bk. In der Ausgabe der Zeit-Fragen vom 21. März 2023 wurde ein bemerkenswertes neues Buch über «moderne Propaganda» vorgestellt. Der Autor fordert nebst der Aufklärung über die gängigen Manipulationsmethoden die Leserinnen und Leser auf, ihre Fähigkeiten und ihre Verantwortung als mündige Bürger wahrzunehmen und der schnöden Meinungslenkung entgegenzutreten. Er spricht von der Notwendigkeit, den Mut zu haben, «sich mit anderen und sich selbst zu konfrontieren», dies als stärkende Kerntugenden. Um sein eigenes Denken zu schärfen und für den kritischen Dialog gewappnet zu sein – um also Citoyen zu werden –, verweist der Autor auf die klassische Literatur, die den ganzen Fundus an Einsichten, Werten, Haltungen und sonstigen weltanschaulichen Aspekten enthält, auf denen die Errungenschaften wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Friedfertigkeit und Demokratie aufbauen, die im Laufe von Jahrhunderten erst erkämpft werden mussten.
In einem weiteren Beitrag wurde auch zum Lesen, konkret hier von Büchern des renommierten deutsch-französischen Journalisten und zugleich Islam- und Arabistik-Experten Peter Scholl-Latour als Antidot gegen das Infiltrationsgift aktueller, zutiefst erschreckender militaristischer und zugleich rassistischer Hetzerei angeregt.
Beim Lesen dieser beiden Artikel sind mir Worte und Haltung des Philosophen und Literaturwissenschaftlers Nuccio Ordine in den Sinn gekommen, den ich mit meiner Partnerin 2016 an der Universität von Cosenza in Kalabrien sowie 2017 in Tricase im äussersten Süden Apuliens anlässlich eines Literaturwettbewerbs, wo er als Redner eingeladen war, interviewt habe. Einige Monate vor dem Besuch 2016 war ich im französischsprachigen Radio (Jura) durch eine Radiosendung auf Ordine aufmerksam geworden. Sein dort besprochenes Bestsellerbuch «Von der Nützlichkeit des Unnützen. Warum Philosophie und Literatur lebenswichtig sind» wurde innert weniger Jahre in über 20 Sprachen übersetzt und ist überall auf viel begeistertes Echo gestossen. Als Wissenschaftler hat sich Ordine nach Studien in Harvard, Yale und an verschiedenen englischen und deutschen Universitäten als Renaissancespezialist einen Namen gemacht; bezüglich Giordano Bruno gilt er als einer der weltweit bedeutendsten Experten. Sein Buch, das Ordine einer breiten Öffentlichkeit bekanntgemacht hat, beinhaltet ein grossartiges Plädoyer für den oben erwähnten geistesgeschichtlich entwickelten Reichtum, den er der Jugend mit grossem Engagement versucht, zugänglich zu machen. Ordine lässt die Stimmen von Dichtern und Philosophen aus zwei Jahrtausenden, von Aristoteles und Ovid über Dante, Petrarca und Shakespeare bis zu Ionesco, Heidegger und David Foster Wallace erklingen. Das Lesen der Klassiker gehöre heute nicht mehr zum Kerncurriculum in den Schulen, dies mit weitreichenden Folgen für die Horizonterweiterung und ethische Durchbildung der Jugend.
«Was zum Teufel ist Wasser?»
Um den Sinn und die Essenz dieser Geistestradition den Leserinnen und Lesern klar vor Augen zu führen und die Folgen für die aktuelle schulische Bildung aufzuzeigen, zitiert Ordine eine kleine Anekdote, die der 2008 verstorbene Wallace einmal vor College-Absolventen erzählt hat: Zwei junge Fische schwimmen nebeneinanderher und begegnen einem älteren Fisch, der sie fragt, wie denn das Wasser sei. Die Jungen schwimmen weiter, bis plötzlich der eine den anderen fragt: «Was zum Teufel ist Wasser?»
Für Nuccio Ordine ist die Erklärung dieser Parabel glasklar: «Wir haben kein Bewusstsein davon, dass Literatur und Geisteswissenschaften, Kultur und Bildung das ideale Fruchtwasser abgeben, in dem sich unsere Ideen von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit, von Laizismus, Gleichheit, Recht auf Kritik, Toleranz, Solidarität und Gemeinwohl erst kraftvoll entwickeln können.» Es lohnt sich sehr, sein Buch in Ruhe zu lesen und darüber zu sprechen, zumal beim Leser bzw. der Leserin fast unausweichlich Gefühle des Staunens, der Bewunderung und des Respekts wachgerufen werden, was sich die Menschheit, sprich viele mutige, selbstlose Persönlichkeiten, den jeweiligen, oft gewaltvollen Machteliten zum Trotz an geistiger Freiheit, humaner Perspektive und daraus heraus an gesellschaftlichem Fortschritt im Namen ihrer Mitmenschen erkämpft hat. Das Curriculum an unseren weiterführenden Schulen hat sich von der Lektüre dieser Originaltexte weitgehend verabschiedet. Gemäss seinem kritischen Blick auf die Entwicklung der Bildungswesen in Europa ist es der utilitaristisch-technokratische Trend, der insbesondere seit der Bologna- und Pisa-Reform und dem demokratielähmenden Hebel des New Public Management das Schulwesen und die Hochschulen immer weiter in Richtung Marktkonformität gezwungen hat, den Ordine in aller Deutlichkeit dafür verantwortlich macht.
Nuccio Ordine: «Die Universität
bietet euch an, bessere Menschen zu werden»
Am 6. Mai 2017 sprach Ordine am besagten Literaturkongress in Tricase vor etwa 100 jugendlichen Schülerinnen und Schülern in einer Weise, wie man dies von einem Hochschulprofessor nicht gewohnt ist. Die Jugendlichen hingen an seinen Lippen. Am Nachmittag hatte ich Gelegenheit, mit Ordine ein Interview zu führen, das einen vertieften Einblick in sein Denken und Engagement als Humanist eröffnete und verständlich machte, warum es so bedeutsam ist, «die Klassiker» zu lesen.
Beat Kissling: Ich würde gerne mit der Frage beginnen, wie du als Hochschullehrer zu deiner Sichtweise gelangt bist, wie du sie in deinem berühmt gewordenen Buch beschreibst.
Nuccio Ordine: Es gibt zwei Probleme. Ich bin ja Professor für Literatur. Ich habe mir selbst die Frage gestellt, wie ich in meinem Unterricht der Literatur, also der klassischen Literatur, grossen Platz einräumen kann. Denn je länger, je mehr, wie ich heute Morgen den Jungen sagte, wird in den Schulen Literatur über das Lehrbuch oder mittels Anthologien vermittelt. Aber damit kann man das Interesse der Studenten nicht entfachen. Entscheidend ist die Person des Vermittlers, also der Professor. Ein guter Literaturprofessor kann die Literatur nicht lehren, ohne die Klassiker zu lesen. Das ist, als ob man Musik unterrichten könnte, ohne sich die Konzerte anzuhören. Man kann nicht Kunst lehren, ohne die Bilder zu zeigen. Man muss also stets vom Primärtext ausgehen. Wenn man so das Interesse der Studenten entfacht hat, kann man die verschiedenen Weisen der Auseinandersetzung ableiten: den philologischen oder philosophischen Diskurs, den historischen, die Geschichte der Literatur. Aber man muss vom Originaltext ausgehen. Denn um die Aufmerksamkeit der Studenten zu gewinnen, um sie so weit zu fördern und zu fordern, dass sie eine Liebe für einen Text empfinden, dafür braucht es den Originaltext.
Auf der anderen Seite ist das Problem, dass man sich im Ministerium, in der Regierung die Frage nicht stellt, wie man die Begeisterung der Studenten entfachen könne. Die Fragen, die sie sich stellen, sind bürokratische, nämlich z. B., wieviele Studenten eine Prüfung bewältigen. Es handelt sich um Statistiken, eine Art, wie man mit Unterricht umgeht, wie man Unterricht auf Zahlen oder Daten reduziert, was nichts zu tun hat mit der grundlegenden pädagogischen Mission. Ausgehend von der Überzeugung, dass die Universität nicht einfach ein Ort ist, wo man hingeht, um ein Diplom zu erwerben, sondern um als Mensch besser zu werden, habe ich begonnen, eine ganze Anzahl von Zitaten aus der klassischen Literatur zu suchen, die den Studenten zeigen, dass man um der Liebe zum Wissen selbst willen studieren muss und nicht, weil das Wissen ein Mittel ist, um Geld zu verdienen. Daraus erschliesst sich der richtige Weg, um später eine gute Anstellung zu finden, von selbst, weil sie fachlich und menschlich «besser» geworden sind.
Eine grosse Anzahl von Professoren kommt nicht zu solchen Einsichten bzw. Schlüssen. Gibt es spezielle Gründe, die verständlich machen, wie du dir dieses Bewusstsein erworben hast?
Die Erfahrung, die ich Jahr für Jahr an der Universität machte, als Berater des Departements, als Berater der Doktorate oder als sonstiger Berater, war fürchterlich. Wir nahmen an diesen Sitzungen nur mit dem Geist der Bürokraten teil. Es ging also um einen Geist, der dazu diente, Stellen auszuschreiben, um technische Probleme zu lösen, um Ressourcen zu verteilen. Unter uns Professoren gab es keine Diskussionen über die eigene Forschung, über unterschiedliche Auffassungen zur Erziehung bzw. Bildung. Niemand war daran interessiert, diese Dinge miteinander zu erörtern. Das Ministerium selbst war auch nicht interessiert. Alles wurde also eine Art Suche nach Profit, Beschäftigung mit bürokratischen Fragen, mit Standards. Ich fühlte mich isoliert.
«Der Allgemeinheit etwas zurückgeben,
was ich selbst erhalten habe als Kind»
Ich erinnere mich, dass du letztes Mal gesagt hast, du habest nicht viele Kollegen, mit denen du offen sprechen könnest …
Ja, nur mit sehr wenigen teile ich diese Freude. Aber meine Motivation, mich für die jungen Menschen zu engagieren, rührt aus dem Bedürfnis, auf eine Notwendigkeit zu antworten. Es geht darum, der Allgemeinheit etwas zurückzugeben, was ich selbst erhalten habe, als ich klein war. Das ist der Grund, warum ich mich so verbunden fühle mit dem Brief von Albert Camus. Deshalb habe ich geweint, als ich den «Ersten Menschen» gelesen habe.
Denn trotz der Distanz und dem Unterschied – das Algerien des «Ersten Menschen» war nicht Kalabrien, als ich klein war – gibt es etwas, was die beiden Texte und die beiden Lebenserfahrungen zusammenfügen lässt. Es ist, dass die Bildung, die Schule und die Universität das Leben eines Menschen verändern können. Heute denkt sich dies niemand, dass die Bildung, konkret die Schule und die Universität, das Ziel haben sollten, das Leben der Schüler/Studenten zu verändern. Es scheint, als ob es das höchste Ziel sein muss, zu diplomieren, Diplome zu verkaufen, dies den Klienten, die sie kaufen. Ausgehend davon habe ich begonnen zu überlegen, wie ich wenigstens meine Studenten überzeugen kann. Es handelt sich um zwei Ebenen im Diskurs. Es gibt zum einen die Ebene der eigenen persönlichen Praxis. Zum anderen gibt es die Ebene des politischen Kampfes, den man im grösseren Massstab führen kann. Ich glaube nicht, dass ich viel Kraft für einen Kampf im grösseren Massstab habe.
Der Erfolg meines Buches hat gezeigt, dass ich mit meiner Sichtweise nicht alleine stehe. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass ich in Italien 80 000 Exemplare verkaufen würde. Das ist aussergewöhnlich für ein Essay; dies ist angesichts der Krise der Herausgeber erstaunlich. Oder 50 000 in Spanien oder 45 000 in Frankreich. Aber abgesehen davon denke ich, dass man mit kleinen Revolutionen beginnen muss und nicht mit den grossen Revolutionen. Eine schöne Metapher für die kleinen Revolutionen ist der Kolibri, der einen kleinen Schluck Rosenwasser bringt, um das Feuer zu löschen, eine Geschichte aus meiner Kindheit. Ich habe immer veröffentlicht, habe mich eingemischt in das bürokratische Leben der Universität. Natürlich, ich kann es mir leisten, weil ich einen Status habe, wodurch ein Rektor oder sonst jemand mich nur schwer angreifen kann. Man hat einen Respekt, einen Raum, den ich mir schaffen konnte durch meinen Ruf, durch mein wissenschaftliches Werk. Ja, natürlich, der Ruf ist ein Schutz. Ansonsten hätte ich leicht angegriffen werden können, von links wie rechts. Meine Idee ist, dass jeder in seinem kleinen Bereich beginnen muss, kleine Revolutionen zu lancieren.
Du sprichst von der Politik als ein «grosses Theater», die Akteure auf der Bühne seien Ignoranten. Das hast du den Schülerinnen und Schülern heute morgen nicht vorenthalten, auch mit deinen Fragen: Was machen die eigentlich? Was sind dies für Entscheidungen, die da getroffen werden? Du hast einen äusserst klaren, prägnanten politischen Standpunkt.
Ich mache einen grossen Unterschied zwischen der Politik mit einem kleinen p und einer Politik mit einem grossen P. Die Politik mit einem kleinen p ist die Politik, die keinerlei Relevanz hat. Dies ist die Politik des kleinen Handels, der Basis im schlimmsten Sinne, was die Politiker eben heute betreiben. Aber alles, was wir auf dem kulturellen und politischen Niveau machen, hat ein grosses P. Im Moment, in dem wir die Schüler unterrichten, wenn wir die Menschen bilden, da ist das primäre Ziel, Menschen zu bilden, Bürger hervorzubringen.
Dies bedeutet, Männer und Frauen zu bilden, die in der Lage sind, zu reagieren im täglichen Leben mit einem freien, einem kritischen Denken, Widerspruch einzulegen, die ein Denken entwickeln, das es ihnen erlaubt, «nein» zu sagen. Das ist das Problem. Die Erziehung heutzutage tendiert mehr und mehr dazu, «Batteriehühner» zu erzeugen, also konformistische Menschen, die alle genau dasselbe sagen, die alle dasselbe tun. Das Ziel der Erziehung und Bildung der Schulen und Universitäten müsste sein, Häretiker hervorbringen zu wollen. Und wenn ich sage «Häretiker», dann meine ich dies im etymologischen Sinne des Wortes, also Menschen, die fähig sind, zu wählen. Die Häresie ist die Zumutung einer Wahl.
Wählen ist nicht einfach, denn um zu wählen, muss man wissen, fähig sein, ein Urteil zu entwickeln, ein kritisches Urteil. Also, zuerst muss man sich auskennen, um dann daraus eine Entscheidung zu entwickeln. Viele Menschen ziehen es vor, die Entscheidung abzuschieben auf andere, sie werden folgen, wie die Schafe dem Leitschaf folgen.
Arbeiten für die Humanität:
die Aufgabe von Schule und Wissenschaft
Aber die zentrale Idee der Kultur, des Wissens, der Kenntnis von jeder Disziplin lehrt dich, die Dinge für die anderen zu machen. Wenn man sich die grossen Menschen der Wissenschaft anhört, wenn man ein Buch über Utopie liest, z. B. eines der ersten Bücher über die Utopien der Wissenschaften, das «Neu-Atlantis» von Francis Bacon, wird dies deutlich: Die Weisen, die innerhalb des Tempels eingeschlossen sind, was machen diese? Sie arbeiten für die Humanität. Es gibt keine Geheimnisse. Das Motto: Was du machen musst, das darfst du nicht im persönlichen Interesse tun, sondern im universellen Interesse, im Sinne der Humanität. Das ist das Prinzip von Bacon, welches ein Prinzip geworden ist, das die Wissenschaften inspiriert hat.
Das Ziel der Lehre müsste vor allem sein, dass man versteht, wenn falsche Werte dominieren. Von denen gibt es viele, z. B. die Vorstellung, die Würde des Menschen zeige sich am Bankkonto; das ist nicht wahr. Die Würde des Menschen sind die grossen Werte, die man während des Lebens erleben kann. Jede Disziplin muss die Studentinnen und Studenten selbstverständlich befähigen, ihre Domäne zu kennen bzw. zu beherrschen, aber darüber hinaus muss die Disziplin sie auch dahin bringen, das Leben überhaupt zu verstehen. Dies gilt für die Humanwissenschaften und auch sonst in allen Bereichen der Wissenschaft. Während vieler Jahrhunderte war man der Überzeugung, dass die Erde im Zentrum des Universums sei und die Sonne um die Erde kreise. In der Bibel steht: «Sonne, stehe still!» Und die Kirche sagte, Kopernikus irrt. Denn die Aussage Kopernikus’ ist gegen die Aussage Gottes. Das ist eine enorme Dummheit. Denn, wenn man die Natur studieren will, muss man nicht die heiligen Bücher lesen. Die heiligen Bücher sind Bücher über das moralische Verhalten für die Menschen, die glauben wollen. Ich kann nicht im Koran oder in der Bibel die wissenschaftlichen Antworten finden.
Deine ethische Haltung kann sicherlich nicht erst an der Universität entstanden sein. Das muss weiter zurückreichen, vermutlich in die Kindheit … Kannst du etwas erzählen, woher du dies mitbringst?
Das war der Grund, warum ich vorhin sagte, dass es für mich eine Notwendigkeit war, auf eine Dankbarkeit zu antworten gegenüber den Lehrern, die ich hatte. Ich wurde in eine Familie geboren in einem kleinen Dorf in Kalabrien, in eine einfache Familie, was das intellektuelle Niveau betraf. Mein Vater und meine Mutter hatten beide die Schule bis zur mittleren Reife besucht. Ich wurde in einem Haus geboren, in dem es kein einziges Buch gab, in einem Dorf ohne Buchhandlung, Bibliothek, nichts.
Wie ist so ein Wunder möglich? Es war möglich, weil ich Lehrer hatte, die sehr gut waren. Dies war auf allen Niveaus so, während jeder Phase der Schulzeit, auf verschiedene Arten. Die einen so, die anderen anders. Ich hatte einige sehr bewundernswerte, die davon überzeugt waren, was sie taten. «Wenn ich bin, was ich bin», wie Albert Camus sagt, «dann ist es, weil ich die Chance hatte, einem Lehrer zu begegnen».
Du hast doch mal erzählt, dass du einen Lehrer hattest, der dir ermöglichte, selbst Bücher zu erwerben trotz deiner Mittellosigkeit.
Das ist eine andere Sache. Als ich im Gymnasium war, hatte ich einen Lehrer, der mich ermutigte, meine eigene Bibliothek zu schaffen. Ich konnte nicht all die Bücher kaufen: Petraca, Boccaccio, Dante, Eliot, Rilke … Damals gab es einen Bücherverkauf auf Raten; man konnte Monat für Monat zahlen. Ich war aber noch minderjährig. Ich war 15 Jahre alt. Meine Familie konnte es sich nicht leisten, mir so etwas zu kaufen. Ein Verlag hatte damals Vertreter, die in all den Dörfern unterwegs waren. Ein Vertreter kam auch ans Gymnasium, und der Lehrer übernahm die Garantie für mich, da ich noch minderjährig war, und so habe ich begonnen, meine erste Bibliothek einzurichten. Ich bezahlte eine lächerliche Summe. Dies war Monat für Monat so, und so hatte ich dann alle Bücher beisammen.
Wie hast du begonnen, dich für Petraca und die anderen zu interessieren – dies mit 15 Jahren?
Weil der Lehrer begann, mit mir diese Bücher zu lesen. Wir lasen diese Bücher zusammen. Zum einen im Gymnasium. Morgens war ich in der Schule, am Nachmittag bei diesem Lehrer. Ich verbrachte den ganzen Nachmittag bei diesem Lehrer zu Hause. Wir sind zusammen weggegangen und haben am Nachmittag miteinander über Literatur, Kino, Theater diskutiert. Wir waren eine Gruppe, zwei bis drei Kollegen und ich. Dieser Lehrer am Gymnasium wurde also sehr wichtig. Und danach an der Universität fand ich auch ausgezeichnete Lehrer. Ich konnte die Universität besuchen, denn die Universität war gerade erst in Kalabrien gegründet worden. Ich habe mich 1973 eingeschrieben.
Ohne Universität in Kalabrien hätte ich vielleicht keine Universität besucht. Zu dieser Zeit hat die Universität vorgesehen, dass die Studentinnen und Studenten mit den besten Resultaten bei den Prüfungen nichts bezahlen mussten. Ich habe nichts bezahlen müssen. Ich brauchte keine Miete zu zahlen, auch das Essen nicht, es war gratis. Ich hatte immer das Maximum bei den Prüfungsresultaten.
«Ein Leben, bei dem man nur an sich selbst denkt,
ist ein verlorenes Leben»
Eine These meinerseits: Damit man als junger Mensch eine solche Sensibilität für menschliche Werte hat, wie du sie beschrieben hast, muss man schon in der Familie etwas erlebt haben. Dies vielleicht nicht mit viel Begründung, Vertiefung … Aber die Eltern müssen Werte wie Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Nächstenliebe usw. vorgelebt bzw. vertreten haben, stelle ich mir vor.
Du hast recht in dem Sinne, wie du dies erklärt hast. Ich habe etwas gelernt, das man selten in der Schule lernt: Es ist die Einfachheit, diese habe ich in meiner Familie gelernt.
Wie meinst du das genau?
Ich werde dir das erklären: Einfachheit bedeutet, glücklich sein zu können, ohne etwas zu besitzen. Dass du z. B. glücklich sein kannst über die Pâtes, die Mutter zuhause gemacht hat – es ist etwas Feines zum Essen. Oder du hast einen Tag verbracht mit Spielen auf der Strasse mit deinen Kollegen oder weil du etwas geschaffen hast – ein Spiel –, was es vier bis fünf Personen erlaubt hat, einen vergnüglichen Nachmittag miteinander zu verbringen.
Es sind immer soziale Anlässe!
Genau. Es handelt sich nicht um etwas, das du alleine haben kannst. Und deshalb versteht man: Ein Leben, bei dem man nur an sich selbst denkt, ist ein verlorenes Leben, weil dies nicht wahr ist, es ist falsch. Du brauchst die anderen, du kannst nicht alleine leben. Deshalb das Bild von John Donne: Die Menschen sind keine Inseln, sondern die Menschen sind ein vereinigter Kontinent. Wenn ein Mensch verschwindet, ist es ein Stück des Kontinents, der verschwindet, dies ist ein Teil von mir, den ich verliere. Die Menschen, die das Mittelmeer überqueren und die mit einem Boot untergehen, das ist ein Teil von mir.
Oder stell dir vor: In New York, wenn du einen Unfall hast, kommt ein Wagen vom Spital. Das erste, das du gefragt wirst, ist, ob du eine Versicherung hast. Wenn nicht, dann lässt man dich auf der Strasse sterben. Ich finde eine Welt, die so funktioniert, ist eine schreckliche Welt. Fürchterlich! Fürchterlich! Man kann nicht in einer Welt leben, die einfach einen Menschen sterben lässt, weil er kein Geld hat, das Spital zu bezahlen.
Einfachheit und
der innerliche Tresor der Weisheit
Deine Familie muss doch eine sehr offene Familie gewesen sein?
Ich würde dies nicht nur über meine Familie sagen. Es ist der Kontext des kleinen Dorfes. Ich denke, auch die anderen haben dies gelernt. Und danach habe ich diese Haltung … es hat mir z. B. geholfen, die grossen Lehrer zu verstehen, die ich kennengelernt habe in meinem Leben, die wirklichen grossen Meister. Es waren bescheidene Menschen, es waren einfache Menschen, die sich selbst nicht als grosse Weise einschätzten. Sie waren es aber in Wirklichkeit. Da gibt es diese schöne Metapher, die von Erasmus und anderen verwendet wird, die von der Tafel Platons herkommt. Als man Platon bat, über Sokrates zu sprechen, sagt Alkibiades, Sokrates ähnle einer Silene. Was ist das? Die Silenen waren griechische Statuen; äusserlich erschienen sie als göttliche Mischwesen, als eine Art Pferd und gleichzeitig Menschen. Sie waren also sehr hybrid, erotisch und wirkten eher lächerlich. Aber wenn man die Statue öffnete, fand man darin die verborgene Göttlichkeit. Dies bedeutet: Das Äusserliche korrespondiert nie mit der Wirklichkeit. Wenn man Sokrates ansah, erschien er als unbedeutender Mensch. Aber wenn man Sokrates öffnet, findet man darin einen Tresor. Und umgekehrt: Bei Leuten, die sich so geben wie grosse Weise, findet man, wenn man sie öffnet, Leere darin. Dies bedeutet, die Erscheinung blendet uns und führt uns in die Irre. Im Unterschied zu Menschen, die in der Manier grosser Professoren sprechen, waren diejenigen grossen Persönlichkeiten, die ich gekannt habe, sehr bescheidene Menschen. Sie taten also nicht so, als ob sie grosse Weise wären. Das waren immer einfache Menschen. Das ist das, was ich meinte, wenn ich von Einfachheit spreche. Einfachheit bedeutet, dass du der bist, der du bist. So sein, wie man ist, ohne Theater zu spielen, wenn du sprichst; deine Humanität immer zu bewahren. Der Erfolg kann die Humanität der Menschen durcheinanderbringen.
Die Universitätsprofessoren gehören ja im allgemeinen zur Kategorie der Wissenden, der Elaborierten, die sich laut Macchiavelli von der Masse der «einfachen» Abhängigen unterscheiden. Die Frage ist, was sich in Kultur und Gesellschaft ändert, wenn sich eine Gesellschaft in eine inhumane Richtung entwickelt. Ich finde es sehr interessant, wie du die Veränderung analysierst im Denken, in der Lebensweise …
Die Macht hat immer einen sehr konfliktreichen Bezug zum Wissen behalten. Wenn du die Macht behalten willst, musst du eine Elite sein. Und normalerweise ist es eine Elite, die Bescheid weiss, die Bildung hat. Wenn du nicht lesen und schreiben gelernt hast, du nichts weisst, ist es schwierig, die Macht zu halten. Diese Elite hat immer gedacht, das Einfachste ist, wenn man die Menschen in der Ignoranz hält. Dann ist es einfach, sie zu manipulieren. Man kann ihnen Geschichten erzählen, sie glauben machen, dass … Das ist das, was von Zeit zu Zeit im Internet geschieht. Man sagt, im Internet sei die Wahrheit, sei Information. Das ist nicht wahr. Im Internet ist die Lüge Tag für Tag. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, eine Contre-Verité über das Internet zu verbreiten.
Ich gebe ein Beispiel: Als die Revolten in Libyen, in Tunesien, in Ägypten stattfanden, war das Internet die Quelle bzw. das Medium, über das die aufständische Bevölkerung miteinander kommunizieren konnte. Das Internet ist ein Instrument. Man kann es verwenden wie alle Dinge: zum Guten wie zum Schlechten. Wissen über das Internet erlangen zu wollen, ist ein Problem. Denn, wie ich schon öfter erklärt habe, das Internet ist für die Leute gemacht, die schon Bescheid wissen, nicht für die Leute, die nicht Bescheid wissen. Das Problem im Internet ist, unterscheiden zu können zwischen wertvoller Information und Ignorantentum oder Desinformation. Das ist heute ein grosses Problem. Ein Junger, der nichts über Giordano Bruno weiss und Bruno übers Web studieren wird, der findet 90 Prozent Einträge, die vollkommen dement sind. Das ist von Leuten gemacht, die von irgend etwas schwatzen. Jedermann kann da etwas reinschreiben. Man muss kein Studium in Oxford machen, um über Giordano Bruno im Internet etwas zu schreiben. Wenn ich einen Artikel für eine Enzyklopädie schreibe, gibt es ein wissenschaftliches Komitee, das den Inhalt prüft.
Ich rate meinen Studenten immer: Lest ein gutes Buch, lest Bruno, lernt ihn kennen und dann erst konsultiert das Internet und profitiert davon.
Das ist tatsächlich ein Problem, neigen doch viele Studierende dazu, ganz schnell im Internet nachzusehen, um Material zu finden, wenn sie eine Arbeit schreiben müssen.
Sie machen copy-paste. Das machen sie unkritisch, ohne zu überlegen, nur, um die Seiten zu füllen. Deshalb sage ich, ich sei nicht dagegen, aber in der Schule ist es besser, die Studierenden zu «entgiften». Denn schon zu Hause verbringen sie Stunden um Stunden vor dem Computer, vor einem iPhone, vor Facebook und den Games. So ist es besser, wenn sie in der Schule etwas machen, was gar nichts damit zu tun hat.
Das Privileg, eine Schule, einen Lehrer
zu haben, wofür kein Opfer zu gross ist
Im Zusammenhang mit der unschätzbaren Bedeutung der Schule für unsere Kinder und Jugendlichen erinnere ich mich an den Film «Auf dem Weg zur Schule», in dem Kinder im Alter von 8–12 Jahren auf ihrem anspruchsvollen, teils gefährlichen Weg gezeigt werden. Sie nehmen selbstverständlich und klaglos die enormen Beschwerlichkeiten auf sich, weil sie in die Schule wollen …
Ja, das ist so, weil es für sie ein grosses Privileg ist, eine Schule zu haben, einen Lehrer zu haben, ein Privileg, wofür kein Opfer zu gross ist. Unsere Kinder haben einen Bus, der sie in die Schule fährt, alles ist gegeben, alles ist gratis, das ist ein grosser Fehler. Ich glaube, in der Erziehung muss man den Gedanken legen, dass Wissen nicht ein Geschenk ist, das einem in den Schoss gelegt wird. Wissen ist eine Eroberung. Ich habe in meinem Leben lesen und schreiben gelernt – eine völlig andere Perspektive als meine Eltern, die weder richtig lesen noch schreiben konnten. Da versteht man, dass Lesen und Schreiben dein Leben verändern kann. Und deshalb machst du das, weil du weisst, dass es dein Leben verändern wird, nicht, um ein Diplom zu ergattern. Das ist die Chance. Das, was du machen wirst, wird dein Leben völlig verändern. Heute haben die Studierenden davon keine Ahnung, keine Vorstellung, sie kommen, es gibt Hörsäle, die Professoren, Computer, alles ist gegeben. Es fehlt der Effort, das alles zu erobern. Professoren hätten den Auftrag, den Schülern bzw. Studierenden zu zeigen, dass sie zum Lernen die Herausforderung annehmen, sich also anstrengen müssen.
Dazu gibt es eine schöne Stelle bei Rilke. Zur Frage, was man braucht, um ein guter Dichter zu werden, sagt Rilke, ein guter Dichter müsse vor allem warten können und Geduld haben. Es sei die Langsamkeit, die die Dinge entstehen bzw. wachsen lasse, nicht das Schnelle. Ergänzend sagt Rilke aber auch: Man müsse immer das Leben suchen, den schwersten Weg, weil es das Schwierige ist, dass uns besser forme. Das einfach Erworbene forme uns nicht.
Auch von Wittgenstein gibt es eine sehr schöne Passage dazu. Er meint: «Ich bin nicht stolz auf die Dinge, die ich gelernt habe. Ich bin stolz auf das Opfer, das ich erbringen musste, um etwas zu lernen. Und dieser Effort, der gibt mir heute das Recht des Wortes, das Recht auf das Wort.»
Herzlichen Dank für das bereichernde Gespräch! •
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