Welches Entwicklungsmodell braucht der Westen?

von Karl-Jürgen Müller

Die Welt verändert sich. Den USA und ihren Verbündeten ist es nicht gelungen, Russland international zu isolieren oder gar zu «ruinieren» (Annalena Baerbock). Eine neue Weltordnung bildet sich heraus, die nicht mehr durch eine US-westliche Dominanz gekennzeichnet ist, sondern durch sich immer mehr emanzipierende Staaten und Völker in Asien, Afrika und Lateinamerika. In dieser neuen Weltordnung bestimmt nicht mehr die westliche Seite die Regeln der internationalen Beziehungen (mittels ihrer willkürlichen «International Rules Based Order»), sondern die Gleichberechtigung unter den Staaten und Völkern – entsprechend der Charta der Vereinten Nationen – kann mehr zum Zuge kommen. Innerhalb dieser neuen Weltordnung – auch dies ganz im Sinne des Wortlauts der Charta der Vereinten Nationen – sind Frieden und Friedensbemühungen sehr ernst gemeinte Handlungsmaximen wesentlicher Akteure, und die internationalen Beziehungen sind nicht nur durch mehr Gleichberechtigung, sondern auch durch eine Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen aller Beteiligten gekennzeichnet. Und es gibt sogar Anzeichen dafür, dass die US-Führung die Grenzen ihrer Macht möglicherweise realistischer einzuschätzen beginnt.

Auf dem Weg in eine neue Weltordnung

Für all dies gibt es Belege in den vergangenen Wochen und Monaten. Sie reichen von der Tatsache, dass sich der Grossteil der Staatengemeinschaft nicht den westlichen Sanktionen gegen Russland angeschlossen hat, über die Erklärungen verschiedener Regierungsvertreter anderer Staaten, den politisch motivierten Haftbefehl des International Criminal Court ICC gegen den russischen Präsidenten Putin nicht beachten zu wollen, die diplomatischen Erfolge Chinas bei Guten Diensten im Nahen Osten, das Streben zahlreicher Staaten verschiedener Kontinente in die nicht-westliche Kooperationsgemeinschaft BRICS, die sich vertiefende Zusammenarbeit von Russland und China bis hin zu den jüngsten Äusserungen von US-Aussenminister Blinken zu Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, die von den bisherigen westlichen Maximalforderungen abweichen.

Was wird aus dem Westen?

Dem steht der katastrophale Zustand des Westens und seiner Führungsmacht USA gegenüber. Wer die Geschichte des Westens und dessen inneren Zustandes in den vergangenen Jahrzehnten unvoreingenommen beobachtet hat, ist darüber nicht erstaunt – aber nach wie vor sehr betroffen, wenn er selbst in diesem Westen lebt und sich dort zu Hause fühlen möchte.
  Der Grossteil der Welt wird seinen Weg machen, da kann man heute sicherer sein als noch vor einem Jahr. Aber was wird aus den Staaten und Völkern des Westens? Gibt es auch Hoffnung für den Westen, ein Entwicklungsmodell oder vielleicht auch verschiedene Entwicklungsmodelle für diesen Teil der Welt? Diese Frage zu stellen ist einfacher, als eine Antwort zu geben. Auch die Hinweise hier sind nicht mehr als ein Versuch. Aber wenn die im Westen lebenden Menschen, wenn die Bürger unserer Staaten sich nicht fatalistisch mit ihrem Abstieg abfinden wollen, muss diese Frage diskutiert, muss um gute Antworten gerungen werden.
  Ich möchte an dieser Stelle drei Überlegungen einbringen.

Rückkehr zur Tugend der Redlichkeit

Meine erste Überlegung: Es braucht eine Rückkehr zur Tugend der Redlichkeit. Das betrifft unsere Machteliten insgesamt – und ganz speziell unsere Medien. Die bis hin zur plumpen Propaganda gehende Desinformation und Manipulation der vergangenen Jahre muss beendet werden. Nur ein aktuelles Beispiel dazu: Bei der Suche nach Reaktionen auf den Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Russland habe ich nach Stimmen von anderen Kontinenten gesucht. Das Ergebnis ist, dass sich viele Medien in nicht-westlichen Ländern um viel mehr Sachlichkeit bemühen als unsere Journalisten. Anstatt Kommentare zu formulieren, die so tun, als wenn sie die Sache sofort beurteilen könnten, wird erst einmal dargelegt, wie der Staatsbesuch von den beteiligten Staaten selbst gesehen wird. So veröffentlichte die in ganz Südafrika verbreitete und auflagenstärkste Tageszeitung «The Star» am 23. März eine zuerst in China erschienene Stellungnahme des chinesischen Aussenministers zum Staatsbesuch. Wo findet sich so etwas in unseren Medien?
  Die Unredlichkeit der mehr als 100 Jahre alten neokolonialen Parole «Demokratien gegen Autokratien» wird überall in der Welt erkannt, nur bei uns im Westen noch zu wenig. Schon der Mythos, der damalige US-Präsident Wilson sei 1917 in den Ersten Weltkrieg eingetreten, um «die Welt sicher für die Demokratie zu machen» – «make the world save for democracy» –, entsprach nicht der Wahrheit. In den USA selbst sprachen Zeitgenossen mit guten Argumenten von den «merchants of death», den «Kaufleuten des Todes» – in Gestalt der US-Waffenindustrie, die ein überwiegendes Interesse an einem US-amerikanischen Kriegseintritt hatte. Andere handfeste materielle Interessen, namentlich der an Grossbritannien, Frankreich und Russland Kriegs-Kredite gebenden US-Banken, kamen hinzu.
  Redlichkeit fordert aber auch der kritische Umgang mit Erfolgsrezepten zur Überwindung der Krise des Westens, die aus den Reihen der bisherigen Machteliten kommen. Mögen sie sich nun «Industrie 4.0», «Green New Deal» oder «Great Reset» nennen. Beim Blick auf das dahinterstehende Menschen- und Weltbild, die Macht- und Geld-Frage sind sie weitgehend «alter Wein in neuen Schläuchen».

Europa muss zu seinen Werten zurückfinden

Meine zweite Überlegung: Vor 15 Jahren veröffentlichte der aus Singapur kommende Wissenschaftler und Diplomat Kishore Mahbubani das Buch «Die Rückkehr Asiens. Das Ende der westlichen Dominanz». Mit vielen Belegen stellte er in diesem Buch die These auf, der Aufstieg Asiens sei darauf zurückzuführen, dass die aufstrebenden Länder des Kontinents die früheren Erfolgsrezepte des Westens – freie Marktwirtschaft, Förderung von Naturwissenschaft und Technik, Belohnung nach wirklicher Leistung, Pragmatismus, Friedenskultur, Rechtsstaat und Bildung – für die eigene Entwicklung beherzigt haben. Wohingegen die Staaten des Westens den eigenen Erfolgsrezepten den Rücken gekehrt haben.
  Ich möchte diesen Gedanken von Kishore Mahbubani erweitern: Die Staaten und Völker des Westens haben ihre eigene Werte-ordnung weitgehend zerstört. Die wertvollen Traditionen europäischen Denkens und europäischer kultureller Substanz – die übrigens auch die ideellen Anfänge der USA stark befruchtet haben – waren schon immer den Anfeindungen kontinentaleuropäischer und angelsächsischer Machtpolitik und Gier ausgesetzt. Aber wohl noch nie in den Jahrhunderten zuvor war der Wertebruch derart radikal wie in den vergangenen Jahrzehnten – noch einmal verstärkt nach dem vermeintlichen «Sieg» im ersten Kalten Krieg. Wenn der Westen, wenn Europa genesen will, muss es zu seinen Werten zurückfinden und diese auch mit Taten leben.

Nicht den Machteliten überlassen

Meine dritte Überlegung: Die Besinnung auf die europäischen Werte kann nicht den gegenwärtigen Machteliten überlassen werden. Alle Menschen, alle Bürger der Staaten des Westens, die guten Willens und sich der Bedeutung der Wertefrage bewusst sind, sind aufgerufen, bei einem geistigen und letztlich auch emotionalen Wandel, der bis an die Wurzeln geht, mitzuwirken. Ich denke, dass es diesen «radikalen» Wandel braucht: nicht mit Barrikaden und Gewalt, aber sicheren Schrittes mit Verstand und mit Gefühl. Die unauslöschbare menschliche Sozialnatur wird dafür die Türen öffnen.  •

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