Pünktlich zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine veröffentlichte das chinesische Aussenministerium seine Initiative zu einer politischen Lösung des Konflikts.1 Peking hat mit seinem geschickt formulierten und lancierten Friedensvorschlag seinen Anspruch auf Mitsprache in wichtigen Fragen der Weltpolitik angemeldet und fördert weiter seine Vision von einer multipolaren Welt, in welcher auch Russland seinen eigenen Platz finden müsse. Fern davon, sich von seinem russischen Partner zu einem ungünstigen Zeitpunkt in einen Konflikt hineinziehen zu lassen, ist China aber auch nicht bereit, diesen fallenzulassen.
In den ersten beiden Punkten erstellt Peking eine Auslegeordnung des Konflikts, indem es auf die im Widerspruch stehenden Normen hinweist, die von den Konfliktparteien angerufen werden. Die Ukraine beklagt seit Jahren die Verletzung ihrer territorialen Integrität durch die Annexion der Krim und nun auch der vier Oblaste Donezk, Luhansk, Zaporozhie und Kherson durch die Russische Föderation. Wenn die Volksrepublik China aber von territorialer Integrität spricht, dann hat sie in der Regel ihre eigene im Blick, das heisst ihren Anspruch auf die Insel Taiwan und auf Territorialgewässer im Ost- und im Südchinesischen Meer.
Um den Eindruck zu vermeiden, China lasse sich vom Westen vereinnahmen, verpackte das chinesische Aussenministerium in den ersten Absatz auch den Hinweis auf die souveräne Gleichheit der Staaten sowie seine Kritik an den Doppelstandards. Eine Verletzung des ersteren Prinzips wird namentlich von jenen Staaten kritisiert, die in der westlichen Unterstützung von sogenannten «farbigen Revolutionen» eine Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten erblicken. Der Vorwurf der Anwendung von Doppelstandards ist ein traditioneller Russlands und auch Chinas an den kollektiven Westen. Dieser erlaube sich selbst Dinge, die er bei seinen Kontrahenten nie und nimmer akzeptieren würde, frei nach der Devise quod licet Iovi, non licet bovi2. Das ist natürlich ein Frontalangriff auf jene Kreise im Westen, namentlich in den USA, die sich selbst eine Führungsrolle in der Weltpolitik zubilligen und einen Vorrang der demokratischen Staaten gegenüber allen anderen reklamieren.3
Auf der anderen Seite geht China auch auf die Klagen Russlands ein, das sich seit vielen Jahren über die Verletzung des Prinzips der Unteilbarkeit von Sicherheit beklagt. Dieses Prinzip sieht Moskau durch die verschiedenen Schritte der Nato-Ost-Erweiterung verletzt, die dazu geführt hätten, dass die ehemaligen Mitgliedsländer der Warschauer Vertragsorganisation und neuen Mitglieder der Nato ihre Sicherheit auf Kosten Russlands gewährleisten würden.
Realitätssinn Pekings
Im chinesischen Aussenministerium versteht man offenbar, dass die Ursachen des aktuellen Kriegs in der Ukraine zu komplex sind, als dass sie sich rasch durch ein Friedensabkommen lösen liessen. Durch den jahrelangen Krieg entstanden in den vergangenen neun Jahren zudem weitere Probleme. Die Forderung nach einem umfassenden Waffenstillstandsabkommen ist im Vergleich dazu erheblich realistischer. Natürlich wurde sofort der Vorwurf laut, Russland würde einen Waffenstillstand nur ausnutzen, um seine militärische Position zu verbessern. Die Ukrainer und ihre europäischen Verbündeten kennen sich in solchen Vorgehensweisen aber auch aus: Zumindest sind Vorwürfe, Frankreich, Deutschland und die Ukraine hätten die Minsker Abkommen nur geschlossen, um Zeit für die Vorbereitung einer militärischen Lösung des Konflikts zu gewinnen, bislang nicht überzeugend ausgeräumt.4 Auch in Peking wird man um die Problematik der Minsker Abkommen von 2014 und 2015 wissen, die reine Waffenstillstandsbestimmungen mit politischen Bestimmungen vermischten. Auf der anderen Seite ist zu erwarten, dass ein stabiler Waffenstillstand an einer wie immer gearteten Waffenstillstandslinie zur Zementierung des De-facto-Zustands führen wird, an welchem namentlich die Ukraine kein Interesse haben kann. Die Forderung nach der Wiederaufnahme politischer Gespräche im Punkt 4 des chinesischen Vorschlags bekräftigt den Realitätssinn Pekings.
Keine Rolle für den Westen
Den von Peking geforderten direkten Dialog zwischen der Ukraine und Russland lehnte bislang vor allem die Ukraine ab. Mit der entsprechenden Forderung im Punkt 3 des chinesischen Vorschlags macht Peking auch gleich klar, wem es im Friedensprozess keine Rolle zubilligt, nämlich dem kollektiven Westen. Das hat der ukrainische Präsident Selenski offenbar rasch verstanden, und er erklärte sofort seine Bereitschaft zu Gesprächen mit dem starken Mann Chinas, Präsident Xi Jinping.5
Ein durch den langjährigen Krieg neu hinzugekommenes Problem ist das humanitäre. Selbstverständlich werden die Ukraine und ihre europäischen Verbündeten diesen Punkt des chinesischen Friedensplans zu nutzen versuchen, um Russland an den Pranger zu stellen, aber es ist nicht zu erwarten, dass sich China hier instrumentalisieren lassen wird. In Peking wird man sich dessen bewusst sein, dass auch Russland diesen Punkt nutzen wird, um seine Vorwürfe an die Adresse der Ukraine auf den Tisch zu bringen.
Indem China im Punkt 8 seines Vorschlags seine Ablehnung der Drohung mit Kernwaffeneinsatz mit seiner Opposition gegen die Entwicklung von biologischen und chemischen Waffen verbindet, zeigt es, dass es sich auch hier nicht von einer der Seiten einseitig vereinnahmen lassen wird.
Offene Wege für alle
Der Hinweis auf die Black-Sea-Grain-Initiative zur Aufrechterhaltung der Getreidelieferungen aus der Ukraine deutet wohl darauf hin, dass Peking sich mit Ankara absprach, bevor es seinen Friedensplan initiierte. Die chinesische Führung nutzt diesen Punkt wohl auch, um bei den Staaten Afrikas und Asiens zu punkten.
Die Ablehnung unilateraler Sanktionen im Punkt 10 ist als ganz klare Kritik am kollektiven Westen zu interpretieren und stellt gleichzeitig eine bittere Pille für die Ukraine dar, die mangels anderer Handlungsoptionen am liebsten auf lange Frist möglichst scharfe Sanktionen gegen Russland aufrechterhalten möchte.6 Die Ukraine hat aber weder derzeit noch in absehbarer Zukunft das politische und wirtschaftliche Gewicht, um andere Staaten hierzu zu motivieren, geschweige denn, sie dazu zu zwingen. In Kiew wird man realistischerweise damit rechnen müssen, dass die wirtschaftlichen Interessen vieler Staaten irgendwann dazu führen werden, dass sie die Wirtschaftssanktionen gegen Russland nur noch formell aufrechterhalten, in Tat und Wahrheit aber inhaltlich aushöhlen. Zum Schluss fördert Peking noch seine eigenen wirtschaftlichen Interessen, namentlich seine Belt-and-Road-Initiative, im vollen Bewusstsein, dass es damit auch russische Interessen bedient, denn Russland misst seinem internationalen Nord-Süd-Transportkorridor eine hohe Bedeutung bei und hat kein Interesse an Blockaden irgendwelcher Art.
Pekings Entschlossenheit
Die reflexartig geäusserte Ablehnung des chinesischen, angeblich fragwürdigen Friedensplans wird wohl rasch einer realistischeren Beurteilung Platz machen müssen.7 US-Aussenminister Blinken bereitet sich offenbar schon auf eine Ochsentour vor, die ihn in mehrere Staaten Asiens führen wird, wo er um Unterstützung zugunsten eigener Pläne buhlen muss.8 Man wird den Amerikanern und Europäern wohl den Preis für eine politische Unterstützung machen.9 Als reiche Onkels mit dem gut gefüllten Scheckbuch werden die Aussenpolitiker aus dem Westen nicht mehr auftreten können: Diese Zeiten sind vorbei. Nun treten sie in der Rolle des lästigen Bittstellers auf. Andererseits ist Peking offenbar auch bereit, militärisch Druck aufzusetzen, um seinem Friedensplan zum Durchbruch zu verhelfen, wie die diversen Spekulationen um die Lieferung von Drohnen und Munition an Russland zeigen.10 Fragwürdig oder nicht: Peking wird seinem Friedensplan, der seinen Interessen dient, zum Erfolg verhelfen, und ukrainische Befindlichkeiten werden es hierbei nicht aufhalten.
Man wird in Kiew, Brüssel und Washington wohl nicht darum herumkommen, die chinesischen Vorschläge gründlich zu prüfen, zumal sie bereits die Unterstützung wichtiger Akteure der Weltpolitik fanden und möglicherweise mit einem weiteren wichtigen Akteur, der Türkei, abgesprochen sind. Der Westen, der bislang glaubte, durch Waffenlieferungen an die Ukraine einen Treiber der Entwicklung darzustellen, wird durch die chinesische Initiative zu einem Akteur unter mehreren, denn Peking will offenbar nicht zulassen, dass seine Vorschläge so einfach vom Tisch gewischt werden. Mit dem chinesischen Friedensvorschlag ist nun auch eine Tür offen für die Wahrung des Gesichts bei einem Kurswechsel in der westlichen Politik in Richtung Aufnahme von Gesprächen mit dem ungeliebten Wladimir Putin im Moskauer Kreml. •
1 siehe «China’s Position on the Political Settlement of the Ukraine Crisis», 24.2.2023, auf der Homepage des chinesischen Aussenministeriums, online unter https://www.fmprc.gov.cn/eng/zxxx_662805/202302/t20230224_11030713.html?spm=C98846262907.PT3RXyzGyJv6.0.0 (in engl. Sprache). Ein Kommentar dazu: «China calls for resuming peace talks to resolve Ukraine crisis», in: The New Times vom 25.2.2023, online unter https://www.newtimes.co.rw/article/5333/news/international/china-calls-for-resuming-peace-talks-to-resolve-ukraine-crisis
2 übersetzt: «Was Jupiter darf, ist einem Ochsen nicht erlaubt.» Siehe Deutscher Wortschatz, https://www.dwds.de/wb/quod%20licet%20Jovi%2C%20non%20licet%20bovi
3 Eine «Liga der Demokratien» wurde erstmals von den US-amerikanischen Journalisten Ivo Daalder und James Lindsay in der «Washington Post» vorgeschlagen. Siehe: «Democracies of the World, Unite», in: The American Interest Online, Januar-Februar 2007, online unter https://web.archive.org/web/20110521230314/http://www.the-american-interest.com/article.cfm?piece=220. Der Demokratiegipfel der Administration Biden ist in dieser Tradition zu verstehen. Siehe «The Summit for Democracy» auf der Homepage des United States Department of State, online unter https://www.state.gov/summit-for-democracy/. Zur Kritik daran: The Heritage Foundation. «The Summit for Democracy – American Leadership or Photo Op?», online unter https://www.heritage.org/global-politics/event/the-summit-democracy-american-leadership-or-photo-op.
4 vgl. Bosshard, Ralph, «Ein schlechter Friede ist besser als ein guter Krieg», in: Global Bridge vom 21.12.2022, online unter https://globalbridge.ch/ein-schlechter-friede-ist-besser-als-ein-guter-krieg/
5 siehe Hirwani, Peony, «Zelensky wants to meet Xi Jinping after Beijing’s peace plan», in: The Independent vom 25.2.2023, online unter https://www.independent.co.uk/news/world/europe/zelensky-xi-jinping-beijing-peace-plan-b2289365.html. Ghazanchyan Siranush, «Zelensky wants Xi Jinping meeting to discuss China’s peace plan», in: Public Radio of Armenia vom 25.2.2023, online unter https://en.armradio.am/2023/02/25/zelensky-wants-xi-jinping-meeting-to-discuss-chinas-peace-plan/
6 siehe «Kuleba on China’s peace plan: We disagree with at least one point», in: Interfax Ukraine, Ukraine News Agency vom 25.2.2023, online unter https://en.interfax.com.ua/news/general/893977.html
7 siehe Hlushchenko, Olha, «China’s peace plan beneficial only for Russia – Biden», in: Ukrainska Pravda vom 23.2.2023, online unter https://www.pravda.com.ua/eng/news/2023/02/25/7390952/ und Ash, Timothy, «China PR Peace Plan – Pros and Cons In a Nutshell», in: Kyiv Post vom 25.2.2023, online unter https://www.kyivpost.com/post/13524
8 siehe Lee, Matthew, «Anthony Blinken heads to Asia for key G20 talks as tensions mount with Russia and China», in: Independent.ie vom 25.2.2023, online unter https://www.independent.ie/world-news/north-america/anthony-blinken-heads-to-asia-for-key-g20-talks-as-tensions-mount-with-russia-and-china-42358841.html
9 Indien und Kasachstan haben schon Unterstützung für den chinesischen Plan signalisiert. Siehe «Willing to join ‹any peace process› to solve Ukraine war: PM Modi», in: The Hindu vom 25.2.2023, online unter https://www.thehindu.com/news/national/willing-to-join-any-peace-process-to-solve-ukraine-war-pm-modi/article66552455.ece und «Kazakhstan supports China’s peace plan for Ukraine crisis», in: AKIpress vom 25.2.2023, online unter https://akipress.com/news:695791:Kazakhstan_supports_China_s_peace_plan_for_Ukraine_crisis/
10. siehe Bertrand, Natasha, Cohen, Zachary, «Intelligence suggests China is considering sending drones and ammunition to Russia, sources familiar say», in: CNN Politics vom 24.2.2023, online unter https://edition.cnn.com/2023/02/24/politics/us-intelligence-china-drones-russia-ukraine/index.html#:~:text=CNN%20Store-,Intelligence%20suggests%20China%20is%20considering%20sending%20drones,to%20Russia%2C%20sources%20familiar%20say&text=The%20US%20has%20intelligence%20that,with%20the%20intelligence%20told%20CNN, und «Chinese company discusses selling drones to Russia, Der Spiegel reports», in: Reuters vom 24.2.2023, online unter https://www.reuters.com/business/aerospace-defense/chinese-company-discusses-sending-russia-drones-der-spiegel-2023-02-23/
Erstveröffentlichung: https://globalbridge.ch/peking-ergreift-die-initiative-im-ukraine-konflikt/ vom 27.2.2023;
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors
* Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee. Im Anschluss daran folgte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er unter anderem als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz tätig war.
1 Das «Übereinkommen über nukleare Sicherheit» oder Nukleare Sicherheitskonvention (eng. Convention on Nuclear Safety (CNS)) ist ein multilaterales Abkommen zur weltweiten Erhöhung der Sicherheit ziviler Kernkraftwerke. Das Übereinkommen wurde zwischen den Jahren 1992 und 1994 in mehreren Expertenrunden entwickelt und am 17. Juni 1994 in Wien verabschiedet. (Anm. d. Red.)
2 «Long-arm jurisdiction» (langfristige Zuständigkeit) ist die Fähigkeit lokaler Gerichte, die Zuständigkeit für ausländische Beklagte («ausländisch» bedeutet ausserhalb der Gerichtsbarkeit eines Staates) auszuüben. Diese Zuständigkeit erlaubt es einem Gericht, einen Fall gegen einen Beklagten zu verhandeln und ein verbindliches Urteil gegen einen Beklagten zu erlassen, der ausserhalb der betreffenden Gerichtsbarkeit ansässig ist. (Anm. d. Red.)
Quelle: https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/wjdt_665385/2649_665393/202302/t20230224_11030713.html
(Übersetzung aus dem englischen Zeit-Fragen)
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