ev. «Ihr kapiert es einfach nicht», formulierte der Politikwissenschaftler, Diplomat und Professor an der National University of Singapore, Kishore Mahbubani, vor ein paar Jahren in der «Zeit»: Der Westen begreife nicht, dass sich die Welt im 21. Jahrhundert grundlegend verändere – und schon verändert hat. Noch immer halten Washington und seine transatlantischen Anhänger an der Vorstellung fest, ihre Hegemonie zu erhalten. Kluge Politik wäre demgegenüber, so Mahbubani – durchaus als Freund des Westens – in weiteren Schriften, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, sich darauf einzustellen und den Übergang zu einer multipolaren Welt so zu gestalten, dass er für die eigenen Bevölkerungen nicht traumatisch wird, sondern möglichst zum Vorteil gereicht.
Derzeit scheint der Westen davon noch weit entfernt. Wir nehmen die Entwicklungen nicht wirklich zur Kenntnis. Die Arroganz hegemonialer Ansprüche scheint den Blick auf die Realität, die Vorgänge und Entwicklungen in anderen Weltregionen zu verstellen. Zum Beispiel in Indien. Der nachfolgende Auszug aus einem Gespräch mit dem indischen Aussenminister, Subrahmanyam Jaishankar, vermittelt einen kleinen Eindruck davon, was im Gange ist. Hier begegnet einem ein neues, selbstbewusstes Indien, das sich von niemandem vorschreiben lassen will, wie es sich in der Welt positioniert. Ein Indien, welches das westliche Konstrukt von «the West and the Rest», des «Gartens» versus den «Dschungel» (Josep Borrell), «Demokratie» versus «Autokratie» als hegemonialen Anspruch des Westens, sich auf seine, auf die «richtige Seite» stellen zu müssen, ablehnt und seinen eigenen Weg gehen will und geht.
Im Rahmen einer mehrtägigen Reise in mittel- und osteuropäische Staaten stellte sich der indische Aussenminister Subrahmanyam Jaishankar am 3. Juni 2022 auf dem GLOBSEC 2022 in Bratislava (siehe Kasten) Fragen von Moderatorin und Publikum. Nachfolgend die leicht gekürzten und für die Lesbarkeit bearbeiteten Aussagen.
Auf die einleitende Frage der Moderatorin, ein Bild der derzeitigen Situation Indiens zu skizzieren – sie spricht den Ukraine-Krieg an, der nun nicht mehr nur Europa und den Westen beschäftige, sondern auch «in den Rest der Welt einsickere», zudem nennt sie die Stichworte Covid, Indiens Verhältnis zu China, die wirtschaftliche Situation in schwierigen Zeiten – äussert sich der indische Aussenminister wie folgt, zuerst zu Covid:
Enorme Entwicklungsschritte
«Ja, wir haben Covid weitgehend überwunden, mit einem starken Gefühl des wirtschaftlichen Aufschwungs. Es herrscht eine Menge Optimismus, nicht nur in bezug auf den Wiederaufbau, sondern über den faktischen Sprung nach vorne [er verwendet den Begriff leapfrogging, ein Begriff für einen wirtschaftlichen Sprung über mehrere Entwicklungsschritte hinweg] in vielen Bereichen, insbesondere im digitalen Bereich.
Ich denke, wir sind sehr umsichtig damit [Covid] umgegangen, ich bin fast versucht zu sagen, klug im Hinblick auf die finanziellen Reaktionen, was bedeutet, dass wir die [Zentral-] Bank [die RBI Reserve Bank of India] nicht zerstört haben, indem wir dort interveniert haben, wo wir mussten, und zwar sehr effektiv.
Derzeit hat die Modi-Regierung gerade acht Jahre Amtszeit hinter sich, und was wir in diesen acht Jahren getan haben, ist wirklich der Aufbau einer, ich würde sagen, sozialen Wohlfahrtsgesellschaft mit einer Geschwindigkeit und in einem Ausmass, das die Welt noch nicht gesehen hat.
In gewisser Weise hat Covid das sogar beschleunigt. Zum Beispiel geben wir 800 Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe, und das tun wir seit mehr als zwei Jahren – das ist so viel wie für die Bevölkerung der USA und der EU zusammen.
Wir haben ein öffentlich gefördertes Wohneigentumsprogramm, das etwa 115 Millionen Begünstigte umfasst, das ist fast so, als würde man Häuser für Japan bauen.
Oder auch, wenn man sich das Programm anschaut, mit dem das Kochen mit Brennholz ersetzt wird durch Kochen mit Gas, das 80 Millionen Menschen betrifft, das ist so, als würde man Deutschlands Küchen in einem Zeitraum von ein paar Jahren verändern.
Also da ist vieles im Gange, und warum ich das erwähnt habe, ist, weil viele der globalen Entwicklungen heute das Potential haben, das [diese Entwicklung] tatsächlich unter Druck zu setzen.
Auf der Welt geschehen Dinge, denen
Europa zu wenig Aufmerksamkeit schenkt
Ihr zweiter Hinweis war China. Ja, wir gehen durch eine besonders schwierige Phase in unseren Beziehungen zu China. Wir hatten in der Vergangenheit Differenzen, aber wir hatten seit 1962 noch nie eine Situation, in der Vereinbarungen darüber, keine Truppen an die Grenze zu bringen, tatsächlich miss-achtet wurden.1
Eine grosse Anzahl Truppen wurden an die Grenze verlegt. Wir hatten einen Zusammenstoss, bei dem Menschen gestorben sind. Das ist allerdings nicht jetzt passiert, sondern vor zwei Jahren. Deshalb ist das [das Ansprechen dieser Ereignisse heute] in gewissem Sinne ein Ablenkungsmanöver. Aber es ist auch eine gute Erinnerung für Europa, dass im Rest der Welt andere Dinge passieren, denen Europa manchmal vielleicht nicht genug Aufmerksamkeit schenkt.
Und da war auch Afghanistan, Sie wissen, was dort geschah, die Umstände, unter denen die westlichen, insbesondere amerikanischen Truppen schliesslich abzogen.
Und nun haben wird die Ukraine. Und wenn wir zur Region hier kommen [die mittel- und osteuropäischen Länder], so ist das eine Region, die ich gut kenne, ich habe hier gelebt – in Budapest und Prag. Es ist eine Region, die sehr hilfreich war für uns, als wir 20 000 Studenten wollten aus der Ukraine, aus der Slowakei, aus Ungarn, Polen, Rumänien, sogar Moldawien.
Aber ich denke, es ist auch wichtig für die Menschen in dieser Region zu realisieren, wie sich dies [der Krieg in der Ukraine] auf den Rest der Welt auswirkt, dass das eine riesige Treibstoffkrise, eine Nahrungsmittelkrise, eine Düngemittelkrise geschaffen hat und die Inflation antreibt in Gesellschaften mit niedrigem Einkommen, die nicht über die Margen verfügen, um diese Entwicklung aufzufangen. Und so kann es in vielen Gesellschaften sehr schnell politisch werden.»
Im Namen eines Online-Zuschauers folgt die Frage, wieweit sich die Bevölkerung – abgesehen von Benzin und Nahrungsmittelengpässen – für den Krieg in der Ukraine interessiere.
S. Jaishankar: «Ich denke, dass es eine grosse Sorge ist, ein grosses Anliegen, aus zwei Gründen. Sehen Sie, heute ist unsere Existenz sehr vernetzt, und jeder sieht Dinge im Fernsehen, auf seinen Handys, im Netz, wo auch immer man ist. Und man muss bedenken, dass Indien heute eine sehr digitale Gesellschaft ist, selbst Menschen auf niedrigeren Einkommensstufen – das eine, was sie haben, ist die Konnektivität [also Internetzugang]. Daher besteht ein hohes Mass an Bewusstsein.
Ich glaube, jedermann ist, um es milde auszudrücken, über den Konflikt beunruhigt. Ich denke, man sieht die Bilder, man sieht, was passiert. Andererseits hat das begonnen, sich auf das tägliche Leben der Menschen auszuwirken: Entweder wirkt es sich auf die Benzinkosten aus oder bei der Bank, es hat Auswirkungen auf die Weizenkosten, wenn man einkaufen geht. Es hat Auswirkungen darauf, ob die Landwirte mit der Aussaat auskommen. Und wenn es Unternehmen betrifft, auf die es sich in vielerlei Hinsicht auswirkt – wie Sie wissen, besteht ein Containerproblem, es gibt ein Versicherungsproblem, bestimmte Güter sind nicht erhältlich, und wenn man sie bekommt, sind die Preise gestiegen – so bedeutet das, dass das Leben unterbrochen wird. Und es [die Situation in der Ukraine] ist nicht die einzige Ursache der Unterbrechung. Gleichzeitig, denke ich, haben auch einige der Lockdowns in China wirtschaftliche Auswirkungen. Aber wenn man die Wirtschaft zum Erliegen bringt, zeigt sich das in der Beschäftigung – also denke ich, das macht den Menschen zu schaffen.»
Alle Länder haben ein Recht,
für das Wohlergehen ihrer Bevölkerung zu sorgen
Die nächste Frage kreist um die Kritik am Anstieg indischer Ölimporte aus Russland zu günstigen Preisen und darum, wie Indien neunmal höhere Ölimporte zwischen 2021 und 2022 mit der Blockfreiheit in der Aussenpolitik in Einklang bringen könne.
S. Jaishankar: «Nun, zunächst einmal sehe ich – ehrlich gesagt – überhaupt keinen Zusammenhang zwischen Blockfreiheit und Öl. Ich meine, heute kauft Europa Öl, Europa kauft Gas, ich habe gerade den neuen Teil des neuen Sanktionspakets [der EU] gelesen. Das Paket ist jetzt so konzipiert, dass das Wohlergehen der [europäischen] Bevölkerung berücksichtigt wurde. So haben die Pipelines einen gewissen Carve-out [bei dem Unternehmensteile ausgelagert werden], und es wurden Zeitpläne festgelegt. Es ist nicht so, dass morgen früh alles abgestellt wird. Die Menschen müssen verstehen, dass man, wenn man auf sich selbst Rücksicht nehmen kann, sicher auch auf andere Völker Rücksicht nehmen kann.
Wenn also Europa sagt, wir müssen das so handhaben, dass die Auswirkungen auf unsere Wirtschaft nicht traumatisch sind, dann sollte diese Freiheit oder diese Wahlmöglichkeit auch für andere Menschen bestehen. Nun zu unseren Öleinkäufen: Wir schicken keine Leute raus, die sagen, kauft russisches Öl, wir schicken Leute raus, die sagen, kauft Öl. Nun, man kauft das beste Öl, das es auf dem Markt gibt. – Ich denke nicht, dass damit eine politische Botschaft verbunden ist.»
An dieser Stelle unterbricht die Moderatorin mit dem Einwand, wie das gehen solle, die beiden Aspekte nicht in einen Zusammenhang zu bringen. Indien habe starke Beziehungen zu Russland, aber eben auch Probleme mit China, und dann wörtlich: «Wie kann man sich dann zurücklehnen und die indische Aussenpolitik so definieren – zu einem Zeitpunkt, in dem der Westen ziemlich vehement dabei ist zu versuchen, die Finanzierung des Krieges [von seiten Russlands] in der Ukraine einzuschränken, wohingegen Indien, das Öl aus nationalem Interesse kauft, gefragt wird: ‹Finanziert ihr diesen Krieg?›»
S. Jaishankar: «Ich will nicht argumentativ klingen, aber sagen Sie mir: Der Kauf von russischem Gas finanziert den Krieg nicht? Warum ist es nur indisches Geld und das Öl, das nach Indien kommt, das [den Krieg] finanziert, nicht aber Gas, das nach Europa kommt? Ich meine, lassen Sie uns hier ein wenig ausgewogener sein.
Und wissen Sie, das ganze Narrativ von neunmal mehr [Ölimporten]. Das ist neunmal mehr von einer sehr tiefen Basis aus, die Grundmenge war sehr gering, denn damals waren die Märkte offener. Sie wissen warum. Wenn die Länder Europas, des Westens und die Vereinigten Staaten besorgt sind, warum erlauben sie dann nicht, dass iranisches Öl auf den Markt kommt? Warum erlauben sie nicht, dass venezolanisches Öl auf den Markt kommt? Ich meine, sie haben jede andere Ölquelle, die wir haben, abgewürgt, und dann sagen sie: ‹Okay, Jungs, ihr müsst nicht auf den Markt gehen und den besten Handel für euer Volk suchen.› Ich denke, das ist keine sehr faire Herangehensweise.»
Weizenexport-Stopp:
Massnahmen gegen Preisspekulation auf Kosten der Armen
Angesprochen auf die indischen Exportverbote für Weizen und Lebensmittel als weitere westliche Kritik an der indischen Aussenpolitik – ob das [a] nicht auch die Schwächsten im globalen Süden und Osten unter Druck setze und ob Indien das als Unterstützung Russlands sehe oder ob es [b] um ein anderes Element gehe, das «wir im Westen nicht verstehen, dass ihre Perspektive eine andere ist?»
S. Jaishankar: «Ich denke, die Antwort ist b): Sie verstehen im Westen nicht. Aber es ist nicht nur der Westen, nicht wahr. Ich denke, die Leute verstehen das nicht, weil sie den Handel nicht wirklich verfolgen. Wir haben Weizen exportiert, gut. Normalerweise exportieren wir etwa zwei bis drei Millionen Tonnen. Im letzten Jahr – das letzte Finanzjahr war ein besseres Jahr – exportierten wir etwa 7 Millionen Tonnen. In diesem Jahr, bevor uns die Hitzewelle sehr schwer traf, bestand die Erwartung, dass wir substantielle Exporte liefern könnten, wir waren offen dafür. Tatsächlich hat der Premierminister selbst bei verschiedenen Anlässen gesagt, wir sehen, dass eine Nahrungsmittelkrise besteht in der Welt, und wir würden gerne helfen. Aber was wir dann sahen, war eine Art Run auf unseren Weizen, der zu einem grossen Teil von internationalen Händlern mit Sitz in Singapur und, wie ich glaube, zum Teil wahrscheinlich auch in Dubai durchgeführt wurde. Das Ergebnis war, dass die einkommensschwachen Länder, von denen viele unsere traditionellen Käufer sind, zum Beispiel unsere Nachbarn Bangladesch, Sri Lanka und Nepal, [verdrängt wurden]. Interessanterweise kauft die Golf-Region regelmässig bei uns ein. Der Jemen kauft bei uns, der Sudan kauft bei uns – wir sahen, dass die einkommensschwachen Käufer verdrängt wurden. Das Getreide wurde für den Handel gelagert, so dass unser guter Wille missbraucht wurde für Spekulationen. Daher mussten wir etwas tun, um das zu verhindern, weil es auch Auswirkungen auf uns zu Hause hatte. Unsere Preise stiegen. Ich möchte ganz klar sagen, was wir getan haben: Wir haben eigentlich gesagt, dass wir den Spekulanten keinen offenen Zugang zum indischen Markt geben werden, womit der indische Kunde und die am wenigsten entwickelten Länder der Welt das Nachsehen haben. Wofür wir nach wie vor offen sind, ist, ein Land, das es sozusagen verdient und das Weizen braucht, zu beliefern – wir sind froh, das im Rahmen unserer Möglichkeiten zu tun. Und nur um das festzuhalten: Ich glaube, wir haben in diesem Jahr in etwa 23 Länder exportiert. Wenn ich den gleichen Zeitraum nehme, war meinem ungefähren Gefühl nach die Exportrate in diesem Jahr etwa vervierfacht, also ist sie tatsächlich gestiegen. Ich kenne viele Fälle, in denen Aussenminister von Ländern angerufen haben und wir ihnen versichert haben, dass sie Zugang zu einem Markt haben würden.»
Die Moderatorin fragt nach: «Also es geht nur um das Stoppen und Einschränken von Spekulation.»
S. Jaishankar: «Das ist richtig – und darum, eine Umleitung in einkommensstarke Länder zu verhindern, die eine grössere Kaufmöglichkeit haben. Denn das, was wir bei den Impfungen erlebt haben, wollten wir mit dem Weizen nicht erleben – dass reiche Bevölkerungen geimpft wurden und die Armen Gott überlassen wurden.»
Es folgt eine Frage aus dem Online-Publikum: «Laut ‹Wall Street Journal› wird Indien zu einem wichtigen Umschlagplatz für russisches Öl, um die Sanktionen der USA zu umgehen. Was bedeutet das für Indiens aussenpolitische Interessen?»
S. Jaishankar: «Ich weiss nicht, ob derjenige, der das geschrieben hat, weiss, was Güterumschlag bedeutet. Ich meine, Güterumschlag bedeutet, dass man etwas bekommt und dann an jemand anderen verkauft. Ich habe noch nicht einmal gehört, dass jemand in Indien in diese Richtung denkt, ja, wir kaufen …»
Die Moderatorin wendet ein: «Damit sagen Sie, dass der hier zitierte Bericht des ‹Wall Street Journal› ungenau ist.»
S. Jaishankar: «Höflich gesagt, ja. Ich könnte es weniger höflich sagen, aber …»
Die Moderatorin daraufhin: «Kein Kanal für russische Ölgeschäfte …»
S. Jaishankar: «Nein. Hören Sie – bitte verstehen Sie die Ölmärkte. Es gibt eine enorme Ölknappheit. Es gibt eine reale Ölknappheit. Der Zugang zu Öl ist schwierig. Ein Land wie Indien wäre verrückt, wenn es Öl von jemandem bekommen und es an jemand anderen verkaufen würde. Ich meine, das ist Unsinn.»
Ein freiberuflicher Journalist aus Litauen will wissen, wie Indien im Konflikt mit China auf globale Unterstützung zählen und glauben könne, andere würden Indien noch vertrauen, nachdem es Russland nicht verurteilt und keine Sanktionen ergriffen habe.
S. Jaishankar: «Wissen Sie, das ist eine interessante Frage, die Sie vielleicht, ich meine nicht Sie persönlich, aber die Leute sich selbst stellen sollten. Wenn ich Europa als Ganzes betrachte, das zu vielen Dingen, die zum Beispiel in Asien geschahen, ausserordentlich schweigsam war, könnte man fragen, warum irgend jemand in Asien Europa überhaupt vertrauen sollte.
Kurzum: In erster Linie glaube ich, dass Sie unsere Position falsch darstellen. Als zum Beispiel Butscha geschah, haben wir Butscha verurteilt und eine Untersuchung zu Butscha gefordert. Was den Ukraine-Konflikt betrifft, so vertreten wir ganz klar den Standpunkt, dass wir eine sofortige Einstellung der Feindseligkeiten befürworten – es ist nicht so, dass wir ihn ignoriert hätten, es sei denn, Sie bezeichnen Telefonate mit Putin und Selenski als Ignorieren von etwas. Daher möchte ich Sie erstens dazu auffordern, sich die tatsächliche Position genau zu vergegenwärtigen.
Und zum zweiten, was die Verbindung, die Sie herstellen, betrifft: Sie wissen, dass wir ein schwieriges Verhältnis zu China haben. Wir sind absolut in der Lage, es zu handhaben. Wenn ich weltweites Verständnis und Unterstützung erhalte, ist das natürlich hilfreich für mich. Aber diese Idee, dass ich eine Transaktion durchführe [ein Geschäft abwickle], dass ich in einen Konflikt eintrete, weil es mir auch in einem Konflikt helfen wird – so funktioniert die Welt nicht. Viele unserer Probleme mit China haben nichts mit der Ukraine zu tun, sie haben nichts mit Russland zu tun, sie waren schon vorher da. Und wenn wir uns damit befassen, wer zu welchem Zeitpunkt zu welchem Thema geschwiegen hat, könnte ich auf eine ganze Reihe von Problemen hinweisen, wo Europa für sich geschaut hat. Ich meine, es ist ein grossartig polemisches Argument, das Sie vorgebracht haben. Ich verstehe es in diesem Sinne.»
Es sei, fährt die Moderatorin fort, eine Kernfrage aus westlichen Polit- und Finanzkreisen, auf welche Seite sich Indien im Konflikt zwischen USA und China stellen werde, sollte dereinst eine solche Entscheidung anstehen.
S. Jaishankar: «Erstens – und ich reagiere zum Teil auf die vorangegangene Beobachtung: Irgendwo muss Europa aus der Denkweise herauswachsen, dass die Probleme Europas die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas sind – [nach dem Motto:] Wenn du (die übrige Welt) es bist, ist es deins. Wenn ich (Europa) es bin, ist es unseres. Ich sehe Reflexionen davon auch in der Art, wie da eine Verbindung hergestellt wird zwischen China und Indien und den Ereignissen in der Ukraine. Also kommt schon, Leute, China und Indien gab es schon lange vor den Ereignissen in der Ukraine. Also brauchen die Chinesen niemanden irgendwo auf der Welt, der ihnen sagt, wie sie sich mit uns auseinandersetzen sollen oder nicht auseinandersetzen sollen, ob sie uns Schwierigkeiten machen sollen oder nicht. Ich sehe das als ein – ehrlich gesagt – nicht sehr kluges Argument, als ein sehr eigennütziges. Und zu dieser Idee, dass es bei der grossen Strategie darum gehen müsse zu wissen, wie man entscheiden werde: Ich (Indien) werde tun, was alle von uns tun. Ich werde die Situation abwägen, wie jeder. Wie treffen Länder letztendlich Entscheidungen?»
Indien schliesst sich keiner «Achse» an –
es geht seinen eigenen Weg
Die Moderatorin daraufhin nochmals: «Es wird immer zwei Achsen geben. Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass wir den Westen haben, geführt von den USA, und wir haben China als nächsten potentiellen Zugang. Wo passt Indien da hinein. Planen Sie, das nicht zu tun …»
S. Jaishankar: «Nein, tut mir leid, das ist genau der Punkt, an dem ich mit Ihnen nicht übereinstimme, das ist das Konstrukt, das Sie mir aufzwingen wollen, und ich akzeptiere es nicht. Ich denke nicht, dass es für mich notwendig ist, mich der einen Achse anzuschliessen oder nicht, und wenn ich mich dieser nicht anschliesse, muss ich mich der anderen anschliessen. Ich akzeptiere das nicht. Ich denke, ich bin ein Fünftel der Weltbevölkerung. Ich [und hier spricht er natürlich für Indien, mit dem er sich identifiziert] bin heute die fünft- oder sechstgrösste Wirtschaft der Welt, ich meine, die Geschichte der Zivilisation müssen wir gar nicht erwähnen, jeder weiss das, aber ich denke, ich habe das Recht, meine eigene Seite zu haben, ich habe das Recht, meine eigenen Interessen abzuwägen, meine eigenen Entscheidungen zu treffen – und meine Entscheidungen werden nicht zynisch und transaktional sein,2 sondern sie werden ein Gleichgewicht zwischen meinen Werten und meinen Interessen sein. Es gibt kein Land auf der Welt, das seine Interessen vernachlässigt.»
Nicht Blockdenken –
Lösungen braucht die Welt
Da die Moderatorin erneut nachhakt, dass Indien sich doch positionieren müsse, wenn es eine Rolle spielen wolle in der Welt, Blockfreiheit sei «nicht plausibel, wenn man eine Position auf der Weltbühne einnehmen» wolle, Abseitsstehen, «auf dem Zaun sitzen» sei keine Option, um eine führende Rolle in der Welt zu spielen, führt der indische Aussenminister aus:
«Sehen Sie, ich glaube nicht, dass wir auf dem Zaun sitzen. Nur weil ich nicht mit Ihnen übereinstimme, heisst das nicht, dass ich auf dem Zaun sitze; es bedeutet, dass ich auf meinem Boden sitze. Und das heisst: Was sind die grossen Herausforderungen der Welt? Dazu gehört der Klimawandel: Ich denke, Indien ist sehr entscheidend für die Lösung, ich kann ein Beispiel sein, ich kann tatsächlich eine Arena für einen enormen Entwicklungssprung [leapfrogging] grüner Technologien sein. Schauen Sie sich den Terrorismus an, schauen Sie sich die Entstehung einer Weltordnung an, die Sicherheitsfrage. Schauen Sie sich die Ziele für nachhaltige Entwicklung an – wenn Sie eine der grossen Herausforderungen der Welt nehmen, dann kann ein Teil der Antwort entweder aus Indien kommen, oder Indien kann dazu beitragen. Ich sage es ungern – es klingt wie eine Schallplatte mit Sprung: Viele Dinge passieren ausserhalb Europas. Wir haben – auch wegen des Klimawandels – für viele humanitäre Naturkatastrophen humanitäre Antworten bereit, heute, in unsrer Weltregion. Viele Menschen erwarten von uns, dass wir ihnen helfen. Die Zeiten sind vorbei, in denen man von Europa erwartete, dass es kommt – was es beim Tsunami 2004 auch tat. Der Unterschied ist, dass heute niemand mehr überhaupt daran denkt. Die Welt verändert sich, neue Akteure kommen, neue Fähigkeiten kommen, aber es muss eine neue Agenda geben, die Welt kann nicht mehr so eurozentrisch sein wie in der Vergangenheit.» •
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=APOFAsaxWSc
1 Seit Jahrzehnten besteht Uneinigkeit zwischen China und Indien um den Grenzverlauf zwischen dem indischen Hochgebirgs-Territorium Ladakh und der von China kontrollierten Autonomen Region Tibet. Im Juni 2020 kam es dort zu einem blutigen Zusammenstoss, dem schlimmsten Zwischenfall seit dem Grenzkrieg vom 20.10.1962 – 20.11.2062.
2 also nicht im Sinne einer geschäftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung
(Übersetzung und Bearbeitung Zeit-Fragen)
Subrahmanyam Jaishankar, *9. Januar 1955, erwarb zunächst einen Hochschulabschluss in Chemie, danach einen Master in Politikwissenschaft, einen MA und Ph.D. in Internationalen Beziehungen. 1977 trat er in den diplomatischen Dienst ein. 1979–1981 dritter, dann zweiter Sekretär der indischen Botschaft in Moskau/UdSSR, wurde er 1985 zum ersten Sekretär der Botschaft in Washington/USA; diente von 1988–1990 als erster Sekretär und politischer Berater der Indian Peacekeeping Force in Sri Lanka. Von 1990–1993 war er Berater der indischen Botschaft in Budapest/Ungarn, 1991 war er Direktor für Osteuropa im Aussenministerium und Pressesekretär und Redenschreiber für den Präsidenten Shankar Dayal Sharma. 1996–2000 amtierte er als stellvertretender Botschafter in Tokio, 2000 wurde er Botschafter in der Tschechischen Republik, 2004–2007 diente er als Secretary (Americas) im Aussenministerium in Neu Dehli, war von 2007–2009 Hochkommissar Indiens in Singapur, Botschafter mit der längsten Amtszeit in China, während der er eine zentrale Rolle bei der Stärkung der wirtschaftlichen, handelspolitischen und kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern spielte. Eine wichtige Rolle spielte er auch bei der Aushandlung des zivilen Atomabkommens zwischen Indien und den USA von 2006. 2013 wurde er Botschafter in Washington, schliesslich wurde er am 29. Januar 2015 zum Foreign Secretary, dem administrativen Leiter des Aussenministeriums, ernannt. Seit dem 30. Mai 2019 amtiert er als Aussenminister Indiens.
Er wurde 2019 mit dem Padma Shri ausgezeichnet und hat ein vielbeachtetes Bestseller-Buch geschrieben: «The India Way: Strategies for an Uncertain World», das 2020 veröffentlicht wurde.
ev. GLOBSEC (eine Abkürzung aus Global und Security.) bezeichnet sich selbst als globalen Think tank mit Sitzen in Bratislava, Brüssel, Kiew, Wien und Washington D. C.
Laut eigenem Internetauftritt ist GLOBSEC eine «unabhängige, nicht parteigebundene Nichtregierungsorganisation, die auf der erfolgreichen Arbeit der Slowakischen Atlantikkommission aufbaut».1 Das GLOBSEC Bratislava Forum hat Partnerschaften unter anderem mit der Nato, mit dem National Endowment for Democracy, Brookings und dem Atlantic Council, der Open Society2. Gefördert wird GLOBSEC auch von der GLOBSEC US Foundation mit Sitz in Washington D. C.3
Jährlich veranstaltet die Organisation das GLOBSEC Bratislava Forum, die es als eine der führenden Sicherheitskonferenzen der Welt bezeichnet.
1 https://www.globsec.org/who-we-are/about-us (GLOBSEC is an independent, non-partisan, non-governmental organisation that builds on the successful work done by the Slovak Atlantic Commission.)
2 https://forum2022.globsec.org/partners/
3 https://www.globsecusfoundation.org/
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