Der Schule ihren menschlichen Sinn zurückgeben

Zur Neuerscheinung von Jochen Krautz: «Bilder von Bildung. Für eine Renaissance der Schule»

von Eliane Perret

Es ist eine glückliche Fügung, wenn Menschen aus schwierigen Situationen positive, inspirierende Impulse ziehen, die zu Neuem führen. Das ist Jochen Krautz mit seinem neuen Buch «Bilder von Bildung» ausgezeichnet gelungen. Im Vorwort schreibt er, dass sich im Jahr 2021 unter seinen durchfeuchteten Büchern, die er nach dem Abfluss des Hochwassers im Ahrtal aus seinem Arbeitszimmer retten konnte, auch dasjenige von Otto Friedrich Bollnow mit dem Titel «Krise, Kritik und Neuanfang» befand. Damit ist die Aufgabe umschrieben, vor der wir auch heute im Bildungsbereich stehen.

Ein Fundstück und seine Folgen

Das «Fundstück» wurde für den Autor zum Anlass, eine längst fällige Debatte anzuregen. Wir sind gefordert, der seit Jahren unguten Entwicklung im Bildungsbereich ein Ende zu setzen und unserer Schule ihren eigentlichen Sinn zurückzugeben. Es geht, wie es im Untertitel des Buches heisst, um eine Renaissance der Schule. Zur Diskussion stehen die vielen vergangenen Reformschritte, die ehrlich durchdacht werden müssen. Sie haben in den letzten Jahrzehnten unsere Schule zu einer anderen gemacht. Jochen Krautz*, Professor für Kunst an der Universität Wuppertal, weiss, wovon er spricht, und er tut dies in einer Weise, die das Lesen zum Genuss macht. Links finden sich jeweils ein thematisch und künstlerisch sorgfältig ausgesuchtes Werk von bekannten Künstlern unterschiedlicher Epochen, Werke seiner Schüler und Schülerinnen oder Fotografien des Autors – man kann bei jedem von ihnen verweilen. Rechts sind damit korrespondierende kurze, inhaltsreiche Texte zu 67 Themen zu lesen. Sie reflektieren die Kernpunkte der aktuellen Bildungsdiskussion und verweisen auf das, was den menschlichen Sinn von Schule und Bildung ausmachen würde. Der Autor tut dies in einer Sprache, die das Buch gut lesbar macht, ebenso wie das in sich stimmige Aufeinander-bezogen-Sein der Themen. Mich persönlich hat die Lektüre sehr angeregt zu eigenen Gedanken, was ich auch anderen Lesern wünsche. Um den Inhalt dieses Buches fühl- und sichtbar zu machen, soll deshalb im folgenden in den Ausführungen zum Inhalt des Buches der Autor oft selbst zu Wort kommen und Sie als Leserinnen und Leser ebenfalls zum Denken und Tun anregen.

«Wir sind soziale Wesen …»

Beginnend mit den anthropologischen und entwicklungspsychologischen Grundlagen, verweist der Autor auf das Essentielle von Schule als Ort des Lernens. Sie belegen die soziale Natur des Menschen, die Ausgangspunkt jeder Unterrichtsgestaltung sein muss: «Wir sind soziale Wesen und werden dies zugleich nur in menschlichen Beziehungen.» Nach Jahren beziehungsweise Jahrzehnten gegenläufiger Schulreformen bedarf es dringend einer Renaissance. Nur dann wird Schule wieder zum Ort, wo Kinder und Jugendliche – begleitet und angeleitet von gereiften Beziehungspersonen – ihrer sozialen Natur entsprechend lernen und sich in einem individuellen Entwicklungsprozess Bildung erwerben können. Auch hier ist ein erneutes Besinnen auf das Wesentliche nötig, denn Anleitung oder Führung haben heute einen negativen Ruf bekommen, meint Krautz: «Man mutmasst autoritäres Gehabe und will lieber, dass das Kind sich selbst entfalte.» (S. 15) Mit dieser Sicht verweigert der Erwachsene jedoch seine Verantwortung im Prozess der Persönlichkeitswerdung eines Kindes: «Verantwortliche Selbstgestaltungsfähigkeit entsteht nicht, indem man Kinder sich selbst überlässt. Die innere kreative Kraft des Kindes, die es ‹wachsen› macht, braucht Anleitung und Rahmensetzungen, damit das Kind zum Gemeinschaftswesen wird.» (S. 15)

« … bedarf sorgfältiger und
engagierter pädagogischer Arbeit»

Diese Erkenntnisse sind entscheidend für jeden Lernprozess, ein ganzheitlicher Vorgang, in dem ein Kind individuell seine intellektuellen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten ausbildet. Hier nimmt Krautz auch die modisch gewordenen einseitig neurowissenschaftlich fokussierten Unterrichtskonzepte kritisch unter die Lupe: «Geist ist aber nicht nur im Gehirn angesiedelt, weshalb ihn Hirnforscher in ihren bunten Aufnahmen nie dort finden. Daher gibt es auch keinen ‹gehirngerechten› Unterricht. Nein, geistig ist der ganze Mensch mit Leib und Seele.» (S. 21) Darum braucht echte Bildung eine pädagogische Beziehung, die fachlich bildet und durch die Sache erzieht. Beziehung und Lernen sind miteinander verbunden und finden im Klassenunterricht ideale Gelingensbedingungen (heute fälschlicherweise oft als ‹Frontalunterricht› herabgesetzt, in bewusster Assoziation mit militärischem Drill).
  Es geht um den Kern pädagogischer Arbeit, und die Klasse wird «eine Gemeinschaft, die miteinander an der Sache arbeitet und dabei menschlich zusammenwächst. Das geschieht allerdings nicht von selbst, sondern bedarf sorgfältiger und engagierter pädagogischer Arbeit». (S. 37) Ein solches Unterrichtsgeschehen gehe «nicht im Anwenden von Methoden auf. Es fordert und bildet die ganze Lehrperson. Oder es bleibt ein Geschäft auf Distanz, bei dem beide Seiten verlieren». (S. 35) In innerer Verbindung zu den Kindern und Jugendlichen gestaltet dann die Lehrperson einen Unterricht, in dem es darum gehe, «Sachfragen als Sachfragen zu klären, Urteile an Argumente zu binden, Rücksicht auf und Anteil am anderen zu nehmen, andere zu verstehen, Konflikte gewaltfrei und konstruktiv zu lösen, zu kooperieren, gegenseitige Hilfe zu üben u. a. m.» (S. 33)

«Das ist der Kern erfolgreicher Pädagogik»

Diese sich an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen orientierenden Prämissen von Unterricht verweisen das aktuell propagierte selbstentdeckende und selbstorganisierte Lernen SOL (auch «Schule ohne Lehrer» genannt) auf den Rang der veralteten Unterrichtsmethoden, denn sie vernachlässigen anthro-pologische, psychologische und didaktische Erkenntnisse, oder wie es der Autor formuliert: «Es ist also nicht ‹modern›, gegen die menschliche Natur zu unterrichten, die über hunderttausende Jahre unsere Kultur hervorgebracht hat. Es ist schlicht töricht. Und in der Folge wird der Mensch nicht selbständiger und klüger, sondern unfrei und dumm.» (S. 45)
  Und immer gehe es darum, die Kinder und Jugendlichen dazu zu befähigen, ihre Lebensaufgaben mit Zuversicht und Mut entgegenzunehmen und zu bewältigen, Aufgaben, die sich jedem Kind stellen und an denen es sein Gefühl der Selbstwirksamkeit stärken kann: «Aufgaben können lehren, sich dem Anspruch des Lebens nicht zu entziehen, sondern sich mutig zu stellen, anzufangen, durchzuhalten, auch wenn es nicht immer klar ist, ob man es schafft und wie es ausgeht.» (S. 59) Ein solchermassen gestalteter Unterricht stellt an die Lehrperson hohe Anforderungen, menschlich und fachlich: «Das ist der Kern erfolgreicher Pädagogik: fachliche Herausforderungen, klare Ansagen, passgenaue Hilfen, unerschütterliches Zutrauen und ein grosses Herz für die jungen Menschen in ihrem Um und Auf. Ein so einfaches wie vergessenes Grundprinzip.» (S. 47)

«Lernen durch Zeigen macht uns deshalb frei»

Dazu gehören auch die nötigen Übungsphasen, hier liegt «der Weg zu echter Selbständigkeit, der Weg zu Freiheit» (S. 49). Und frei zu sein, unabhängig im Denken und verantwortungsvoll im Handeln, bedarf einer sorgfältigen Anleitung, ein Unterrichtsprinzip, das ebenfalls einer Renaissance bedarf, denn «wenn mir jemand etwas zeigt, kann ich dies innerlich nachbilden und äusserlich nachahmen. Dabei lerne ich, wie etwas geht». (S. 45) Dieser Lernvorgang ist so einfach wie logisch und verhilft dem Kind dazu, sich die Welt anzueignen: «Lernen durch Zeigen macht uns deshalb frei: Wir können es dann selbst und können damit tun, was wir für richtig halten. Sonst muss immer jemand anderes für uns stricken, lesen, rechnen, denken, entscheiden usw.» (S. 45)

«Wo keine Anregung erfolgt …»

Nicht alle Kinder bewegen sich darin gleich leicht, manche verstehen etwas nicht und geraten in Bedrängnis: «Die didaktische Kunst besteht darin, diese fachlichen Verstehenskrisen so zu dosieren, dass sie die Schüler herausfordern, aber nicht überfordern.» (S. 57) Oft braucht es ein breiteres fachliches Verständnis, um Kinder und Jugendliche zu unterstützen, deren «Verstehenskrisen» hartnäckiger sind oder die im Unterricht durch eine hektische Unruhe auffallen, die ihre Konzentrationsfähigkeit sichtlich beeinträchtigt. Ein vertiefteres Verständnis der Lehrperson kann den Zugang eröffnen, solchen Kindern eine Perspektive zu geben, statt sie, wie heute üblich, mit einer Diagnose zu belegen und dabei stehenzubleiben. Oder wie Krautz meint: «Auch unkonzentrierte Kinder sind erst zu solchen geworden. Das ist aber keine Krankheit.» (S. 61) Genauso verhält es sich mit Kindern aus sogenannt bildungsfernen Elternhäusern. Auch hier ist die Schule gefordert, Anregung zu geben und den Horizont zu erweitern, soll das oft gehörte Postulat der Chancengerechtigkeit nicht eine leere Floskel bleiben: «Wo keine Anregung erfolgt, entwickelt sich auch weniger. Das eben ist Aufgabe der Schule: allen Kindern Entwicklungschancen durch Anregungen zu geben.» (S. 65) Denn die Aufgabe der Schule darf sich nicht auf ein «Kompetenztraining» beschränken.

«Erziehung braucht nicht
nur Nähe, sondern auch Distanz»

Die Förderung in der Schule gelingt aber gerade bei solchen Kindern am besten, wenn eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern oder anderen wichtigen Beziehungspersonen möglich wird. Nicht alle Kinder können auf zuverlässige, Mut gebende Beziehungen zurückzugreifen, die es ihnen möglich machen, Selbstvertrauen aufzubauen, sich in Ruhe dem Lernen zuzuwenden und die Welt zu erkunden. Dieser Thematik hat sich die Bindungsforschung zugewendet und die Bedeutung einer sicheren Bindung für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung erkannt. Wobei das nicht so verstanden werden darf, ständig und unmittelbar die materiellen und emotionalen Wünsche des Kindes zu erfüllen. «Gerade die Bindungstheorie zeigt aber: Erziehung braucht nicht nur Nähe, sondern auch Distanz – den Abstand, um über das Kind hinaus auf dessen Aufgaben in unserer Welt zu blicken. Von diesen Aufgaben aus lässt sich die eigene erzieherische Haltung sinnvoll ableiten.» (S. 85) Das bedeutet, das Kind zu altersgemässer Selbständigkeit zu ermutigen und ihm den Weg in die Welt zuzumuten. Mit den Worten von Krautz: «Geh hinaus in die Welt, ich bin innerlich bei dir und helfe dir, wo nötig. Aber bewältigen kannst und musst du das selbst.» (S. 83) Sonst werde auch die natürliche Kooperationsbereitschaft des Kindes übergangen und unter Umständen gar durch übermässiges Lob lahmgelegt. «Die enorme Tragweite dieses Befundes ist pädagogisch überhaupt noch nicht ausgeleuchtet …» (S. 87)

«Wird die Investition in euer Lernen profitabel sein?»

Darum wäre dringend angezeigt, die seit Jahrzehnten angesagten Unterrichtskonzepte einer Überprüfung zu unterziehen. Denn «Unterrichten ist eben kein technisches Räderwerk, sondern ein Miteinander von Menschen». (S. 97) Es darf auch nicht von der Frage geleitet sein: «Wird die Investition in euer Lernen profitabel sein? ‹Humankapital› nennt das die Bildungsindustrie.» (S. 119) Solche an industriellen Optimierungsprozessen angelehnten Bildungskonzepte sind fern von menschlichen Bedürfnissen und scheuen die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Sie sind ein tragisches Überbleibsel von dem, was Unterricht sein sollte und müsste. Sie sind «… ein vermeintlich auf ‹Qualität› und ‹Effizienz› getrimmter, aberwitzig bürokratisierter und kontrollierter Schulbetrieb, der oft nur noch mit formalem Beiwerk beschäftigt ist». (S. 121) Nicht vergessen dabei darf man die politische Dimension dieser Reformprozesse, denn hinter dem ökonomistischen Gerede steht eine gesellschaftliche Vision, die ebenfalls kritisch hinterfragt werden muss.

«Wer von Bildungsreformen und
Bildungsrevolutionen aller Art schwadroniert»

Leidtragende dieser Entwicklung sind in erster Linie Kinder und Jugendliche, die eine kompliziertere Lernbiographie haben und dringend spezifische Förderung nötig hätten, eingebettet in ein verbindliche Beziehungsgeschehen, statt sie in schöngeredeten Inklusionssettings abzustellen, die kaum von unabhängiger Seite überprüft werden: «Doch sind Kinder keine Labortiere. Wo man zu Recht über Tierversuche diskutiert, dürften Menschenexperimente wohl erst recht tabu sein. Denn diese Kinder mit besonderem Förderbedarf haben ganz real nicht nur weniger gelernt, sondern eine Erfahrung des Scheiterns gemacht.» (S. 125) Ein Vorwurf, dem sich heutige Bildungsverantwortliche stellen müssen. Speziell in der Schweiz müssen sie auch offenlegen, mit welchem Ziel sie unsere Volkschule, die ihre Entstehungsgeschichte in der sozialgeschichtlichen Entwicklung zur direkten Demokratie hat und die Voraussetzungen dafür schaffte, diesen Reformprozessen unterworfen haben. «Wer von Bildungsreformen und Bildungsrevolutionen aller Art schwadroniert, muss sich immer fragen lassen, was denn Fortschritt in Bildung und Erziehung eigentlich sein soll.» (S. 131)

«Es drängt auf Renaissance»

Für die Lehrpersonen ist die Renaissance der Schule mit der Sinnfrage verbunden, wie Krautz feststellt: «Die Sinnfrage, was das eigentlich für den Menschen zu bedeuten haben kann, was ich unterrichte, muss ich mir als Lehrperson zuerst stellen. Dann habe ich die richtige Haltung dazu und kann den Unterricht so gestalten, dass er mögliche Antworten auf die Sinnfrage enthält» (S. 101). Was Jochen Krautz in seinem Buch in gut lesbarer, komprimierter Form festhält, sind die pädagogischen Grundpfeiler jedes Bildungsprozesses. Sie müssen wieder Grundlage von Bildungskonzepten werden. Das Buch ist allen ehrlich an pädagogischen, zeitgeschichtlichen, politischen und menschlichen Fragen Interessierten zur Lektüre empfohlen. Dann ist es berechtigt, an «das Gespenst pädagogischer Hoffnung» zu glauben, das der Autor in seinem letzten Kapitel anspricht: «Es drängt nicht auf Revolution, aber auf Renaissance.» (S. 137)  •



* Jochen Krautz, Prof. Dr., Professor für Kunstpädagogik an der Bergischen Universität Wuppertal; Präsident der Gesellschaft für Bildung und Wissen; Arbeitsschwerpunkte: Kunstpädagogik und Kunstdidaktik, Allgemeine Pädagogik und Bildungspolitik.

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