Der Einbruch des Imperialismus in die arabische Halbinsel: ʿAbd ar-Raḥmān Munīfs Roman «Salzstädte»

von Johannes Irsiegler

Die Dienerschaft Saudi-Arabiens gegenüber den USA bildete über Jahrzehnte einen wichtigen Grundstein der Dominanz des US-Dollars und damit des US-Imperialismus. Erdöl durfte nur in Dollar abgerechnet werden, und so war die Nachfrage nach dieser Währung unerschöpflich. Nach fast 90 Jahren scheint nun aber die Ära des Petrodollars zu Ende zu gehen. Die Staaten der Arabischen Halbinsel beginnen neuerdings, selbstbewusster nach ihren eigenen Interessen zu handeln. Sie richten sich vermehrt nach Osten und nicht nur nach dem Westen aus und versuchen, wirtschaftliche Beziehungen mit verschiedenen Weltregionen zu intensivieren. Es ist nicht zufällig, dass der Neubeginn der Beziehungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, der wirtschaftliche Prosperität und Frieden bringen kann, mit Hilfe chinesischer und omanischer Diplomatie erreicht wurde.
  In dieser Situation lohnt es sich, auch den Anfang der Beziehung zwischen den Ländern der Arabischen Halbinsel und den USA zu beleuchten: den Einbruch des Imperialismus in die Arabische Halbinsel.
  Hierzu liegt ein sehr lesenswerter Roman des saudiarabischen Schriftstellers ʿAbd ar-Raḥmān Munīf (1933–2004) mit dem Titel «Salzstädte» vor, erstmals 1984 in arabischer Sprache publiziert. «Salzstädte» ist der erste ins Deutsche übersetzte Band einer Reihe von fünf Romanwerken mit dem gleichnamigen arabischen Gesamttitel «Mudun al-milḥ» («Salzstädte»). Dieser erste Band ist in westliche Sprachen übersetzt und so auch nicht arabisch sprechenden Lesern zugänglich. Munīf gilt als einer der bedeutendsten arabischen Romanschriftsteller und als eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Weltliteratur. Neben dem ägyptischen Literaturnobelpreisträger Naǧīb Maḥfūẓ wird er als einer der zwei Patriarchen der arabischen Literatur bezeichnet. Munīfs Popularität blieb aber auf den arabischen Raum beschränkt, und sein Werk wurde nur teilweise in europäische Sprachen übersetzt. Diese fehlende Resonanz im westlichen Sprachraum auf einen der renommiertesten arabischen Romanciers und bekanntesten Intellektuellen ist wohl nicht zufällig.
  In seinem Gesamtwerk deckt ʿAbd ar-Raḥmān Munīf die historischen Lügen auf, auf denen die Dynastie der Saʿūds ihre Legitimität aufgebaut hat, und zeichnet ein Porträt ihrer beständigen Unterwürfigkeit gegenüber den ausländischen Herrschern und ihrer Sabotage jeglicher wirtschaftlicher oder politischer Unabhängigkeitsbestrebungen im eigenen Land und in der arabischen Welt. Dabei geht er auch mit der Rolle des Westens bei der Unterdrückung jeglichen sozialen Fortschritts in der Region ins Gericht.

Vergebene Hoffnung
auf positive Wirkung der Ölindustrie

Der Autor sagt, es gehe ihm um «die langwierigen und schwierigen Geburtswehen bei der Entstehung der Ölindustrie auf der Arabischen Halbinsel […], und wie man sich erhofft hatte, dass diese Ressource […] der Zukunft kommender Generationen einen -positiven Ausblick verleihen würde».1 Es sollte leider anders kommen.
  Historisch steht am Anfang die Vergabe der Konzessionen für Erölbohrungen an die amerikanische Erdölfirma Standard Oil of California SOCAL im Mai 1933. Die amerikanische Firma hatte dem zu diesem Zeitpunkt sehr verschuldeten König Ibn Saʿūd mehr geboten als die britische Konkurrenz. Das enge Bündnis zwischen den saudischen Herrschern und den USA prägte in der Folge die weitere politische und wirtschaftliche Entwicklung, trug aber auch dazu bei, dass die Arabische Halbinsel kulturell und gesellschaftlich über Jahrzehnte rückständig blieb. Die Chancen, welche der Reichtum an Erdöl der Arabischen Halbinsel hätte bringen können, konnten wegen der Rückschrittlichkeit der regierenden Regime in den Erdölländern und wegen der Komplizenschaft der westlichen Länder und ihres Egoismus nicht für die Menschen genutzt werden.
  Inhaltlich erzählt Munīf die Geschichte aus Sicht der einfachen Menschen, die einem traumatischen sozialen Prozess ausgeliefert sind, der die Gesellschaft der Arabischen Halbinsel als Folge der Erdölfunde erschüttert. Die alten Stammesstrukturen werden mit Panzern und Geheimpolizei zerstört, gigantische Korruption findet sich mit politischer Unterdrückung zusammen, extremes Konsumverhalten verschmilzt mit Bigotterie und Heuchelei. Zum Titel in einem Interview befragt, erläutert Munīf: «Salzstädte sind Städte, die keine nachhaltige Existenz bieten. Wenn das Wasser kommt, werden die ersten Wellen das Salz abtragen und diese grossen Glasstädte zu Staub zerfallen lassen. In der Antike sind, wie Sie wissen, viele Städte einfach verschwunden. Es ist möglich, den Untergang von Städten, die unmenschlich sind, vorherzusehen.»2 Der Handlungszeitraum des ersten Bandes lässt sich konkret zwischen 1933, dem Zeitpunkt der erstmaligen Entdeckung von Öl in der arabischen Oase ʿAin Dār, bis 1953, den Streikereignissen in der arabischen Hafenstadt Ẓahrān festlegen. Dennoch hat der Roman etwas Zeitloses und Allgemeingültiges.

Tradition der arabischen Geschichtenerzähler

Munīf verzichtet auf eine einzige Hauptperson und nimmt den Leser in ein Nebeneinander von einzelnen Lebensschicksalen mit, die alle einen Bezug zueinander haben. Damit steht er in der Tradition der arabischen Geschichtenerzähler. Themen wie der Einbruch der Moderne und der Technik in eine vormoderne Kultur, kulturelle Entwurzelung und kulturelle Hegemonie sowie die Etablierung des autoritären Prinzips in den Beziehungen stellt Munīf exemplarisch am Leben der Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft dar, die durch die Entdeckung des Öls in ihren Grundfesten erschüttert wird.
  «Salzstädte» beginnt in einer Oase inmitten der arabischen Wüste, in welcher eine beduinische Gemeinschaft ein traditionelles Leben im Einklang mit ihrer Umgebung führt. Es ist ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die den Bewohnern das Gefühl von Stärke und Sicherheit verleiht. Jahre des Überflusses wechseln mit Jahren der Not. Doch die Bewohner des Wādī trotzen den schweren Bedingungen, die ihnen die Natur abverlangt, und führen ein zufriedenes Leben, weil sie eine Gemeinschaft sind, in der sich die Einzelnen unterstützen. Plötzlich aber tauchen Fremde in der Oase auf, und das Leben ihrer Bewohner wird sich grundlegend verändern. Was wollen die Fremden, Christen, die noch dazu arabisch sprechen? Sie geben an, nach Wasser zu suchen. Das stimmt die Bewohner misstrauisch. «Sie waren den ganzen Tag geschäftig, suchten die entlegendsten Orte auf, sammelten die abwegigsten Dinge und verwendeten Geräte aus Eisen, von denen kein Mensch wusste, wozu sie gut sein sollten. Wenn sie abends zurückkehrten, schleppten sie Säcke voller Sand und Steine mit sich. […] Doch damit nicht genug, an vielen Stellen steckten sie Markierungen aus Holz oder Metall in den Boden, beschrifteten sie und kritzelten etwas in ihre Hefte, die sie ständig mit sich führten.»3 Die Beduinen wissen nicht, dass sie es mit amerikanischen Forschern zu tun haben, die nach Öl suchen. Das Fremde bricht mit voller Wucht in das Leben der Menschen ein: «Binnen weniger Tage veränderte sich alles in Wādī al-Ujun: die Menschen, die Natur und die Tiere. Denn kaum waren der Ausländer, seine Helfer und seine Begleiter im Wādī angekommen, da folgten ihnen einige Tage später bereits unzählige nach. Menschen aller Hautfarben und unterschiedlichsten Körperbaus: kleine dicke Rotschöpfe, Grosse, die mühelos jede Frucht direkt vom Baum hätten pflücken können, Schwarze, so dunkel wie die Nacht, Blonde und Rothaarige, deren Aussehen einen das Fürchten lehren konnte mit ihren blauen Augen und einer Haut, so rot wie ein gehäuteter Hammel.»4 Der Rhythmus des Lebens verändert sich. Die Menschen in der Oase haben derartiges noch nie gesehen. Ein Camp wird gebaut, Zäune aus Draht werden gezogen, Maschinen donnern und versetzen alle Bewohner in Angst und Schrecken.

Keine Rücksicht auf die Einheimischen

Die Ausländer nehmen keine Rücksicht auf die Sitten der Einheimischen. Als letztere sich schliesslich bei ihrem Emir beschweren, stellt sich heraus, dass dieser mit den Amerikanern Geschäfte gemacht hat. Den Bewohnern der Oase geht es letztendlich um ihre Freiheit, sie wollen keinen, der ihnen sagt, was sie zu tun und zu lassen haben. Der Emir aber hat dafür kein Gehör mehr. Er hat sich an die Ausländer verkauft und vertritt nicht mehr die Interessen seines eigenen Stammes. Gelockt wurde er mit dem Versprechen von Reichtum und Macht, gegeben wurden ihm schliesslich ein Radio, ein Telefon und ein Fernrohr, mit dem er den ganzen Tag halbnackte amerikanische Frauen auf einem ihrer Schiffe vor der Küste anschauen kann. Ausdrucksstark beschreibt Munīf die Zerstörung der Oase, wie die Maschinen «wie hungrige Wölfe auf die Palmen und Feigenbäume stürzten, sie zu zerreissen begannen und sie, einen nach dem anderen, zu Boden warfen. Wie sie danach den Boden platt walzten und die Bewässerungsgräben zuschütteten. […] Die Bäume neigten sich und taumelten, ehe sie zu Boden fielen, sie schrien, klagten verzweifelt, stiessen einen letzten schmerzlichen Ruf aus. Sie stürzten herab, streckten flehentlich die Arme aus, als protestierten sie.»5 Es ist ein Gemetzel, das erst endet, als alles vernichtet ist.

Vertreibung aus dem Paradies

Die Oase ist zerstört und damit die Lebensgrundlage ihrer Bewohner. Die Quelle ihres Lebens muss einer Ölförderanlage weichen. Die einst stolzen Bewohner werden aus ihrem Paradies vertrieben und ziehen ziellos dahin. Ihr Schicksal ist Verzweiflung, Krankheit und sogar der Tod. Denjenigen, die bleiben, um sich als Arbeiter im neu errichteten Camp zu verdingen, ergeht es nicht besser. Sie leben zusammengedrängt in Zelten und Baracken. Die einst freien Menschen werden zu Arbeitssklaven degradiert.
  Ein Teil der arbeitsfähigen Bewohner zieht auf Arbeitssuche in den Küstenort Ḥarrān, der von den amerikanischen Besatzern als Ölhafen vorgesehen wird. Hier beginnt ein neuer Erzählstrang. Auch hier bricht der Imperialismus in Form der Ölindustrie über die Bewohner herein. Ihre Häuser werden abgerissen und machen einem Camp Platz. Die Bewohner werden auf einem benachbarten Hügel in Zelten untergebracht. Ihren wertvollsten Besitz, ihre Kamele und Hengste, müssen sie verkaufen. Autoritäres Denken und Handeln beginnen, immer mehr Raum einzunehmen, sichtbar vor allem in der Beziehung zwischen den Amerikanern und den Arabern. Die Araber sind die neuen Sklaven der Amerikaner. Die Amerikaner sind die Herren, sie zwingen die Araber zur harten Arbeit, sie missachten und verspotten sie. Aus aller Welt werden nun Arbeitssklaven angeheuert, die für jeden Hungerlohn arbeiten. Sie werden in die Camps eingesperrt, die mit Stacheldraht gesichert sind. Ihnen werden Fingerabdrücke abgenommen. Es besteht kein direkter Kontakt mehr zwischen den Amerikanern und den Arbeitern. Alles läuft über die sogenannte Personalverwaltung, das heisst, über arabische Kollaborateure der Amerikaner und des korrumpierten Emirs.

Gemeinschaft von Gleichen durch Macht zerfressen

Äusserst bewegend schildert der Autor die Schicksale einzelner Menschen, die ihr Glück in Ḥarrān suchen. Munīf gelingt es dabei meisterhaft, im Leser Mitgefühl für die verlorenen Existenzen an diesem unbarmherzigen Ort zu wecken. Der Leser kann die Vorgänge aus der Sicht dieser Menschen nachvollziehen und lebt so ganz mit ihnen mit. Das macht diesen Roman so wertvoll. Er erlaubt dem Leser die Perspektive dieser Menschen ein- und sie als Mitmenschen wahrzunehmen. Der Leser fiebert mit den offensichtlichen Verlierern der sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse, aber auch mit den vermeintlichen Gewinnern. In der zunehmend kapitalistischen Gesellschaft geht das Wertvollste verloren, was das alte Stammesverhältnis der Araber prägte, nämlich das Gefühl, einer Gemeinschaft von Gleichen anzugehören. Es macht einer Klassengesellschaft Platz, in der alle Beziehungen von Macht durchzogen und schliesslich zerfressen werden. Das zutiefst autoritäre und rassistische amerikanische Modell des Oben und Unten kann sich aber nicht gänzlich durchsetzen, da es dem kulturellen Empfinden dieser Menschen widerspricht – und auch der menschlichen Natur. Am Ende revoltieren die Arbeiter. Der friedliche Protest wird aber mit Hilfe der Amerikaner blutig niedergeschlagen. Der Emir verfällt in einen Wahn und wird an einen unbekannten Ort gebracht.
  Munīfs Roman stärkt das Mitgefühl mit diesen Menschen. Es geht ihm aber noch um mehr. Er bemerkt an anderer Stelle: «Am Ende des 20. Jahrhunderts, nachdem die Vereinigten Staaten die Mehrheit der Ressourcen der Welt unter ihrer Kontrolle haben, wollen sie nun auch über den Intellekt und die Gedanken verfügen und sie kontrollieren.»6 Das Buch ist deshalb auch Zeugnis eines Intellektuellen, der das Problem der Hegemonie in all seinen Facetten verstanden und beleuchtet hat und klar gegen das Hegemonialstreben der westlichen Mächte Stellung bezieht. Ein in jeder Hinsicht sehr lesenswertes Buch. Es ist in deutscher Sprache momentan nur antiquarisch erhältlich.  •



1 Munīf, ʿAbd ar-Raḥmān. Baina aṯ-ṯaqāfa wa-s-siyāsa (Zwischen Kultur und Politik). Casablanca: Al-markaz aṯ-ṯaqāfī al-ʿarabī. 1998, S. 133 (eigene Übersetzung)
2 Ali, Tarik. «Exile and the Kingdom». In: The Nation vom 1.3.2004. (2004), S. 34
3 Munīf, ʿA., Salzstädte (2003), S. 32
4 ebenda, S. 65
5 ebenda, S. 99
6 Munīf, ʿAbd ar-Raḥmān. Baina aṯ-ṯaqāfa wa-s-siyāsa (Zwischen Kultur und Politik). Casablanca: Al-markaz aṯ-ṯaqāfī al-ʿarabī. 1998, S. 6/7 (eigene Übersetzung)

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