«Wir steuern auf eine grosse Bereinigungskrise zu»

Interview von ÖkologiePolitik mit Prof. Dr. Christian Kreiß*

Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg zeigen, wie fragil unsere Wirtschaft ist. Das eigentliche Problem sind jedoch nicht die globalen Lieferketten, sondern der Wachstumszwang und die Überschuldung, sagt ein Wirtschaftsprofessor. Denn weil sich beide nicht endlos steigern lassen, droht ein grosser Crash.

ÖkologiePolitik: Herr Professor Kreiß, welchen Einfluss hat unser Finanzsystem auf das Gemeinwohl?
Christian Kreiß: Einen sehr grossen Einfluss. Börsennotierte Aktiengesellschaften werden ständig dazu getrieben, immer höhere Gewinne zu erwirtschaften, sonst sinkt der Aktienkurs, und das Unternehmen ist in Gefahr, übernommen zu werden. Gewinne hochzutreiben, geht fast immer zulasten der Umwelt, weil die meist kostenlos zur Verfügung steht. Des weiteren wird aus der Belegschaft so viel wie möglich herausgeholt. Das sagt schon der Begriff «human resources», wie sich heute viele Personalabteilungen nennen: ein Unwort, das ausdrückt, man soll arbeitende Menschen wie Bergwerke behandeln. Unser Finanzsystem sorgt über die forcierte Umsetzung des Gewinnmaximierungsprinzips für die allermeisten Schäden am Gemeinwohl. Es sorgt für eine strukturell steigende Ungleichverteilung, denn die Gewinne fliessen zum grossen Teil leistungslos an die relativ kleine Gruppe der Eigentümer von Unternehmensanteilen, Boden und Geldpapieren. Im Kern dient unser Finanzsystem den Interessen der Reichen, nicht der Allgemeinheit und schon gar nicht den Bedürfnissen von Tieren oder einer intakten Natur.

Ist unser aktuelles Finanzsystem resilient?
Nein. Alle Institutionen – also Banken, Versicherungen, Börsen – arbeiten grundsätzlich nach ihrer individuellen Einzelgewinnmaximierung. Zwar gibt es nationale Banken-, Börsen- und Versicherungsaufsichten und die BIZ in Basel, die internationale Regelungen vorgibt, aber die haben nicht verhindert, dass heute der Weltschuldenstand inklusive Finanzunternehmen bei über 350 % des Weltsozialprodukts liegt. Ohne Finanzunternehmen liegt er bei etwa 250 % – 1970 lag er bei 100 %. Dieser Schuldenberg kann wohl nicht in voller Höhe zurückbezahlt werden. Das System beruht auf der Illusion der Gläubiger, dass ihre Forderungen noch immer voll werthaltig sind. Das sind sie aber längst nicht mehr, denn sie sind von der Realwirtschaft nicht mehr annähernd so stark unterlegt wie etwa 1970. Diese Illusion kann schnell platzen, wie vergangene Finanzkrisen zeigen: etwa im September 2008 nach der Lehman-Pleite, die Asien-Finanzkrise Ende der 1990er Jahre oder auch die weltweite Börsen- und Finanzkrise ab 1929. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass unser Finanzsystem alles andere als resilient ist. Und heute ist es schlimmer denn je. Solch einen Schuldenberg und solch einen Geldüberhang – die US-Notenbank FED hat seit 2008 die Zentralbankgeldmenge verelffacht, die EZB verneunfacht – gab es noch nie. Das ist brandgefährlich. Wir tanzen auf einem Vulkan. Und steuern wohl auf eine grosse Bereinigungskrise zu.

Wie könnte die aussehen?
Es könnte entweder eine mehrjährige zweistellige Inflation kommen – was ich nicht glaube, denn die US-Notenbank bricht derzeit die Inflation in den USA mit Erfolg. Oder es kommt – und das halte ich für sehr viel wahrscheinlicher – ein Finanz- und Wirtschaftscrash: Bei steigenden Zinsen dürften weltweit sehr viele Unternehmen mit zu hohen Schulden in Konkurs gehen. Dazu kommen über 60 Staaten weltweit, die vermutlich ihren Schuldendienst nicht mehr werden bedienen können: nicht nur Entwicklungsländer, sondern z. B. auch Italien, Griechenland oder Japan. Solch eine Konkurswelle dürfte eine Finanz- und Bankenkrise und damit einen starken Wirtschaftsabschwung oder eine Wirtschaftsdepression mit sehr hoher Arbeitslosigkeit auslösen, ähnlich wie 1929 bis 1932. Eine dritte Lösung wäre Krieg: Die Eskalation des Ukraine-Krieges zu einem Nato-Krieg könnte über Zerstörungsprozesse auch einen «Reset» wie 1945 ermöglichen – mit allem Grauen, das damit einhergeht. Ein grosser Krieg kann die ökonomischen Probleme lösen. Insbesondere Länder, deren Territorien von solch einem Krieg nicht betroffen sind, würden von einer solchen Lösung profitieren und könnten sie daher anstreben.

Was sind die Ursachen für diese Krisenanfälligkeit?
Die Hauptursache ist der Wachstumszwang durch das Geld-, Schulden- und Börsensystem. Unser Schuldgeldsystem erzwingt Wachstum. Ohne Wachstum kann man die Zinsen nicht zurückzahlen. Die Börsen erzwingen Wachstum, sonst können die Gewinne nicht gesteigert werden. Des weiteren predigen unsere Lehrbücher und Wirtschaftsprofessoren Unersättlichkeit, Egoismus und Wachstum. Dies steuert alle zwei bis drei Generationen in ein Überschuldungssystem, das – schaut man in die Geschichte – meist mit Finanzkrisen oder mit Kriegen gelöst wird.

Welche Massnahmen könnten unser Finanzsystem resilienter machen?
Banken und Versicherungen auf genossenschaftlicher oder öffentlich-rechtlicher Basis könnten steuerlich stark begünstigt werden, im Gegenzug grosse börsennotierte Finanzunternehmen mit einer Abgabe oder Zusatzsteuer belegt werden. Dadurch könnten wir über vielleicht zwei Generationen den grössten Teil der Finanzbranche zurückverlagern in kleinere, vor Ort tätige Institute nach dem Vorbild der Raiffeisenbanken und Sparkassen. Geldschöpfung und Geldpolitik könnten im Konsens und Diskurs durch Genossenschaftsbank- und Sparkassenvertreter bestimmt werden, denn die wissen am besten, was die Kunden vor Ort brauchen. Die Futures-Märkte sollten stark eingeschränkt werden, z. B. über eine kräftige Transaktionssteuer. Haupttreiber für die ständig wachsenden Schulden- und Geldberge ist die gierige Raubbaukultur, die dauernd nach hohen Renditen verlangt zugunsten einer kleinen Schicht vermögender Menschen. Man könnte deshalb eine progressive Vermögenssteuer ab vielleicht zwei Millionen Euro pro natürlicher Person andenken. Vor allem bei Bodeneigentum wäre das problemlos sofort machbar, da Boden nicht ins Ausland abwandern kann. Durch die Rückverlagerung der Finanzgeschäfte in kleine, dezentrale Institute, eine Transaktionssteuer und eine progressive Vermögensbesteuerung würden die Haupttreiber für die Exzesse an den Finanzmärkten weitgehend wegfallen und damit auch das Finanzsystem insgesamt sehr viel resilienter.

Herr Professor Kreiß, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.   •

Quelle: https://www.oekologiepolitik.de/wp-content/uploads/2022/12/OeP190_Online.pdf

Krieg zur Lösung ökonomischer Probleme?

«Vor dem Ersten Weltkrieg gab es eine ähnliche wirtschaftliche Schieflage wie heute: eine Überkapazität. Die Kaufkraft war zu gering, um alle Produkte absetzen zu können. Durch den Ersten Weltkrieg wurden Produktionskapazitäten in Europa vernichtet. Durch den Zweiten Weltkrieg ebenso. Danach herrschte eine kurze Phase Unterproduktion und dann eine lange Phase Gleichgewicht. Heute haben wir wieder Überkapazitäten. Seit den 1980er Jahren kann der Massenkonsum auf Grund der zunehmenden Ungleichverteilung des Wohlstands mit der Produktionssteigerung eigentlich nicht mehr mithalten – und wurde deshalb durch immer neue Schulden künstlich angekurbelt. Doch wachsende Schuldenberge sind keine nachhaltige Lösungsstrategie, da diese Entwicklung nicht langfristig beibehalten werden kann. […] Für diejenigen, die davon direkt betroffen sind, ist ein Krieg natürlich immer eine Katastrophe. Für diejenigen, die nicht direkt betroffen sind, jedoch nicht. Vor allem nicht, wenn sie davon profitieren. Im Zweiten Weltkrieg blühte z. B. in den USA zuerst die Rüstungsindustrie auf und in der Folge dann die restliche Wirtschaft. Ähnliches erleben wir gerade wieder: Nicht trotz, sondern wegen des Ukraine-Krieges feiern bestimmte Branchen und Konzerne Rekordgewinne. Und indirekt profitieren dann auch bestimmte Volkswirtschaften davon.»

Quelle: «Krieg zur Lösung ökonomischer Probleme?»
Interview von ÖkologiePolitik mit Prof. Dr. Christian Kreiß

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