Die Bundesverfassung und der Katholizismus in der Schweiz

Sukzessive Integration der Verlierer

von Dr. phil. René Roca, Forschungsinstitut direkte Demokratie (www.fidd.ch)

Die schweizerische Geschichtswissenschaft pflegte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und teilweise bis heute die «Meistererzählung», dass die Schweizer Liberalen alleine den Bundesstaat mit allen seinen Errungenschaften erschaffen hätten. Auch wenn die Liberalen, vor allem die gemässigten, einen grossen Anteil am Bundesstaat für sich in Anspruch nehmen können, darf der Einfluss der Katholisch-Konservativen und auch der Frühsozialisten nicht übergangen werden. Auch im noch laufenden Jahr, mit dem wir das Jubiläum von 175 Jahren Schweizerische Bundesverfassung feiern, erschienen Artikel, die lediglich die liberale Seite betonten. Im folgenden Artikel wird nun speziell der Anteil der Katholisch-Konservativen am Bundesstaat hervorgehoben und gewürdigt. Weitere Artikel werden die Rolle der anderen politischen und ideellen Kräfte zum Thema machen.

Anfang dieses Jahres hielt Bundespräsident Alain Berset im Landesmuseum Zürich eine Neujahrsansprache, mit der er das 175-Jahr-Jubiläum der Schweizerischen Bundesverfassung einleitete. Dabei kam er unter anderem auch auf den Einfluss des Katholizismus zu sprechen.

[…] Nach dem Sonderbundskrieg haben die Kantone, die gesiegt haben, nicht einfach eine neue Verfassung geschrieben und sie den katholischen Kantonen aufgezwungen.
    Sie haben es zusammen mit ihnen gemacht. Und einen souveränen Staat geschaffen, der auf Augenhöhe mit den Mächten Europas war.
    Diese Verfassung von 1848 war ein entscheidender Schritt für die Schweiz. […] Ihr verdanken wir unsere Kultur des Dialogs. Ihr folgten weitere wichtige Schritte, ich denke hier insbesondere an die Einführung von Initiative und Referendum –  der Basis unserer direkten Demokratie. Es sind diese Institutionen und Werte, für die wir uns auch heute noch engagieren. […]

Der Bundespräsident weist auf zentrale Punkte der Entstehungsgeschichte der Schweizerischen Bundesverfassung von 1848 und auf wichtige Folgen hin und betont den diesbezüglichen Einfluss der katholischen Kantone. Dies unterstreicht auch der Schweizer Historiker Oskar Vasella (1904–1966), der dazu aufrief, die Vorgeschichte des Sonderbundes genauer zu studieren, um so die Quellen der Schweizerischen Bundesverfassung genauer zu erfassen:

«Vielleicht ist doch erst durch den jahrelangen Widerstand der Konservativen und durch den Sonderbundskrieg die revolutionäre Welle gebrochen worden. Die Bundesverfassung von 1848 hat das Ständeprinzip gerettet, damit auch den Gedanken des Ausgleichs zwischen den kleinen und grossen Ständen bewahrt.»

Trotz der Niederlage des Sonderbunds flossen einige seiner Forderungen, wie Vasella unter anderem mit dem Ständeprinzip aufzeigt, in die Ausgestaltung der neuen Bundesverfas-sung von 1848 ein. Die 23köpfige «Bundesre-visionskommission», darunter keine konservativ-katholischen, aber einige liberal-katholischen Vertreter, versuchte bei der Ausarbeitung der Bundesverfassung die Rechte und Freiheiten der Sonderbundskantone zu achten sowie die katholische Religion zu respektieren. Insbesondere dem Wunsch nach einer weitgehenden Souveränität der Kantone, der auch von liberal-katholischen Gruppierungen geäussert wurde, trugen die Sieger Rechnung. Auf diese Weise konnten die Verlierer mit der Zeit gut in den neuen Bundesstaat integriert werden.

Die neue Bundesverfassung und der schweizerische Katholizismus
(1848–1874)

Die expliziten Kriegsziele der Tagsatzungstruppen, die auf einem Entscheid der Mehrheit der Tagsatzung fussten, waren die Auflösung des Sonderbundes und das Verbot des Jesuitenordens. Mit dem Waffenstillstand nach dem kurzen Sonderbundskrieg löste sich der Kriegsrat des Sonderbundes überstürzt auf. Das Jesuitenverbot wurde von der Kommission, welche die Bundesverfassung in 51 Tagen schuf, in einen eigenen Artikel gegossen: «Art. 58. Der Orden der Jesuiten und die ihm affiliirten [angeschlossenen] Gesellschaften dürfen in keinem Teile der Schweiz Aufnahme finden.» Dieser Verstoss gegen die Religionsfreiheit beschränkte sich allerdings nicht nur auf den Orden der Jesuiten. So erhielt die jüdische Bevölkerung in der Schweiz erst 1866 die Niederlassungsfreiheit und 1874 dann das Recht der freien Religionsausübung.
    Das Jesuitenverbot und die Diskriminierung von nichtchristlichen Religionen dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Bundesstaat mit der Festsetzung der kantonalen Schul- und Kirchenhoheit sowie der Einführung des Ständerats und des Ständemehrs deutliche föderalistische Akzente setzte und so den katholischen Verlierern entgegenkam. Die Bundesverfassung verband das nationale Prinzip mit dem Fortbestand der Stände als souveräne Kantone. Bund und Gliedstaaten erfüllten ihre Aufgabe in einem dualistischen Zusammenwirken auf der Grundlage der Subsidiarität. So hatte der Sonderbund indirekt mitgeholfen, eine zentralistische Lösung zu erschweren und weitere revolutionäre Umgestaltungen im Sinne der Liberal-Radikalen zu unterbinden.

Die erste Totalrevision
der Bundesverfassung 1874

Weitere wichtige Schritte, um die Verlierer zu integrieren, waren der vorerst gescheiterte Versuch einer Totalrevision der Bundesverfassung von 1872. Auf kantonaler Ebene hatte die demokratische Bewegung in den 1860er Jahren Erfolge errungen, nun verlangte sie auch auf Bundesebene den Ausbau der direktdemokratischen Institutionen. Mit der 1869 geforderten Einführung der Zivilehe erhielt jedoch der Verfassungskampf ein kulturkämpferisches Element. Das Erste Vatikanische Konzil 1870, das die päpstliche Unfehlbarkeit zum Dogma erhob, verschärfte in der Schweiz und in Europa den Kulturkampf. Dieser historische Kontext und schlussendlich die Überladung der Totalrevision von 1872 spielten den Gegnern des Entwurfes, dem konservativ-katholischen Lager und den Föderalisten der Westschweiz, in die Hände; die Revision wurde in einer Volksabstimmung abgelehnt.
    Beim eiligst aufgegleisten zweiten Versuch 1874 – immer noch im Zeichen des Kultur-kampfes – waren die Gegner nur noch die Konservativ-Katholischen; dies deshalb, weil die Vorlage zwar föderalistische Anliegen stärker mit einbezog, aber die kulturkämpferischen Bestimmungen sogar noch verschärfte, so das Jesuitenverbot; man sprach in der Folge von den sogenannten «Ausnahmeartikeln». Das Jesuitenverbot von 1848 wurde nun wie folgt ergänzt:

Art. 51. Der Orden der Jesuiten und die ihm affillierten Gesellschaften dürfen in keinem Teile der Schweiz Aufnahme finden, und es ist ihren Gliedern jede Wirksamkeit in Kirche und Schule untersagt.
    Dieses Verbot kann durch Bundesbeschluss auch auf andere geistliche Orden ausgedehnt werden, deren Wirksamkeit staatsgefährlich ist oder den Frieden der Konfessionen stört.

Art. 52.Die Errichtung neuer und die Wiederherstellung aufgehobener Klöster oder religiöser Orden ist unzulässig.

Die Mehrheit der Katholiken (durchaus auch die liberalen Katholiken) empfand dies als diskriminierend, aber sie konnte sich zu wenig Gehör verschaffen, und die Vorlage wurde angenommen (die «Ausnahmeartikel» wurden erst durch eine Volksabstimmung am 20.Mai 1973 aufgehoben!). Und doch bewirkte die Revision, dass sich die Konservativ-Katholischen besser in den liberalen Bundesstaat integrierten. Eine entscheidende Neuerung der Verfassungsrevision von 1874 war nämlich die Einführung des fakultativen Referendums. Die Konservativ-Katholischen ergriffen nun immer wieder das Referendum und konnten sich auf diese Weise mehr oder weniger konstruktiv einbringen. Die direkte Demokratie zeigte im Zuge dessen erstmals auch auf Bundesebene ihre immense integrative Kraft, auch wenn die Konservativ-Katholischen das neue Volksrecht mit der Zeit allzu sehr ausreizten und immer wieder regelrechte «Referendumsstürme» lostraten. Parallel dazu erlahmte der kulturkämpferische Elan zusehends. Die Sorgen der Bevölkerung verschoben sich mit der Depression nach 1873 mehr auf wirtschaftliche Belange, und der Pontifikatswechsel zu Leo XIII. bewirkte eine kirchenpolitische Beruhigung.

Josef Zemp als Vater der Verfassungsinitiative und erster
konservativ-katholischer Bundesrat

Bei der Initiierung der Verfassungsinitiative auf Bundesebene von 1891 spielte der Luzerner Josef Zemp (1834–1908) eine zentrale Rolle. Er sass seit 1871 im Ständerat, dann im Nationalrat und war von 1881 bis 1885 der Fraktionsvorsitzende der Konservativ-Katholischen. In diese Zeit fiel die wichtige Motion «Zemp-Keel-Pedrazzini», die 1884 mit einem Fünf-Punkte-Programm eine Teilrevision der Bundesverfassung verlangte. Die Parlamentarier verlangten unter anderem eine Wahlreform (mehr Proporz!) sowie die Ausdehnung der Volksrechte (Initiativrecht). Die Motion stellte in der Entwicklung des politischen Katholizismus eine historische Zäsur dar, denn sie signalisierte die Bereitschaft der bisherigen Opposition, also auch der Revisionsgegner von 1872/74, in dem seit 1848  freisinnig (liberal) dominierten Bundesstaat konstruktiv mitzuarbeiten.
   1891 wurde die Initiative für die Partialrevision der Verfassung eingeführt, wie es die Motion gefordert hatte. Das erleichterte zukünftig die ständige Fortbildung des Verfassungsrechts und erübrigte eine weitere Totalrevision. Im selben Jahr gelang Zemp die Wahl zum ersten konservativ-katholischen Bundesrat. Insbesondere Zemps Persönlichkeit sorgte während seiner Amtszeit als Bundesrat dafür, dass der Prozess der Versöhnung und Integration weitergeführt und eine Konkordanzpolitik allmählich Formen annahm. Die katholische Kirche gab ihrerseits auf dem Boden des Naturrechts mit der katholischen Soziallehre eine sinnvolle Antwort auf die soziale Frage der Industrialisierung. So veröffentlichte der «Arbeiterpapst» Leo XIII. 1891 die erste Sozialenzyklika unter dem Titel «Rerum Novarum».

Der Artikel erschien zuerst am 31. August 2023 in der Schweizerischen Kirchenzeitung (SKZ), Nr. 16/2023

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