von Prof. Dr. DDr. h.c. Hans Köchler*
Rede von Prof. Dr. DDr. h.c. Hans Köchler, Präsident der International Progress Organization, anlässlich einer vom Komitee für die Ausübung der unveräusserlichen Rechte des palästinensischen Volkes der Generalversammlung der Vereinten Nationen einberufenen Veranstaltung Vereinte Nationen, Wien, 5. Dezember 2023
Herr Vorsitzender,
Exzellenzen, meine Damen und Herren!
Heute ist nicht der Tag für feierliche Erklärungen oder die blosse Beschwörung hehrer Grundsätze – zu einem Zeitpunkt, an dem 16 000 Palästinenser, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, bei massiven Bombardierungen wahllos getötet wurden und Tausende weitere unter den Trümmern ihrer Häuser im Gaza-Streifen vermisst werden, und an dem die Infrastruktur des Gebietes systematisch zerstört wird. Krankenhäuser, Schulen, Moscheen, Kirchen, Einrichtungen der Vereinten Nationen, die als Zufluchtsorte dienen – kein Ort ist vor Angriffen sicher. Nehmen wir uns kein Blatt vor den Mund: Der Abwurf von 2000-Pfund-Bomben über dicht besiedelten Stadtvierteln kommt einem Massaker an der Zivilbevölkerung gleich – unter dem entmenschlichenden Etikett eines «Kollateralschadens». Die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika, Kamala Harris, nannte das Ausmass des zivilen Leides in Gaza «verheerend» und bezeichnete es als «wirklich herzzerreissend».1 Auch mehr als 100 Mitarbeiter der Vereinten Nationen, mehr als 200 medizinische Mitarbeiter und mehr als 60 Journalisten sind bei diesem Angriff ums Leben gekommen. Die unverhältnismässig hohe Zahl der Todesopfer unter den humanitären Helfern und Journalisten ist in der Geschichte der jüngsten Konflikte und insbesondere in der Geschichte der Vereinten Nationen beispiellos.
Im Westjordanland führen die Streitkräfte der Besatzungsarmee tödliche Razzien durch, bei denen sie mutwillig unbewaffnete Zivilisten, viele von ihnen Minderjährige, töten, Häuser demolieren und die Lebensgrundlagen der Bewohner zerstören.
«Während die Welt zusieht…»
Während die Welt zusieht und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – auf Grund des Vetos mindestens eines ständigen Mitgliedes – dazu verurteilt ist, ohnmächtig daneben zu stehen, konnte die Besatzungsmacht in Palästina eine unerbittliche Kampagne, ja, einen Rachefeldzug gegen das palästinensische Volk und sein Streben nach einem Leben in Freiheit und Würde führen.
Das endgültige Scheitern eines «Friedensprozesses», der in all den Jahren seit dem Oktoberkrieg 1973 nie zur Entfaltung kommen konnte, ist das strategische Ziel der politischen Gruppen, die heute unter den Parteibezeichnungen «Religiöser Zionismus» und «Jüdische Macht» der extremsten, nationalistischesten und chauvinistischesten Regierung in Israel seit 1948 angehören. Ich habe in meiner Rede hier auf diesem Forum im vergangenen Jahr vor den Folgen gewarnt.
Um jede Zweideutigkeit zu vermeiden: Wir verurteilen die Ereignisse vom 7. Oktober vorbehaltlos. Jedes Leben ist gleich wertvoll.
Beides, das Recht auf Widerstand gegen ausländische Besatzung und das Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UNO-Charta, darf nicht als Vorwand für kollektive Bestrafung dienen. Diese Rechte erlauben unter keinen Umständen unverhältnismässige und wahllose Gewaltanwendung. Sie rechtfertigen in keiner Weise die Begehung von Kriegsverbrechen oder von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie wir sie derzeit beobachten – und zwar in einer Brutalität und Intensität, die es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs so nicht gegeben hat. Die Verantwortlichen müssen ohne Ansehen der Person vor Gericht gestellt werden.
Angesichts einer Kampagne, die darauf abzielt, diejenigen einzuschüchtern, die sich für die Wahrheit einsetzen, müssen wir unmissverständlich klarstellen: Die Verurteilung dieser Taten und der dahinterstehenden Politik und Ideologie ist nicht Ausdruck von Antisemitismus, ebenso wenig wie die Verurteilung der Greueltaten gegen israelische Zivilisten ein Ausdruck von Islamophobie ist. In all diesen Fällen wäre es jedoch unverantwortlich, zu schweigen.
Die Staats- und Regierungschefs der Türkei, Brasiliens, Südafrikas, Kolumbiens, Boliviens und anderer Länder haben sich mutig zu Wort gemeldet. Am 17. November haben Südafrika, Bangladesch, Bolivien, die Republik der Komoren und Dschibuti den Internationalen Strafgerichtshof mit der Situation im Staat Palästina befasst. In Europa haben der spanische und der belgische Premierminister – der scheidende und der neue Präsident des Rates der Europäischen Union – die massiven Verstösse gegen das Humanitäre Völkerrecht in Palästina ebenfalls deutlich kritisiert. Andere in Europa sollten ihrem Beispiel folgen. Die Politiker sollten sich bewusst sein, dass jeder Vertragsstaat der Genfer Konventionen von 1949 verpflichtet ist, «die Einhaltung [des Humanitären Völkerrechts] unter allen Umständen zu gewährleisten».
Auch die Unabhängige Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die besetzten palästinensischen Gebiete, einschliesslich Ost-Jerusalem, und in Israel stellte fest: «Es gibt bereits eindeutige Beweise dafür, dass bei der jüngsten Explosion der Gewalt in Israel und im Gaza-Streifen möglicherweise Kriegsverbrechen begangen wurden.» Bedauerlicherweise sind viele Beamte der Vereinten Nationen, die den Mut hatten, die Wahrheit zu sagen, bösartigen Angriffen von Vertretern der Besatzungsmacht ausgesetzt gewesen.
Das Problem an der Wurzel packen
Wir schliessen uns dem Generalsekretär der Vereinten Nationen an, der gemeinsam mit der grossen Mehrheit der UNO-Mitgliedsstaaten zu einem dauerhaften Waffenstillstand und einer politischen Lösung aufgerufen hat, die das Problem an der Wurzel packt: Die Verweigerung des Rechtes auf Selbstbestimmung – in andauernder Verletzung aller einschlägigen UNO-Resolutionen – darf nicht länger hingenommen werden. Das palästinensische Volk, so António Guterres in der Sondersitzung des Sicherheitsrates am 24. Oktober, «ist seit 56 Jahren einer erdrückenden Besatzung unterworfen».
Herr Vorsitzender!
Der «Osloer Friedensprozess» von vor dreissig Jahren ist in eine Sackgasse geraten, weil er nicht in erster Linie auf dem Paradigma der Selbstbestimmung beruhte, sondern sich – wie das frühere Camp-David-Abkommen von 1978 – auf die Modalitäten der lokalen Selbstverwaltung unter der Oberhoheit der Besatzungsmacht konzentrierte. Fragen des sogenannten «dauerhaften Status» wurden in der «Prinzipienerklärung über eine vorübergehende Selbstverwaltung» ausgeklammert. Nach Jahren der Ausflüchte und des Misstrauens förderte dies – wenig überraschend – annexionistische Tendenzen, ebenso wie die in jüngerer Zeit geschlossenen bilateralen Abkommen.
Angesichts des Infernos, in das man die Menschen im Gaza-Streifen gestürzt hat, können diese Probleme jedoch nicht länger beiseite geschoben werden.
Israel muss sich aus allen 1967 besetzten Gebieten zurückziehen und die Annexion des arabischen Jerusalem mit seinen heiligen Stätten rückgängig machen – und zwar bedingungslos. Dies erfordert auch die Auflösung der kolonialen Siedlungen im Westjordanland, die eines der grössten Hindernisse für den Frieden darstellen. Die Bürger Palästinas müssen in der Lage sein, ohne Vormundschaft oder Einmischung von aussen über den rechtlichen Status und die politische Organisation ihres Landes zu entscheiden. Denn das ist es, was Selbstbestimmung bedeutet.
Da der Sicherheitsrat bis jetzt keine Zwangsmassnahmen ergriffen hat, um die Resolution 242 (1967) über den Rückzug aus den besetzten Gebieten durchzusetzen, wird jeder Schritt in diese Richtung im wesentlichen vom Einfluss westlicher Staaten – in erster Linie der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union – abhängen, die über Druckmittel gegenüber Israel verfügen und bereits erklärt haben, dass sie sich für ein Zwei-Staaten-Modell als Schlüssel für eine endgültige Lösung einsetzen. Den Worten müssen nun Taten folgen. (Es wird dennoch eine enorme Herausforderung sein. Nach jahrzehntelanger effektiver Kolonisierung im Westjordanland bleibt nicht viel Land für einen palästinensischen Staat übrig, der wie jeder Staat ein zusammenhängendes Gebiet braucht, um lebensfähig zu sein.)
Präzendenzfall Suez-Krise 1956
In Gaza könnte die Generalversammlung dem Präzedenzfall folgen, den sie selbst in der Suez-Krise 1956 auf der Grundlage der «Uniting for Peace»-Formel gesetzt hat: Die UNO-Mitgliedsstaaten könnten erneut eine «United Nations Emergency Force – Force d’urgence des Nations Unies» [eine bewaffnete Einsatztruppe der Vereinten Nationen, UNEF] schaffen, die einen künftigen Waffenstillstand überwacht und als Puffer zwischen den Parteien entlang der Grenze fungiert. Länder mit ausreichendem Einfluss sollten als Garanten für jede der beiden Parteien auftreten. In diesem Zusammenhang ist für die internationale Gemeinschaft der kürzlich von der Türkei – dem Land, das bereits bei den Istanbuler Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Jahr 2022 als Vermittler agierte – eingebrachte Vorschlag von Bedeutung.
Entscheidende Rolle der Zivilgesellschaft
Abschliessend, Herr Vorsitzender, wird die Rolle der internationalen Zivilgesellschaft für die tatsächlichen Aussichten auf Frieden entscheidend sein.
Es ist bezeichnend, dass selbst in Ländern wie unserem heutigen Gastgeberland, die in der jüngsten Sondersitzung der Generalversammlung gegen einen «sofortigen, dauerhaften und nachhaltigen» humanitären Waffenstillstand gestimmt haben, die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger eine Fortsetzung des Krieges in Gaza nicht befürwortet. Laut einer Reuters/Ipsos-Umfrage in den Vereinigten Staaten stimmten mehr als zwei Drittel der Befragten der Aussage zu, dass «Israel einen Waffenstillstand ausrufen und versuchen sollte, zu verhandeln». (Die Regierungen, die einen dauerhaften Waffenstillstand ablehnen, waren ohnehin nur eine winzige Minderheit unter den 121 Mitgliedsstaaten, die am 26. Oktober für die Resolution stimmten.) In grossen Demonstrationen und in den Sozialen Medien haben Bürgergruppen auf allen Kontinenten, darunter z. B. «Jewish Voice for Peace» in den Vereinigten Staaten und «European Jews for Peace», deutlich gemacht, dass sie eine Beilegung des Konfliktes durch Verhandlungen und gegenseitige Anerkennung befürworten – und nicht als Ergebnis eines Vernichtungskrieges, eines totalen Krieges, wie ihn der israelische Premierminister in einer Fernsehansprache unter Bezugnahme auf Kapitel 15 des ersten Buches Samuel unheilvoll beschrieb,2 und den sein offizieller Sprecher grob und sarkastisch als «die Mutter aller Schläge» (the mother of all thumpings) bezeichnete.
Wenn der Gaza-Krieg 2023 auf die vom Premierminister angedeutete apokalyptische Art und Weise beendet werden soll, wird es vielleicht keinen «Tag danach» geben, um eine Friedensvision in Angriff zu nehmen, wie sie der spanische Premierminister am 24.November auf einer Pressekonferenz am Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und Gaza vorgestellt hat. Ich zitiere aus seinem leidenschaftlichen Plädoyer für Frieden und Gerechtigkeit in Palästina: «… der Zeitpunkt ist gekommen, an dem die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten, den Staat Palästina anerkennen müssen.»
Ausserdem sollte die internationale Gemeinschaft auf die mahnenden Worte von Präsident Emmanuel Macron hören, die er vor einigen Tagen in Dubai ausgesprochen hat: «Es kann keine langfristige Sicherheit in der Region geben, wenn diese Sicherheit um den Preis palästinensischer Leben erkauft wird.» In seiner Rede über die Notwendigkeit des Schutzes der Zivilbevölkerung warnte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, dass sich ein «taktischer Sieg» als «strategische Niederlage» entpuppen könnte.3
Wenn sich die Logik des totalen Krieges – mit der Zwangsumsiedlung der Bevölkerung des Gaza-Streifens und der Annexion des Westjordanlandes als Endziel (wie von führenden Vertretern der israelischen Regierungskoalition erwogen) – durchsetzen sollte, besteht die Gefahr eines nicht enden wollenden Kreislaufes der Gewalt, der den gesamten Nahen Osten erfassen und den Weltfrieden gefährden kann.
Ich danke Ihnen, Herr Vorsitzender. •
1 Pressekonferenz am Rande der COP 28 in Dubai, 2. Dezember 2023
2 «Nun geh und schlage Amalek. Und alles, was ihm gehört, sollt ihr der Vernichtung weihen, und nichts sollst du verschonen, sondern du sollst Mann und Frau, Kind und Säugling, Rind und Schaf, Kamel und Esel töten.»
3 Rede auf dem Reagan National Defense Forum in Kalifornien, zitiert nach AFP, 3. Dezember 2023.
(Übersetzung aus dem englischen Original)
* Prof. Dr DDr h.c. Hans Köchler (*1948) war von 1990 bis 2008 Vorstand des Institutes für Philosophie an der Universität Innsbruck. Er ist Gründer und Präsident (seit 1972) der International Progress Organization (Wien). Seither setzt er sich mit zahlreichen Publikationen, Reisen, Vorträgen und durch sein Mitwirken in verschiedenen internationalen Organisationen für einen Dialog der Kulturen ein und arbeitet in verschiedenen Komitees und Expertengremien mit, die sich mit Fragen zur internationalen Demokratie, zu Menschenrechten und Entwicklung befassen. Hans Köchler ist Mitglied des Universitätsrates der University of Digital Science (Berlin). Seit 2018 lehrt er an der Academy for Cultural Diplomacy in Berlin. Hans Köchler lebt in Wien.
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