Wie die Europäer zum Marsch gegen Russland gezwungen werden

von Patrick Lawrence*

Zürich – Bin ich der einzige US-Amerikaner, der ins Ausland reist und sich durch das Verhalten der Diplomaten, die Washington ins Ausland schickt, um für unsere Republik zu sprechen, in Verlegenheit gebracht fühlt? Es ist schon seltsam, wenn man sich als normaler Bürger für die aufdringlichen, einschmeichelnden, schikanierenden und anderweitig groben Äusserungen dieses oder jenes Botschafters in diesem oder jenem Land entschuldigt. Aber so sind die Dinge nun einmal, wenn das Imperium in der Spätphase seine Ellbogen in Form seiner Undiplomaten ausfährt – ein Begriff, den ich mir von den Schweizern abgeschaut habe, die in diesem Moment einen solchen erleiden.

Scott Miller, der seit etwas mehr als einem Jahr Botschafter des Biden-Regimes in Bern ist, ist in dieser Hinsicht erste Sahne. Seiner oft geäusserten Meinung nach ist er in der Schweiz, um den Schweizern zu sagen, was sie tun sollen. Im Moment ist Miller im ganzen Land unterwegs, weil die Schweiz sich am Stellvertreterkrieg Washingtons gegen Russland in der Ukraine nicht beteiligt – indem er Minister unter Druck setzt, diejenigen verunglimpft, die die Weisheit des Krieges in Frage stellen, und die Schweizer in Reden und Zeitungsinterviews beleidigt. Es ist ein Angriff auf die lange, lange Tradition der Neutralität der Schweiz, der in der Art eines kaiserlichen Prokonsuls geführt wird, der eine abtrünnige Provinz diszipliniert. Schweizer Kommentatoren fragen sich, warum das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) diesen tauben Ignoranten nicht des Landes verwiesen hat.
  Wir sollten Menschen wie Miller und ihren Aktivitäten Aufmerksamkeit schenken, auch wenn sie in unseren Medien nur selten Schlagzeilen machen. Es ist inzwischen fast in Vergessenheit geraten, aber die Europäer wurden effektiv dazu gezwungen – und gelegentlich auf Führungsebene bestochen –, den Amerikanern zu folgen, als diese den ersten Kalten Krieg angezettelt und geführt haben. Es ist ratsam, diesen Prozess in Echtzeit zu beobachten, damit die Realitäten des Kalten Krieges II nicht so leicht verdunkelt werden.

Illegale diplomatische Interventionen

Gemäss dem Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen, das seit 1961 in Kraft ist, ist es Diplomaten untersagt, sich in die inneren Angelegenheiten des Gastlandes einzumischen. Das US-Aussenministerium kümmert sich in letzter Zeit ebenso sehr um dieses von der Uno geförderte Abkommen wie um das internationale Recht insgesamt: wenig bis gar nicht, wie Sie feststellen werden, wenn Sie diese Männer und Frauen aus der Nähe beobachten.
  Ich weiss nicht, wann diese Verstösse gegen die Etikette und sogar gegen das Gesetz begonnen haben, aber im Moment sind illegale diplomatische Interventionen in die Politik anderer die Anti-Konventions-Konvention des US-Aussendienstes. Diese Nötigungen sind der Schlüssel zu der konzertierten Kampagne des Biden-Regimes, die Welt erneut in konfrontative Blöcke aufzuteilen und jede Spur von prinzipientreuer Neutralität auszulöschen, das sollten wir nicht übersehen. Die Finnen haben nachgegeben und sind gerade der Nato beigetreten. Die Schweden können wir in dieselbe Schublade stecken. Jetzt sind es die Schweizer und ihre Neutralität in internationalen Angelegenheiten, die den Kopf hinhalten müssen. Das ist die Sache mit den liberalen Imperialisten: Sie können keine Abweichung von ihren unliberalen Orthodoxien dulden. Es war George W. Bush, der der Welt bekanntlich sagte: «Entweder sind Sie auf unserer Seite oder auf der Seite der Terroristen.» Amerikanische Liberale, die als Diplomaten eingesetzt werden, können von diesem Gedanken nicht genug bekommen.

Verfall der Diplomatie: Andrij Melnyk

Wenn Sie über den Verfall der Diplomatie hin zu plumpen Forderungen, die Gastgeberländer müssten sich den Wünschen anderer Mächte beugen, sprechen wollen, müssen Sie mit Andrij Melnyk beginnen, dem stumpfen Instrument, das die Ukraine bis Mitte 2022 in Berlin vertrat – dann fand sogar das Selenski-Regime, dem es nie an pubertärem, beleidigendem Verhalten mangelte, Melnyks Verhalten zu viel des Guten. Melnyk fand nichts dabei, deutsche Minister «verdammte A****löcher» zu nennen, wenn sie die Sinnhaftigkeit der Bewaffnung der Ukraine in Frage stellten, und feierte offen Stepan Bandera, den russophoben Judenmörder, der vor und während des Zweiten Weltkriegs mit dem Dritten Reich verbündet war.
  In Sachen Vulgarität ist Melnyk unübertroffen. Ich vermisse den Kerl, ganz ehrlich. Amerikanische Diplomaten wirken zwar geschliffener, aber sie stehen Melnyk in nichts nach, wenn es um die selbstgerechte Anmassung geht, dass das, was Washington von anderen verlangt, auch das ist, was andere tun sollten.

Richard Grenell

Man hat es schon kommen sehen, als Mike Pompeo, Trumps Aussenminister, Richard Grenell 2018 zum Botschafter in Berlin ernannte. Grenell drohte unter anderem deutschen Unternehmen mit Sanktionen – und zwar öffentlich – für den Fall, dass sie sich an dem Nord-Stream-2-Pipelineprojekt beteiligen würden, das, wie Seymour Hersh gründlich und überzeugend berichtet hat und dem nicht wesentlich widersprochen wurde, das Biden-Regime im vergangenen Jahr in einer verdeckten Operation zerstört hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte er Angela Merkel für die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen in der Bundesrepublik im Jahr 2015 in die Pfanne gehauen. Seine umfassendere Mission, so erklärte Grenell, bestehe darin, rechtsgerichtete europäische Führer zu ermutigen: Sebastian Kurz, der Rechtspopulist, der zu Grenells Zeiten als österreichischer Bundeskanzler amtierte, war in den Augen des amerikanischen Botschafters «ein Rockstar».

Diplomatie der Undiplomatie

Man kann das vielerlei Dinge nennen, aber Diplomatie gehört nicht dazu. Ich nenne es einen Gradmesser für den Verlust des Interesses Washingtons an Dialog, Verhandlungen, Kompromissen – insgesamt an einem Verständnis für andere Länder und deren Interessen. Es ist die Diplomatie der Undiplomatie, wie ich bereits an anderer Stelle bemerkt habe. Diplomaten sind eigentlich die Hüter des Vertrauens zwischen den Staaten: Eine gute Staatskunst erfordert, dass sie in der Lage sind, auch oder vor allem mit Gegnern zu sprechen. Aber die politischen Cliquen in Washington zeigen sich gleichgültig gegenüber dem Vertrauen, sogar unter Verbündeten, zugunsten sturen Gehorsams.
  Die Welt verdunkelt sich in vielerlei Hinsicht. Dieser Zusammenbruch der traditionellen Staatskunst ist ein sicheres Zeichen für unseren nicht gerade allmählichen Abstieg in eine Barbarei, die uns alle beunruhigen sollte.

Scott Millers Irrglaube über die Schweiz …

Kommen wir zum Fall des Botschafters Miller, der im Januar 2022 als Beauftragter des Biden-Regimes in Bern eintraf.
  In den letzten Monaten hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die Schweiz dazu zu bewegen, ihre Neutralitätspolitik aufzugeben und Waffen aus Schweizer Produktion an die Ukraine zu liefern, und gleichzeitig das Verbot für andere Länder aufzuheben, Schweizer Waffen an das Kiewer Regime zu exportieren.

Historisch gewachsene Neutralität aufgeben?

Das ist schon auf den ersten Blick ein Irrglaube. Ich würde sagen, dass der Versuch, die Schweizer zu überreden, ihre Neutralität aufzugeben, dem gleichkommt, den Amerikanern zu sagen, sie sollten die Unabhängigkeitserklärung beiseite legen, mit dem Unterschied, dass das Neutralitätsprinzip in der Schweizer Geschichte viel weiter zurückreicht. Der Wiener Kongress garantierte der Confoederatio Helvetica, so der offizielle Name der Schweiz, formell den neutralen Status, als er 1815 eine neue europäische Ordnung entwarf. Bis dahin hatten sich die Schweizer schon seit dem späten Mittelalter als neutral in internationalen Angelegenheiten bezeichnet.
  Aber wen kümmert das alles? Wen kümmert es, dass die Schweizer stolz darauf sind, was sie durch ihre neutrale Rolle im Weltgeschehen erreicht haben – nicht zuletzt, aber nicht nur während und nach dem Zweiten Weltkrieg? Wen kümmert es, dass die Schweiz, weil sie formell neutral ist, seit 1961 die amerikanischen Interessen in Kuba und seit der Revolution von 1979 im Iran vertritt? Wen kümmert es, dass Genf eine Stadt ist, die, abgesehen von den Uhren, von ihrem Engagement für die Vermittlung lebt und in der zu viele Verhandlungen stattgefunden haben, um sie zu zählen?
  Nicht Botschafter Miller.

Waffenexporte?

Sicherlich auf Anweisung des Blinkenschen Aussenministeriums drängt Miller die Schweizer in Reden und öffentlichen Foren dazu, die seit langem geltende Bestimmung aufzuheben, dass Länder, die in der Schweiz hergestellte Waffen kaufen, diese nicht reexportieren dürfen, sowie ihre Entschlossenheit, keine Waffen an Länder im Krieg zu verkaufen. Es zeugt von der Verzweiflung des Biden-Regimes, dass die Schweizer, deren Rüstungsexporte sich auf 900 Millionen Dollar pro Jahr belaufen, plötzlich unverzichtbar sind, um die Ukraine vor einer Niederlage zu bewahren.
  Die Schweizer sind diesbezüglich alles andere als unverzichtbar. Der Gedanke ist lächerlich. Meines Erachtens ist die Absicht weitaus heimtückischer. Es geht darum, jeden Gedanken an Neutralität unter den Ländern zu beseitigen, und zwar mit der (unerklärten, aber offensichtlichen) Absicht des Biden-Regimes, alle für einen schönen, langen, profitablen neuen Kalten Krieg auf seine Seite zu bringen.

Konfiszierung russischer Vermögen?

Bei seiner Ankunft schimpfte Miller über Schweizer Beamte, die den Sinn der von den USA und der Europäischen Union gegen Russland verhängten Sanktionen in Frage stellten. Die Schweizer Regierung hat die Sanktionen, die auf den Ausbruch der Feindseligkeiten im letzten Jahr folgten, widerwillig und umstritten mitgetragen, aber Miller hat Bern gedrängt, nicht nur weitere Gelder, die von russischen Oligarchen angelegt wurden, zu beschlagnahmen, sondern sie zu konfiszieren, damit sie nach Kiew geschickt werden können, um den eventuellen Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren.
  Eine solche Konfiszierung ist schlichtweg illegal – etwas, das den USA völlig egal ist, der Schweiz aber sehr wichtig. Als zwei Journalisten der «Neuen Zürcher Zeitung» ihn vor ein paar Wochen in einem Interview danach fragten, zog sich Miller in die wattebauschige Sprache zurück, die Amerikaner üblicherweise von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hören. «Das erfordert einen internationalen Dialog», antwortete Miller. «Wir gehen davon aus, dass wir einen Weg finden werden.»
  Mit anderen Worten: Wir bestehen darauf, dass Sie internationales Recht brechen, aber keine Sorge. Wir machen das ständig.
  Als die Korrespondenten der «Neuen Zürcher Zeitung» darauf hinwiesen, dass der Schweizer Bundespräsident Alain Berset kürzlich die Schweizer Neutralität verteidigt und zu baldigen Verhandlungen zur Beendigung des Krieges aufgerufen hatte, antwortete Miller: «Jeder kann zu Verhandlungen aufrufen.»
  Schön. Amerikanische Diplomatie von ihrer besten Seite. Oder in ihrer typisch schlechtesten Form dieser Tage.

Loch im Donut?

Es ist bekannt, dass Miller sich in die Beratungen der Minister über die Sanktionen und die Waffenverkäufe eingemischt hat und an einer Stelle damit geprahlt hat, dass hohe EDA-Beamte «wissen, was wir erwarten». Aber es war eine Bemerkung, die Miller während des Interviews mit der «Neuen Zürcher Zeitung» gemacht hat, die ihn bei den Schweizern in einen sehr schlechten Ruf gebracht hat. «Die Nato ist gewissermassen ein Donut», sagte er mit erlesener Unsensibilität, «und die Schweiz das Loch in der Mitte.»
  Die darauf folgende Empörung hat mir sehr gefallen. Er habe die Schweiz als «Nichts inmitten eines fettigen amerikanischen Süssgebäcks» bezeichnet, rief Roger Köppel, ein populistischer Abgeordneter des Nationalrats, einer der beiden Kammern der Legislative, aus. «Bern hätte Miller umgehend rüffeln sollen.»

Für die Mehrheit der Schweizer inakzeptabel

Das hätte es tun sollen, aber es hat es nicht getan. Die einzigen Wähler, die mit Millers widerwärtigem Drängen sympathisieren, sind Teile der Geschäftswelt, die davon profitieren würden, wenn die Schweiz ihre Neutralität aufgeben würde, um den Amerikanern und den mit ihnen verbündeten -politischen Gruppierungen zu gefallen. Miller wird bleiben, aber die grosse Mehrheit der neun Millionen Schweizerinnen und Schweizer wird einen so grundlegenden Wandel in der Politik – und auch in der nationalen Identität – unter keinen Umständen akzeptieren.
  Dies führt mich zu einem noch wichtigeren Punkt. Miller kann über sein Engagement für die Demokratie schwadronieren, wie er will, aber sein Verhalten seit seiner Ankunft in Bern zeigt, dass er sich einen Dreck um die Schweizer Demokratie schert – eine beeindruckende direkte Demokratie –, wenn sie Washingtons imperiale Bestrebungen behindert. Sagen Sie mir bitte nicht, dass Sie schockiert sind: Amerikanische Diplomaten vertreten nicht mehr die Amerikaner im Ausland. Sie vertreten die amerikanischen Eliten gegenüber den Eliten anderer Länder.

Ernennung nach Bern gekauft?

Miller ist 43 Jahre alt und kam mit seinem Partner ohne einen einzigen Tag Erfahrung in der Staatskunst an. Gemeinsam waren und bleiben sie Grossspender der Demokratischen Partei, was den Anschein erweckt, dass sie die Ernennung nach Bern gekauft haben – eine gängige Praxis zumindest seit den Reagan-Jahren. Scott Miller ist ein Beispiel für den Preis, den solche Praktiken für unsere Institutionen in bezug auf ihre Kompetenz bedeuten.

Krieg gegen die Neutralität – auch von Deutschland aus

Der Krieg gegen die Neutralität – und damit gegen Souveränität und Selbstbestimmung – geht weiter. Letzte Woche berichtete «Le Temps», die führende Genfer Tageszeitung, dass der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz Bundespräsident Berset während seines Besuchs in Berlin mit der Forderung konfrontierte, dass die Schweiz «zu unbequemen, aber richtigen Entscheidungen» zur Neutralität, zu Waffenverkäufen und zur Ukraine-Frage bereit sein solle. «Wir hoffen, dass wir dort möglichst bald konkrete Ergebnisse sehen werden», fügte Scholz mit dem Feingefühl von … Scott Miller hinzu.
  Bestimmte Dinge werden nicht erledigt werden. Die Amerikaner werden dieses Spiel nicht gewinnen, egal, wie viele unterwürfige Olaf Scholzs sich bei den Schweizern für sie einsetzen. Berset hat keine Zeit damit verschwendet, dies in Berlin deutlich zu machen.
  Mir hat die Reaktion von Benedict Neff gefallen, einem Kommentator der «Neuen Zürcher Zeitung», nach Millers Loch-im-Donut-Bemerkung. Diplomaten wie Miller «gehen ein erhebliches Risiko ein», schrieb er. «Sobald ihre öffentlichen Rügen als zu herrisch empfunden werden, lösen sie Abwehrreaktionen aus.» Wenn die Undiplomaten «das Instrument zu oft einsetzen, schaden sie den Interessen ihres eigenen Landes. So ist das System weitgehend selbstregulierend.»
  Es ist nicht immer so mit den Europäern – Scholz ist Beweis genug dafür –, aber es ist so, wie es sein sollte und wie man hofft, dass es sein wird.  •

Quelle: ScheerPost vom 25. April 2023

(Übersetzung Zeit-Fragen)

 



Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein letztes Buch ist «Time No Longer: Americans After the American Century», Yale, 2013. In Kürze erscheint sein neues Buch «The Journalists and Their Shadows» bei Clarity Press. Auf Twitter fand man ihn bei @thefloutist, bis er ohne Begründung zensiert wurde. Seine Webseite lautet patricklawrence.us. Unterstützen Sie seine Arbeit über patreon.com/thefloutist.

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK