Der Krieg schwächt Europa gegenüber den USA

von Marcos Roitman Rosenmann*

Wie auch immer der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ausgeht, Europa wird gegenüber den Vereinigten Staaten geschwächt daraus hervorgehen. Ein Jahr nach Beginn des Krieges könnte die Bilanz nicht düsterer sein. Die europäischen Institutionen und Regierungen haben kapituliert, sie sind nicht in der Lage gewesen, eine Friedensalternative zu schaffen. Sie haben sich entschieden, die Vorgaben des Weissen Hauses und der Nato zu befolgen, und damit das Risiko einer globalen Konfrontation erhöht, wie sie nun de facto besteht. Wozu sonst der überraschende Besuch Bidens in der Ukraine und die Erklärungen von Vizepräsidentin Kamala Harris? Vor Ort befinden sich deutsche Panzer, amerikanische Raketen, spanische Haubitzen, französische, italienische und britische Waffen. Kurzum, ein ganzes Arsenal von Waffen «made in Western Europe» befindet sich in der Hand der Ukraine.
  Das Kriegsgeschehen hat Folgen für das tägliche Leben: die Verteuerung der Grundnahrungsmittel. Es gibt kein Produkt – Brot, Milch, Fleisch, Obst, Gemüse, Kaffee oder Bier –, dessen Preis nicht gestiegen ist. Heizung, Strom und Benzin sind zu Luxusgütern geworden. Die Inflation schiesst in die Höhe, und die Abhängigkeit von den US-amerikanischen Kohlenwasserstoffen wächst. Die Sabotage der Nord-Stream-Pipeline wurde, wie Seymour Hersh zeigte, von der Nato und der norwegischen Marine geplant und war ein Wendepunkt hin zur Energieabhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten. Für Deutschland bedeutete dies, teureres Gas aus den USA zu importieren. Biden sagte, er würde lieber Deutschland im Winter frieren sehen als seine Waffenlieferungen für die Ukraine zu reduzieren.
  Im Januar dieses Jahres trat die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht zurück. Sie stand im Mittelpunkt der Kritik der Nato, die ihr vorwarf, die Waffenlieferungen an Selenski zu verzögern. Der US-Stützpunkt Ramstein auf deutschem Boden, auf dem die meisten Treffen der antirussischen Koalition stattfinden, wurde zu einem Ausbildungslager für ukrainische Soldaten umfunktioniert. Dort werden sie im Umgang mit hochentwickelten Waffensystemen, Panzern und modernsten Raketen geschult, um dann in Kiew in den Kampf zu ziehen. An diesen Schulungen hat auch der US-Generalstabschef, General Mark Milley, teilgenommen.
  Europa existiert nur, um den Vereinigten Staaten zu dienen. In diesem Zusammenhang einigten sich die Nato-Verteidigungsminister bei ihrem Treffen in Brüssel darauf, mehr Kriegsmaterial in die Ukraine zu schicken. Nach dieser Logik erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron gegenüber Selenski: «Es ist besser, nützliche Lieferungen zu priorisieren, um den Ukrainern die Möglichkeit zu geben, Widerstand zu leisten und Operationen durchzuführen, als Verpflichtungen einzugehen, die zu spät kommen werden.» Selenski wird gross. Er reist durch Europa und wird mit Auszeichnungen bedacht. Joe Biden besucht ihn in Kiew und macht ihm seine Pläne und die Rolle Europas klar: den Kopf einziehen und den Plan der USA abnicken.
  Eine weitere Demütigung für die Europäische Union. Die Ukraine ist eine Zeitbombe, die die Vereinigten Staaten zünden werden, wenn sie es für richtig halten, wobei Selenski dann lediglich ein zerbrochenes Spielzeug sein wird.
  Josep Borrell, der Chef der europäischen Diplomatie, betont, ohne rot zu werden: «Da sie diejenigen sind, die die Toten stellen, sollten wir ihnen helfen […] Selenski und die Ukrainer bekommen viel Beifall, haben aber keine Munition […]. Das ist das Paradoxe. Es muss weniger Beifall und eine bessere Versorgung mit Waffen geben.» Für Borrell bedeutet der Krieg, dass die EU «erwachsen geworden […] und zu einem glaubwürdigen Akteur geworden ist, der in der Lage ist, Zwangsmittel einzusetzen». Unverhohlen schlägt er vor, die Rüstungsindustrie als Entwicklungsmotor zu fördern. «Wir werden erwachsen», sagte er, bevor er auf die Herausforderungen einging, vor denen die EU in Kriegszeiten steht: «Glaubwürdigkeit als globaler Akteur zu erlangen, strategische Verantwortung als Sicherheits- und Verteidigungslieferant zu übernehmen und uns stärker mit unseren Partnern in der ganzen Welt zu engagieren». Europa lebt in einer Kriegswirtschaft.
  Die Ukraine muss Widerstand leisten, egal wie hoch die Zahl der Toten ist. Unterdessen unterzeichnet die Europäische Union das zehnte Sanktionspaket. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, beziffert die Kosten für Russland auf elf Milliarden Euro. In diesem einen Jahr wurden unter anderem Visa verweigert, Bankkonten eingefroren und die Einfuhr von Luxusgütern, elektronischen Geräten und Gütern mit doppeltem Verwendungszweck unmöglich gemacht. Im Luft-, See- und Landraum: Russische Flugzeuge haben keinen Zugang zu EU-Flughäfen. Die russische Handelsmarine kann keine EU-Häfen anlaufen. Für Banken ist der Zugang zum Swift-System verboten. Rundfunklizenzen wurden entzogen. Ganz zu schweigen vom Kauf von Rohöl und Gas. Aber wie so oft haben die Sanktionen einen Bumerangeffekt. Es sind die Kleinunternehmer, Technologieexporteure, Ingenieurbüros und Händler, die die Rechnung bezahlen. Währenddessen wird die Kriegsindustrie immer reicher.
  Europa hat schon vor langem seine Würde verloren. Seine Führer erinnern mich an eine Szene aus dem Film «Die Marx Brothers im Westen», in der Groucho in einem Zug ohne Treibstoff ruft: «mehr Holz, es ist Krieg», um Bösewichte in einem klapprigen Zug ohne Treibstoff zu jagen. Leider sind wir nicht in einer Fiktion. Nach einem Jahr Krieg ist nur der Tod am Horizont zu sehen. Hoffen wir, dass ein Frieden möglich wird, für den allerdings eine 180-Grad-Wende erforderlich ist.  •

Quelle: La Jornada vom 24.2.2023;
https://www.jornada.com.mx/notas/2023/02/24/politica/la-guerra-debilita-a-europa-frente-a-estados-unidos/?from=-page&block=politica&opt=articlelink

(Übersetzung Zeit-Fragen)



Marcos Roitman Rosenmann, geboren 1955 in Santiago de Chile, ist ein spanisch-chilenischer Soziologe und politischer Analyst. 1974 ging er ins Exil nach Spanien, wo er bis heute lebt. Er ist Professor für lateinamerikanische Sozialstruktur, zeitgenössische Sozialstruktur und spanische Sozialstruktur an der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie der Universidad Complutense Madrid. Als Gastdozent war er an verschiedenen Universitäten in Lateinamerika tätig, darunter in Ländern wie Mexiko, Chile, Ecuador, Venezuela, Argentinien, Brasilien, Peru, Kuba, Nicaragua, El Salvador, Honduras, Guatemala, Panama, Costa Rica und Bolivien. Er schreibt regelmässig für die in ganz Lateinamerika gelesene mexikanische Zeitung «La Jornada» und andere Zeitungen in Lateinamerika und Spanien.

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