellig-fuer-fake-news-ld.1765095?reduced=true
2 Pfenninger, Simone E.; Singleton, David. 2017. Beyond Age Effects in Instrumental L2 Learning: Revisiting the Age Factor (2008–2017). Multilingual Matters.
3 Perret, Eliane. «Unesco: ‹Kein Bildschirm kann je die Menschlichkeit eines Lehrers ersetzen.›» In: Zeit-Fragen vom 22. August 2023. https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2023/nr-18-22-august-2023/unesco-kein-bildschirm-kann-jemals-die-menschlichkeit-eines-lehrers-ersetzen
4 Schmoll, Heike. «Fehler sollen wieder korrigiert werden.» In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.4.2019. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/einige-bundeslaender-verbieten-lehrmethode-lesen-durch-schreiben-16155156.htm
5 NZZ am Sonntag vom 19.11.2023
Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.