In der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 10. März 2023 wurden unter dem Titel «Die Schweiz der Masochisten» mehrere Leserbriefe veröffentlicht, die sich mit Fragen zur Neutralität, Armee und Sicherheitspolitik befassten. Darunter findet man auch die Behauptung, nicht unsere Armee, sondern unsere «Geschäfte» (Lieferung von Waffen und Munition) mit Nazideutschland hätten dieses von einem Angriff auf unser Land abgehalten. Die, die das behaupten, sind sicher erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren worden, im Gegensatz zum Verfasser dieser Antwort, der diese Zeit als Jüngling sehr bewusst erlebt hat. Im folgenden wird gezeigt, dass diese Aussage so nicht stimmt.
Im Krieg geht es für die betroffenen Völker um alles. Er muss unter allen Umständen gewonnen werden. Alle anderen Überlegungen, Anliegen, auch die Moral, sind zweitrangig. So erstaunt es nicht, dass alle bedeutenderen, in Westeuropa eingesetzten Armeen, auch die Streitkräfte der der Schweiz freundlich gesinnten demokratischen Staaten, einen Angriff auf die Schweiz prüften (die französische schon ab 1937, die britische, italienische und nach der Ankunft in Europa die der USA). Aber alle kamen zum Schluss, unsere Armee sei zu stark für einen erfolgreichen Angriff. Um das zu zeigen, werden hier Schlüsselsätze aus Angriffsplanungen auf unser Land aller beteiligten grösseren Mächte wiedergegeben.
Angriffsplanungen gegen die Schweiz –
die Motive verschiedener Länder
Die Hauptgründe für mögliche Angriffe auf unser Land waren unterschiedlich: ideologische (Schaffung des Grossdeutschen Reichs), Ausschalten einer der letzten grösseren, nicht deutschfreundlichen Armeen in Westeuropa, Übernahme unserer Nord-Süd- und Ost-West-Transversalen, Übernahme unserer Wirtschaft, eine mögliche Besetzung der Schweiz, um einer solchen durch den Feind zuvorzukommen usw.
Es stimmt, die Schweiz hat Deutschland, aber auch Grossbritannien und anderen Ländern Waffen und viel anderes geliefert. So hatte sie zur Zeit der grossen deutschen Luftangriffe auf Grossbritannien z. B. dessen Flotte bis Ende 1940 mit 1500 Fliegerabwehrkanonen verstärkt. Am wichtigsten und dringendsten benötigte das Land aber eine grosse Zahl von Schweizer Werkzeugmaschinen für seine eigene Rüstungsindustrie, die wir auch lieferten. Da auch die USA solche brauchten, haben sie Ende 1942 mit der Schweiz sogar ein wirtschaftliches Kompensationsabkommen abgeschlossen. In ihren Abkommen mit Deutschland reduzierte die Schweiz laufend den Umfang des gegenseitigen Handels, zuletzt am
29. Juni 1944 auf noch 20 % der Lieferungen zu Kriegsbeginn.
Solange es Kriege gibt, werden sich potentielle Angreifer auf die Schweiz – wie in der Vergangenheit – die Fragen stellen:
Frankreich: Zögern, Warten, Niederlage –
trotz militärischer Überlegenheit
Deutschland griff Frankreich und die Benelux-Staaten am 10. Mai 1940 an. Beide Seiten verfügten über insgesamt je rund 140 Divisionen, einschliesslich 10 britischer und 20 belgischer auf alliierter Seite. Von allen schweren Waffen – Geschützen, Panzern, Kampfflugzeugen – besass die französische Armee wesentlich mehr als die deutsche Wehrmacht. Zudem waren die französischen Panzer den deutschen auf dem Gefechtsfeld weit überlegen. Frankreich verfügte an der Grenze zu Deutschland auch noch über seine mächtige Maginot-Befestigungslinie, während Deutschland mit dem Bau der gegenüberliegenden, 650 km langen Siegfried-Linie erst kurz vor Kriegsausbruch begonnen hatte.
Hitler verfügte 1939 an der Westfront anfänglich nur über 34 Divisionen, davon waren bloss 12 kriegsbereit, da das Gros der Wehrmacht für den Krieg gegen Polen (1. bis 28. September 1939) eingesetzt war. Hitler befürchtete in dieser Zeit einen französischen Angriff und erkundigte sich täglich, ob ein solcher begonnen habe. Erst nach Polens Niederlage konnte Hitler eine grosse Zahl von Truppen für den Angriff auf Frankreich bereitstellen.
Vertane Chance –
Konsequenzen für die Schweiz
Frankreich hatte seine einmalige Chance, den Krieg mit einem Angriff auf das im Westen anfänglich weit unterlegene Deutschland rasch zu beenden, nicht ergriffen. Das war nicht nur ein strategischer Fehler, sondern auch ein Vertragsbruch, denn es hatte sich vertraglich verpflichtet, Polen und die Tschechoslowakei im Angriffsfall mit seiner Armee zu unterstützen. (Beide waren schon von Deutschland angegriffen worden.) Seine Armee war völlig demoralisiert.
Das hatte im April 1940 auch eine Schweizer Offiziersmission unter Oberst Samuel Gonard festgestellt, die General Guisan mit dem Auftrag zur französischen Armee delegiert hatte, die Zusammenarbeit für den Fall eines deutschen Angriffs vorzubereiten. Sie kam aber nach dem schockierend negativen Eindruck, den die französische Armee auf sie machte, zum Schluss, unser Land müsse sich alleine verteidigen.
Den Alleingang bereitete die Schweiz dann mit dem Operationsbefehl No. 13 vom 24. Mai 1941 vor, der den Aufbau des Réduits auslöste. An dessen Eingängen baute sie die grossen Landesbefestigungen, St. Maurice, Gotthard und Sargans auf. Das Gros der Armee wurde ins Réduit mit seinen 16 Kriegsflugplätzen und Festungen verschoben, und es wurde die Unbrauchbarmachung der Industrie, die Sprengung aller wichtigen Brücken, Tunnel und Strassen und vieles andere mehr vorbereitet. General Guisan rief am 25. Juli 1940 alle Schweizer Offiziere ab Major zum Rütlirapport und befahl an der Wiege der Eidgenossenschaft «die Bereitschaft zum bedingungslosen Widerstand».
«Das Reich», die Nazi-Zeitung, schrieb am 22. Juli 1941: «Die Schweizer können für sich in Anspruch nehmen, das einzige Land in Europa zu sein, in dem keine Freiwilligen (für die deutsche Wehrmacht) geworben werden können». Insgesamt leisteten nur 2000 Schweizer, davon 75 % in Deutschland lebend, freiwillig Dienst in der Wehrmacht. Einer, der zuerst seine Strafe dafür hatte absitzen müssen, holte dann in der vom Verfasser geleiteten Kompanie seine mit der Wehrmacht in Russland verpassten Wiederholungskurse in der Kompanie des Verfassers nach. Wegen seiner grossen Kriegserfahrung zog ihn der Bataillonskommandant, ein Berufsoffizier, jeweils bei Inspektionen als Experten bei.
Kurz nach Kriegsbeginn führte der Armeestab auch für jüdische Wehrmänner an deren Feiertagen Urlaube ein. Der vom Staat finanzierte deutsche «Welt-Dienst» kommentiert das wie folgt: «Die Schweiz kann für sich in Anspruch nehmen, noch das einzige Judenparadies in Europa zu sein.»
Juni 1940 bis September 1944:
von Achsenmächten umzingelt
Die Schweizer Einschätzung von Frankreichs Armee wurde schon am 22. Juni 1940 durch dessen Kapitulation, nur sechs Wochen nach dem deutschen Angriff vom 10. Mai 1940, bestätigt. Bis zur Ankunft der US-Truppen an der Grenze bei Genf am 7. September 1944 war die Schweiz von nun an von beiden Achsenmächten, nach der Kapitulation Italiens am 9. September 1943 sogar völlig von der deutschen Wehrmacht umzingelt.
In der Schweiz war wegen der allgemeinen Knappheit in allen Bereichen schon kurz nach Kriegsbeginn eine strikte Rationierung eingeführt worden. Dank der Anbauschlacht konnte unser Selbstversorgungsgrad im Laufe der Kriegsjahre bei Lebensmitteln zwar von anfänglich 50 % auf 59 % gesteigert werden. Aber 41 % unseres Bedarfs mussten immer noch aus aller Welt importiert werden. Dafür mussten die Kriegsparteien ihre Zustimmung geben.
Zähes Verhandlungsgeschick
Besonders von Deutschland war die letztere nur gegen ein Schweizer Entgegenkommen zu erhalten. Für überlebenswichtige Importe, u. a. von Koks und Kohle, war die Schweiz ganz von Deutschland abhängig. Deutschland nützte diese vorteilhafte Lage aus, um die Schweiz zu Konzessionen zu zwingen. So stellte es gegen Ende 1942, also im Winter, die monatliche Ausfuhr der 150 000 Tonnen Kohle pro Monat ein, um uns unter Druck zu setzen. Zu Jahresbeginn 1943 reagierte die Schweiz mit dem Abbruch der Verhandlungen. Aber Hitler hatte dann im März 1943 befohlen, den Druck auf die Schweiz nicht so weit zu treiben, dass die Verhandlungen scheiterten. Am 23. Juni 1943 beendete die Schweiz den vertragslosen Zustand mit einem neuen Abkommen mit Deutschland, wobei sie gleichzeitig ihre Lieferverpflichtung um 20 % reduzierte. (Mangels genügender Mengen von Heizmaterial fror im Kriegswinter 1943/44 im Elternhaus des Verfassers in Zürich die Zentralheizung ein. Die Heizkörper platzten unter dem Druck des Eises, und das Restwasser floss durch Böden und Mauern in die unteren Stockwerke.)
Ein grosser Teil der Schweizer Gold- und Währungsreserven war in den USA gelagert. Am 21. Juni 1941 blockierten die USA die Guthaben und Goldreserven aller kontinentaleuropäischen Länder. Einzelne Abteilungen der US-Regierung forderten sogar, die Schweiz müsse ihren Handel mit Deutschland ganz einstellen (wohl in Unkenntnis der geographischen Lage der Schweiz mitten im von Deutschland besetzten Europa.) Da aber auch die USA dringend Schweizer Werkzeug- und Präzisionsmaschinen brauchten, konnte die Schweiz mit ihnen und Grossbritannien Ende 1942 ein wirtschaftliches Kompensationsabkommen abschliessen.
Einmalig schnelle Mobilmachungsfähigkeit der Schweizer Armee
Eine der Stärken der Schweizer Armee war die sehr schnelle Mobilisierung. So schrieb der Lord Mayor von London nach einem Besuch unseres Landes in der «Times» vom 11. November 1938 wörtlich, keine Armee der Welt könne so schnell mobilisieren wie die schweizerische. Er empfahl der britischen Regierung, das Schweizer System zu übernehmen.
Im Juli 1938 besuchte der deutsche Generalstabshauptmann von Xylander (der spätere General) ein Scharfschiessen von Schweizer Gebirgstruppen. In seinem Bericht darüber steht: «Die Truppe macht einen guten Eindruck. Die Soldaten arbeiten mit Passion und Ernst […], sind etwas schwerfällig (Berner Oberländer), jedoch sehr zäh und kräftig und zuverlässig […]. Es muss anerkannt werden, dass die Feuerleitung und Wirkung beim Schiessen der Artillerie wie auch der schweren Infanteriewaffen sehr wendig und bemerkenswert gut waren.»
Die Angewöhnung (an die Realität des Schlachtfeldes) ist für alle Armeen von grosser Wichtigkeit. In der deutschen Angriffsplanung vom Sommer 1943 sagte der Autor General Böhme zum Thema: «Gelingt es der Schweiz, die beiden ersten Wochen (eines deutschen Angriffs) durchzustehen, so werden zahlreiche feuergewohnte Truppen zur Verfügung stehen.»
In der Angriffsstudie TANNENBAUM von 1940 stand, dass ein Teil der Schweizer Grenztruppen innert fünf Stunden kampfbereit sei, die Grenz-, Gebirgs- und leichten Brigaden in einem Tag und die ganze Armee in zwei Tagen. Laut einem Bericht des deutschen Generalstabschef Halder vom 27. März 1940 benötige die italienische Armee zwei Wochen für die Mobilisierung von 20 Divisionen. In sein Kriegstagebuch schrieb er am 26. März 1940, «dass eine Umgehung der Front durch eine unverteidigte Schweiz eine verlockende Möglichkeit gewesen wäre».
Am 4. Oktober 1942 wurde in der Angriffsplanung der deutschen Besatzungsarmee in Frankreich davor gewarnt, sich durch die geringe Zahl der gerade mobilisierten Schweizer Verbände zu falschen Schlüssen verleiten zu lassen, da die beurlaubten Wehrmänner sofort wieder einsatzfähig seien. Ein Hinweis auf unser einmaliges Mobilmachungssystem.
Réduit: Strategie statt Konzeptlosigkeit
Als Reaktion auf die militärische Beherrschung Europas durch Deutschland schuf General Guisan das Réduit. Das Gros der Armee war nun im Gebirge. Das Schwergewicht der folgenden deutschen Angriffspläne lag nun auf der möglichst raschen Besetzung der Réduiteingänge durch Luftlandetruppen, um zu verhindern, dass die einrückenden Schweizer Wehrmänner ihre Einsatzräume erreichten. Auf diese Bedrohung reagierte Guisan, indem er die Alpentransversalen (Brücken, Tunnel usw.) und die Elektrizitätsversorgung, die zur Sprengung vorbereitet waren, durch starke Kampfverbände dauernd sichern liess, auch wenn das Gros der Armee demobilisiert war. Die Produktionsstätten im Land wurden durch die eingeübte Entfernung von Schlüsselelementen (z. B. aus Maschinen) darauf vorbereitet, unbrauchbar gemacht zu werden. •
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