von Peter Küpfer
Beim Aufräumen ist mir kürzlich ein Taschenbuch wieder in die Hand gekommen, das mich schon in jüngeren Jahren beeindruckt hat. Seine eindringlichen kurzen Texte sind Splitter, eine Art Bewusstseinsfetzen über das, was Menschen in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts (zur Entstehungszeit dieser Texte) bewegte, und wie es das tat. Beim kurzen Wiederlesen einzelner Seiten war ich einmal mehr aufgerüttelt, oft wie bei der ersten Lektüre auch beklommen. Das Beunruhigendste bei dieser Wiederbegegnung war für mich, dass bei diesen «Aufnahmen» des Alltäglichen von Marie Luise Kaschnitz die Beklemmung aus heutiger Sicht auch daher rührt, dass sie heute wie Vorankündigungen oder Vorahnungen eines sich schon damals abzeichnenden Dammbruchs erscheinen. Dieser Dammbruch ist heute, mehr als 50 Jahre nach Veröffentlichung des genannten Büchleins, in vielen Aspekten zur handfesten Realität geworden. Damals hat sie eine verdiente deutsche Schriftstellerin empfunden und in Sprache umgesetzt. Und wo sind solche Schriftsteller/innen heute? Von gewissen deutschen und europäischen Politikerinnen will ich hier gar nicht reden, obwohl unser aller Schicksal mehr von ihnen abhängt als von einer unerschütterlich empfindungsfähigen modernen Schriftstellerin.
«Steht noch dahin, steht alles noch dahin…»
Es handelte sich um das schmale Büchlein «Steht noch dahin» der deutschen Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz (1901–1974), die in der Nachkriegszeit zu Recht sehr bekannt war, Trägerin des damals noch aussagekräftigen Büchner-Preises. Es fiel schon damals schwer, diese unter die Haut gehenden kürzeren, stark geschliffenen Texte in eine der gängigen literarischen Gattungen einzuteilen. Die Schweizer Literaturkritikerin Elsbeth Pulver nennt das Buch eine «Sammlung kurzer Prosatexte (Reflexionen, Kürzestgeschichten, Parabeln, Träume)». In ihnen erscheint das «Ich» der Autorin als «ein alternder Mensch, der […] von der Zeit unablässig zur Aufmerksamkeit gezwungen wird».
Bei der Lektüre dieser Texte erleben wir eine Art sensible Zeitgenossenschaft, die aber nicht einfach berichtet, sondern Versatzstücke des modernen Alltags zum Anlass nimmt, sie zu besehen und in überraschende Bezüge zu stellen. Das geht bei Kaschnitz oft traumhaft-intuitiv, dann wieder hellwach beobachtend – dabei wird der Text zum feinfühlig geführten Seismographen menschlicher und mit-menschlicher Erschütterungen, welche «die Zeitläufte» über uns bringen. Etwas, das in unseren gegenwärtigen Medien und unserer auf Äusserlichkeiten und Tabubrüche «abfahrenden» Literatur (gibt es überhaupt noch Tabus, die man noch brechen könnte?) selten geworden ist.
Schon der erste Text, er hat der Sammlung den Titel gegeben, ist aufwühlend: «Steht noch dahin». Was «dahin steht», also in seinem Ausgang völlig offen, ist folgendes:1
«Ob wir davonkommen ohne gefoltert zu werden, ob wir eines natürlichen Todes sterben, ob wir nicht wieder hungern, die Abfalleimer nach Kartoffelschalen durchsuchen, ob wir getrieben werden in Rudeln, wir haben’s gesehen […].»
Schon das «wir» lässt uns den Atem stocken. Was, solche Schicksale gehen die Welt an, aber doch nicht uns! Die Generation von Marie Luise Kaschnitz (geboren 1901) hat das aber gesehen, viele ihrer Freunde haben es hautnah erlebt. Man muss sich nur die Realitäten des Ersten Weltkriegs vergegenwärtigen, die Krisenjahre (die auch Hungerjahre waren), dann die nationalsozialistische Herrschaft mit ihrem Genozid an der jüdischen Bevölkerung, aber auch der organisierten Verfolgung und Tötung von Fahrenden, Behinderten, Zeugen Jehovas und anderer Kriegsgegner, Sozialisten, Christen und Kommunisten, dann die Zerstörung Deutschlands in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs. Diese grausame Niederbombardierung der grossen Städte Deutschlands verfolgte keine militärischen Ziele mehr, sondern gehorchte allein der gezielten Terrorisierung der deutschen Zivilbevölkerung, eines der vielen ungesühnten Kriegsverbrechen, diesmal der anderen Seite, die sich als Sieger feiern liess.
Aber sehen heisst in den siebziger Jahren natürlich auch buchstäblich sehen, und zwar für alle, nämlich durch den Siegeszug des Fernsehens, mitsehen, dass die genannten Dinge sich wieder und wieder ereigneten, damals allerdings einige hundert bis tausend Kilometer entfernt von Europa. Waren sie deshalb weniger schmerzlich? Dies die immanente, im Text mitfiebernde Frage der Schriftstellerin.
Müssen wir alle die Zellenklopfsprache erlernen?
So geht es in ihrem Text weiter in der Aufzählung dessen, was uns möglicherweise noch oder wieder droht:
«Ob wir nicht noch die Zellenklopfsprache lernen, den Nächsten belauern, vom Nächsten belauert werden, und bei dem Wort Freiheit weinen müssen.»
Hier erwähnt Kaschnitz die weltweit praktizierte Geheimsprache durch Klopfen, an die Wände oder Heizungsradiatoren der Zelle, je nachdem nach eigenem Code der Gefangenen, von denen ja viele Mitglieder illegaler Gruppen oder Geheimorganisationen waren. Wir Heutigen werden dabei gerade auch an die mutigen Mitmenschen denken, die seit Jahren in Gefängnissen schmachten, aus dem einzigen Grund, dass sie die auch in der Jetztzeit bestehenden Lügengeflechte aus weltpolitischen Motiven ans Licht gebracht haben. Jetzt werden sie als Landesverräter behandelt, Julian Assange, Edward Snowden, Chelsea Manning und andere. Und jetzt wird in Berlin sogar ein mutiger Redner an einer Demonstration gegen den Krieg in der Ukraine als Verbrecher behandelt. Sein Hinweis, Russland habe möglicherweise in Notwehr gehandelt, wird als Beschönigung von Kriegsverbrechen bezeichnet und verfolgt.
Die aktuelle Ausgrenzung gegen alles Russische hat inzwischen ein Niveau erreicht, das man als prä-rassistisch bezeichnen muss. Wo sind hier juristische, wo sind menschenrechtliche Barrieren, die noch halten? Hier erweist sich Kaschnitz, vor mehr als 50 Jahren, als echte Seherin. Sie hat auch die Auschwitz-Prozesse minutiös verfolgt und war erschüttert über die Ausflüchte der Angeklagten, sie hätten nichts anderes getan, als Befehle ihrer Vorgesetzten ausgeführt, so wie es das Gesetz verlangt habe. Dass auch Gesetze ungesetzlich sein können, nämlich vor der Richtschnur der von Natur gegebenen Menschenrechte, die für alle Menschen, auch Regierungen bindend sind (die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Uno listet sie auf), wird in dieser Rechtfertigungslitanei systematisch ausgeblendet.
Schliesslich erwähnt die Autorin auch die damals vielen bewusste Gefahr der Auslösung eines für die ganze Welt katastrophalen Atomschlags, eine Gefahr, die einzelne Kreise unserer heutigen Kriegstreiber nicht wahrnehmen wollen. Eine solches Ausmass von Verdrängung ist allerdings Wahnsinn.
«Ob wir uns fortstehlen rechtzeitig auf ein weisses Bett oder zugrunde gehen am hundertfachen Atomblitz, ob wir es fertigbringen mit einer Hoffnung zu sterben, steht noch dahin, steht alles noch dahin.»
Mit diesem illusionslosen Schluss endet das kurze Prosagedicht. Es lässt alles offen, auch dass die geahnte Katastrophe verhinderbar sein könnte. Könnte, wenn …
Die verhungernden Biafra-Kinder
In den siebziger Jahren war ein äusserst blutiger Krieg in Afrika1 in aller Munde. Auch damals war der als Bürgerkrieg bezeichnete Biafra-Krieg in Wirklichkeit schon ein Stellvertreter-Krieg, in dieser Hinsicht vergleichbar mit dem heutigen. Biafra ist eine Region in Nigeria, in der die Ibo-Bevölkerung vorherrscht. Sie hat ihre eigenen Traditionen und war damals mehrheitlich christlich, während der Rest des Landes mehrheitlich islamistisch ist. Das war aber nicht der einzige Grund, warum die Biafra-Provinz (ähnlich wie der Donbass in der Ukraine) an die Zentralregierung Forderungen nach Teilautonomie stellte. Sie wurden missachtet, und die Ibo-Ethnie unternahm einen erfolgreichen Staatsstreich gegen die autoritäre Zentralregierung. Die ehemalige Kolonialmacht (Grossbritannien) unterstützte in der Folge die Zentralregierung. In einem lange andauernden Krieg gelang es der Zentralregierung, die abtrünnige Provinz Biafra schliesslich zu bezwingen, ihre Führer zu entmachten und die Autonomisten wieder gefügig zu machen. Voran ging eine fast vollständige Isolierung, eine weiträumige Bombardierung durch englische Kampfflugzeuge, ein Embargo und wirtschaftliche Sanktionen, welche die Provinz Biafra in eine Hungersnot trieben, mit entsprechenden Opfern, vor allem Kindern. Es war damals einzig die Caritas international, welche die Notlage ein wenig mildern konnte.
Dieser Hintergrund erscheint in einem eindrücklichen Kurztext in der Mitte des Buches. Sein Titel bereits ist mehrschichtig, «Enfant inconnu» (Text 28). Er spielt auf in Frankreich häufig anzutreffende Kriegsdenkmäler an, die den im Krieg gefallenen unbekannten Soldaten gewidmet sind, den «soldats inconnus». Der Text schildert in nüchternen Worten, die Königin von England habe in der Zeit der Hungersperre von Biafra ein schockierendes Weihnachtspaket aus Biafra erhalten:
«In dem Kistchen aus Biafra war nichts dergleichen [von gutgemeinten Geschenken der dankbaren englischen Bevölkerung an ihre geliebte Königin, PK], vielmehr die Leiche eines kleinen von einer Fliegerbombe getöteten Kindes, von der sich die Mutter getrennt hatte, um sie der Königin von England unter den Baum zu legen, fröhliche Weihnachten und du bist schuld.»
In der für Kaschnitz typischen Form imitiert sie in der Folge den inneren Zustand eines damaligen «normalen» Zeitgenossen, der sich vor allem für die skandalöse Dimension des Vorgangs interessiert, aber leider nicht für seine wahren politischen Dimensionen:
«Ich frage mich, was mit dieser Kinderleiche geschehen wird, ob man sie verscharren oder in der Westminsterabtei beisetzen wird, was ich hübsch fände […], die Peers mit ihren Krönchen, der Erzbischof von Canterbury im Ornat. Die königlichen Kinder, die auf den Babysarg ihr Sträusschen legen, später ein Grabstein, eine Ewige Lampe, etwa in der Nähe der Dichterecke, das Kind von Biafra, l’enfant inconnu.»
Hier spielt die Dichterin meisterhaft mit den beiden Möglichkeiten, wie Grossmächte mit unliebsamen Wahrheiten umgehen. Entweder man wischt sie unter den Teppich oder man lenkt sie auf die scheinheilige Schiene und tut so, wie wenn «es» einem leid täte, dabei bedient man alle Klischees und Sentimentalitäten, mit denen heute echtes Mitempfinden ertränkt wird.
«Das bist auch du!»
Die 79 weiteren Kurztexte variieren, jeder in seiner ganz eigenen Form, diese Thematik. Vorfälle, die wir aus den Medien oder aus unserem Alltag «kennen», werden durchleuchtet, aber nicht im Gesamtbild, sondern in einem allerdings sprechenden Teilbild. Und dann vor einen Hintergrund gestellt, der auch wieder nur angedeutet ist. Aber diese Andeutungen rekurrieren immer auf das Zentrale, das ecce homo (siehe, dies ist der Mensch): Lieber Leser, liebe Leserin, das ist der Mensch, der sich so oder so verhält. Das bist auch du. Und wie findest du denn das? Diese Frage stellt jeder Text, gradlinig und unumgehbar. Gerade darin liegt seine Radikalität, die nicht aufs Tagespolitische oder rein Emotionale zielt, sondern auf die menschliche Betroffenheit. Tua res agitur – das bist auch du, es geht auch um dich. Das braucht beim Lesen schon Nerven, aber es ist nicht der moderne oberflächliche Nervenkitzel, sondern es ist der Nerv unseres Seins angesprochen. Unseres Menschseins, nüchtern, aber ernst.
Der letzte Text ist übrigens dem Amselgezwitscher gewidmet. Es steht für die Vitalität der guten Kräfte, diejenigen der Natur, zu der auch die Gattung Mensch immer noch gehört, auch wenn wir uns dessen zu wenig bewusst sind. Die uns eingeborenen Kräfte zum echten Betroffensein werden stärker, wenn wir uns freuen. Dass wir das immer noch können, wie die leider seltener gewordenen Amseln bezeugen, die trotz allem zwitschern, solange noch Blut in ihnen ist, steht nicht ganz, aber vorwiegend in unserer Hand. Hoffentlich finden wir den Weg. •
1 zitiert nach der Ausgabe Suhrkamp Taschenbuch st 57, 1979, ISBN 3-518-06557-2 -300, S. 7
Quellen:
Kaschnitz, Marie Luise. Steht noch dahin. Suhrkamp Taschenbuch st 57, 1979, ISBN 3-518-06557-2-300; Ausgabe 1990 im Buchhandel erhältlich
Pulver, Elsbeth. «Marie Luise Kaschnitz», in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hrsg. Arnold, Heinz Ludwig, Bd. 5
«All meine Gedichte waren eigentlich nur ein Ausdruck des Heimwehs nach einer alten Unschuld oder der Sehnsucht nach einem aus dem Geist und der Liebe neu geordneten Dasein […] überall habe ich nur versucht, den Blick des Lesers auf das mir Bedeutsame zu lenken, auf die wunderbaren Möglichkeiten und die tödlichen Gefahren des Menschen und auf die bestürzende Fülle der Welt. Den billigen Trost, den manche Leser vom Gedicht erwarten, habe ich nie geben wollen, und wenn meine Verse […] verständlich waren, so hängt das damit zusammen, dass mein Weg in der Lyrik mich von der Natur zum Menschen geführt hat und daß ich nie ganz vergessen konnte, daß ich mich Menschen mitteilte, freilich solchen, die die Mühe des Ungewohnten und nur langsam zu Begreifenden nicht scheuen.»
Aus: Dankrede von Marie Luise Kaschnitz (1901–1974)
anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1955
Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung:
https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/marie-luise-kaschnitz
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