2023 war ein Jahr des Wandels

von William Scott Ritter*

Das Jahr 2023 war ein Jahr des Wandels. Es markierte die Realität einer Welt, die sich von der amerikanischen Hegemonie weg und hin zur Unsicherheit einer noch zu definierenden multilateralen Realität wandelt. Dieser Wandel war von vielen Ereignissen geprägt – hier sind die fünf wichtigsten.

Die gescheiterte
 ukrainische Gegenoffensive

Die mit Spannung erwartete ukrainische Gegenoffensive im Frühjahr/Sommer war vielleicht das am meisten propagierte Ereignis des Jahres; es war eine Art Nato-Version der deutschen Ardennen-Offensive vom Dezember 1944 – ein letztes Aufbäumen, bei dem alle verbliebenen Reserven in einen verzweifelten Versuch gesteckt wurden, einem Gegner, der die strategische Initiative ergriffen hatte, den Todesstoss zu versetzen. Jeder vernünftige Militäranalytiker hätte vorhersagen können, dass eine ukrainische Niederlage unvermeidbar ist – man kann nicht ernsthaft von einem Frontalangriff auf eine stark verteidigte, gut vorbereitete Abwehrstellung sprechen, wenn Streitkräfte eingesetzt werden, die für diese Aufgabe weder ausgerüstet noch organisiert oder ausgebildet sind.
  Das Ausmass der Täuschung, das die ukrainischen und die Nato-Erwartungen umgibt, unterstreicht nur die Verzweiflung, die ihrer Sache zugrunde liegt – die Unterstützung des Westens für die Ukraine war stets oberflächlicher Natur, wobei die Innenpolitik die globale Realität übertrumpfte. Die Ignoranz derjenigen, die glaubten, die Ukraine könne die russischen Verteidigungsanlagen durchbrechen, wurde von denjenigen noch übertroffen, die glaubten, dass durch das Zusammenwirken von Wirtschaftssanktionen und einem ewigen Krieg gegen die Ukraine eine Maidan-Bewegung in Moskau hervorgerufen werden könne.
  Die Gegenoffensive ist Ausdruck der Russophobie, die den kollektiven Westen erfasst hat, wo Unwissenheit über Fakten triumphiert und Wahnvorstellungen an die Stelle der Realität treten. Die gescheiterte Gegenoffensive der Nato und der Ukraine hat Russland keineswegs geschwächt, sondern sich vielmehr als Quelle für ein mächtigeres, selbstbewussteres und widerstandsfähigeres Russland erwiesen, das sich nicht länger zu einem Mitglied zweiter Klasse innerhalb der Weltgemeinschaft herabstufen lässt.

7. Oktober – der Krieg
 zwischen Israel und Hamas

Am 6. Oktober 2023 stand Israel an der Weltspitze. Es hatte die Regierung von US-Präsident Joe Biden dazu gebracht, eine Zwei-Staaten-Lösung in der Palästina-Frage zu vergessen. Statt dessen vertrat es die Vision eines Gross-Israel, das den fortgesetzten Diebstahl palästinensischen Landes durch die uneingeschränkte Unterstützung illegaler israelischer Siedlungen beschönigte. Statt dessen konzentrierte es sich auf die umfassenderen geopolitischen Vorteile von normalisierten Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Golf-Staaten. Die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) galten als das beste Militär in der Region, unterstützt von einem Geheimdienst und einem Sicherheitsapparat, der den legendären Ruf hatte, alles über alle potentiellen Feinde zu wissen.
  Dann kam der 7. Oktober und der Überraschungsangriff der Hamas.
  Das Gerede von einer israelisch-arabischen Normalisierung ist vorbei. Die IDF werden von der Hamas blamiert und von der Hizbullah besiegt. Der israelische Geheimdienst wurde als leere Hülle entlarvt, deren grösste Errungenschaft ein KI-gestütztes Zielsystem ist, das die Tötung von palästinensischen Zivilisten erleichtert.
  Die neue Realität des Nahen Ostens ist nun von zwei zusammengehörigen Sachverhalten geprägt: der Notwendigkeit eines palästinensischen Staates und der Unvermeidbarkeit einer strategischen israelischen Niederlage. Die Wege zur Lösung jedes dieser Sachverhalte werden nicht einfach zu beschreiten sein, und sie werden sich eher über Jahre als über Monate erstrecken. Aber eines ist sicher – diese neue geopolitische Realität wäre ohne die Ereignisse des 7. Oktober nicht möglich gewesen.

Afrika – die Sahel-Revolte

Innerhalb von drei Jahren hat sich Françafrique, die postkoloniale, von Frankreich dominierte Einflusssphäre in der afrikanischen Sahelzone, vom französischen Einfluss entkoppelt. Françafrique war das Sprungbrett für die französisch geführte Macht der USA und der EU in dieser Region der Welt. Zu dieser militärischen Machtprojektion gehörte der Versuch, die Kräfte des islamischen Aufstandes zu besiegen. Am Ende standen Demütigung und Niederlage. Herbeigeführt wurde dies durch Nationalisten, die profranzösische Regierungen stürzten und sie durch antifranzösische Militärregierungen ersetzten. Beginnend mit Mali im Jahr 2021, gefolgt von Burkina Faso im Jahr 2022 und schliesslich Niger im Jahr 2023. Der Niedergang der Françafrique-Komponente in der Sahelzone war ebenso dramatisch wie einschneidend. Weder Frankreich noch seine Unterstützer konnten anscheinend etwas tun, um die antifranzösische Stimmung in der Region umzukehren. Letztlich scheiterte die Drohung einer militärischen Intervention von aussen, um den Staatsstreich im Juli 2023 in Niger rückgängig zu machen, an der einheitlichen kollektiven Verteidigungshaltung der drei ehemaligen französischen Kolonien.
  Die dramatische Verdrängung Frankreichs aus der Region ging mit dem Aufstieg einer neuen regionalen Macht einher: Russland. Die Entstehung des neuen regionalen Dreierbündnisses zwischen Mali, Burkina Faso und Niger fiel mit einer selbstbewussteren russischen Aussenpolitik zusammen. Diese strebte gemeinsame Sache mit einem Afrika an, das immer noch unter den Fesseln der postkolonialen Existenz litt, die sich in geopolitischen Beziehungen wie denen unter Françafrique manifestierten. Der russische Ansatz wurde durch den Erfolg des russisch-afrikanischen Gipfels, der im letzten Sommer in St. Petersburg stattfand, und die wachsenden wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen Russland und vielen afrikanischen Staaten – darunter Mali, Burkina Faso und Niger – bestätigt, die seitdem entstanden sind. Es scheint, dass die russische Trikolore die französische Flagge als einflussreichstes Symbol für das ausländische Engagement in dieser Region abgelöst hat.

BRICS

Im Jahr 2022 war China Gastgeber des 14. Gipfeltreffens des Wirtschaftsforums von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Es ist am besten unter dem Akronym bekannt, das sich aus den Anfangsbuchstaben seiner fünf Mitgliedsländer zusammensetzt: BRICS. Auf diesem Gipfel strebten die BRICS nach Erweiterung, konnten aber nicht mehr erreichen, als über die Schaffung eines sogenannten «Währungskorbs» zu sprechen, der die globale Vorherrschaft des US-Dollars in Frage stellen sollte, und sehnsüchtig von der Möglichkeit zu sprechen, ihre Mitgliedschaft für andere Staaten zu öffnen.
  Dann kam der 15. BRICS-Gipfel, der in Südafrika stattfand. Von einem Forum, das über ungenutztes Potential verfügte, explodierten die BRICS auf der internationalen Bühne zu einem multilateralen Konkurrenten der US-amerikanischen Einzigartigkeit. Die BRICS-Staaten stellten sich als ernstzunehmende Herausforderer der von den USA auferlegten «regelbasierten internationalen Ordnung» auf, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den globalen geopolitischen Diskurs beherrscht hatte. Die Ereignisse, die dazu beitrugen, die BRICS auf der Bühne der globalen Relevanz in den Vordergrund zu rücken, stellten sozusagen einen vollkommenen Sturm geopolitischen Unheils dar: Die Niederlage des kollektiven Westens gegen Russland in der Ukraine, der Zusammenbruch der Françafrique in der Sahelzone und die zunehmende Dominanz Chinas in der globalen Wirtschaftsrealität.
  Der von Südafrika ausgerichtete BRICS-Gipfel erwies sich als vollständiger Kontrapunkt zum zweifachen Pathos des G-7-Gipfels im japanischen Hiroshima und des Nato-Gipfels in litauischen Vilnius. In Japan und Litauen wurde der Welt die Ohnmacht des Westens deutlich vor Augen geführt. In krassem Gegensatz dazu bot die Potenz des BRICS-Phänomens eine multilaterale Alternative, die sich für viele Nationen als attraktiv erwies, einschliesslich der sechs Länder, die im Rahmen der Expansionsstrategie in die BRICS aufgenommen wurden (Argentinien, Ägypten, Iran, Äthiopien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, obwohl Argentinien seine Mitgliedschaft nach der Wahl von Javier Milei zum Präsidenten im Dezember 2023 zurückzog), und der vierzehn anderen Nationen, die formell einen Beitrittsantrag für das Jahr 2024 gestellt haben, in dem Russland den Vorsitz übernimmt. BRICS hat G7 hinsichtlich ihrer kollektiven wirtschaftlichen Schlagkraft überholt, und der geopolitische Einfluss ihrer vereinten Mitgliedschaft ist so gross, dass es in den kommenden Jahren sowohl die G7 als auch die Nato-Foren hinsichtlich ihrer allgemeinen internationalen Bedeutung übertreffen wird.

Die USA der nackte Kaiser

Die Vereinigten Staaten geben jährlich fast eine Billion Dollar für ihre Verteidigung aus – mehr als die Verteidigungsausgaben ihrer zehn engsten Konkurrenten um den Spitzenplatz zusammengenommen. Mit diesem Geld werden die strategische nukleare Abschreckungsmacht und das konventionelle militärische Machtpotential der USA finanziert. Angesichts der enormen Summen, um die es hier geht, würde man annehmen, dass die Dominanz der US-Militärmacht weltweit unübertroffen ist. Merkwürdigerweise ist dies aber nicht der Fall.
  Mit einem Bruchteil dessen, was die USA für ähnliche Leistungen ausgeben, hat Russland die Vereinigten Staaten bei den strategischen Nuklearstreitkräften überholt. Die USA benötigen eine umfassende Aufrüstung ihrer nuklearen Triade – der landgestützten und von U-Booten aus abgefeuerten ballistischen Raketen und bemannter Langstreckenbomber, die ihre nuklearen Schlagfähigkeiten ausmachen. Zwar sind Ersatzsysteme in Arbeit, aber es wird mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis diese Systeme einsatzbereit sind, und die Kosten dafür werden sich auf Hunderte von Milliarden Dollars belaufen – oder mehr, wenn man die Geschichte der Ineffizienz der US-Rüstungsindustrie und der Kostenüberschreitungen bedenkt.
  Russland hat inzwischen damit begonnen, fortschrittliche Raketen in Dienst zu stellen – Raketen, die die US-Raketenabwehr überwinden können, sowie neue U-Boote und bemannte Langstreckenbomber. Die traditionellen Mittel, mit denen die USA den strategischen Fortschritten Russlands entgegenwirken wollten, z.B. die Rüstungskontrollen, stehen wegen der kurzsichtigen US-Politik, die die Rüstungskontrollen zugunsten eines potentiellen strategischen Nuklearvorteils ablehnte, nicht mehr zur Verfügung. Das Drehbuch wurde sozusagen umgedreht, und nun sind es die USA, die in der Gleichung der Atommächte den Kürzeren ziehen. Diese nachteilige Position wird sich durch das Wachstum der strategischen Nuklearstreitkräfte Chinas, das im Begriff ist, von etwa 400
 Atomwaffen auf die Anzahl von 1500 Sprengköpfen wie die USA und Russland aufzustocken, noch weiter verschärfen.
  Früher verfügten die USA über eine konventionelle Streitkräftestruktur, die in der Lage war, zweieinhalb Kriege gleichzeitig zu führen – einen in Europa, einen in Asien und eine Warteschleife im Nahen Osten, bis der Sieg auf einem der beiden ersten Kriegsschauplätze errungen war und die Streitkräfte neu verlegt werden konnten. Heute sind die USA nicht mehr in der Lage, einen einzigen grossen Konflikt zu führen und zu gewinnen, da sie versuchen, eine globale Präsenz aufrechtzuerhalten, die der des Kalten Krieges entspricht. Sie haben ihr konventionelles Potential in Europa voll ausgeschöpft und etwa 100
 000 Soldaten zur Unterstützung der Nato entsandt, was dazu geführt hat, dass ihr gemeinsames militärisches Kampfpotential so stark geschrumpft ist, dass kein Nato-Staat über eine tragfähige militärische Kapazität verfügt. Die kollektive Ohnmacht der Nato zeigt sich in der Ukraine, wo eine russische Armee dabei ist, ein von der Nato ausgebildetes und ausgerüstetes ukrainisches Militär zu besiegen.
  Im Pazifik sehen sich die USA mit der Tatsache konfrontiert, dass sie nicht über ausreichende militärische Macht verfügen, um Taiwan im Falle einer möglichen chinesischen Militäroperation zu verteidigen. Es gibt Fortschritte bei der Treffgenauigkeit und Letalität chinesischer Abstandswaffen, einschliesslich neuer fortschrittlicher Hyperschallraketen, die zumindest theoretisch die US-Luftverteidigungssysteme überwinden könnten, welche das Herzstück der amerikanischen Machtprojektion – die Flugzeugträger – schützen. Diese Schwachstelle beschränkt sich nicht nur auf einen potentiellen Konflikt mit China. Die US-Marine hat Flugzeugträgerverbände vor der Küste des Libanon, im Persischen Golf und im Roten Meer stationiert. Dort sind sie jedoch aus Angst davor, dass von der Hizbullah, dem Iran und den jemenitischen Huthi abgefeuerte Raketen das derzeit sichtbarste Symbol amerikanischer Militärmacht beschädigen oder versenken könnten, an einem entscheidenden militärischen Eingreifen gehindert.
  Bei einem Budget von fast einer Billion Dollar würde man erwarten, dass die USA sich weltweit mit einem Militär präsentieren, das in bezug auf Fähigkeit und Letalität seinesgleichen sucht. Statt dessen wurden die USA als Kaiser ohne Kleider entlarvt, dessen Nacktheit eine Quelle der Verlegenheit auf der globalen Bühne darstellt, die sich an die Pracht und den Prunk der amerikanischen Militärmacht gewöhnt hat. Die Demütigung der US-Marine durch die Huthi ist nur die jüngste Manifestation eines Trends, der die militärische Schwäche der USA offenbart. Dieser Trend wird sich im Jahr 2024 noch verstärken.  •

(Übersetzung Zeit-Fragen)



William Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier der Marine, der in der ehemaligen Sowjetunion bei der Umsetzung von Rüstungskontrollabkommen und im Stab von General Norman Schwarzkopf während des Golf-Kriegs diente. Von 1991 bis 1998 war er als Chefinspektor für die Vereinten Nationen im Irak tätig. Ritter war ein entschiedener Kritiker der amerikanischen Entscheidung, 2003 erneut gegen den Irak in den Krieg zu ziehen. Er arbeitet zu Fragen der Rüstungskontrolle, des Nahen Ostens und der nationalen Sicherheit. 

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