Die Schweiz der Gemeinden

Jahresversammlung der Patenschaft für Berggemeinden

von Urs Graf

Die kleinen Gemeinden in den Höhenlagen und sogenannten Randzonen der Schweiz bewahren mit ihrer Existenzform die Vielfalt schweizerischer Traditionen und Kultur. Ja, es gibt noch Menschen, die nach kurzer Zeit Heimweh empfinden, wenn sie ihre vertraute Gegend und die Dorfgenossen vermissen. Im öffentlichen Bewusstsein sind sie wenig präsent. Zwar galt die Schweiz bis ins 20. Jahrhundert als Land der Auswanderer in alle Weltgegenden, aber der Grund war die verbreitete Armut auf dem Lande, wo die hart erarbeiteten Ernten die damals noch vielköpfigen Familien kaum ernähren konnten. Ein literarisches Zeugnis davon ist die Lebensgeschichte von Ulrich Bräker aus dem 18. Jahrhundert, «Der arme Mann im Tockenburg».
  Abwanderung ist auch heute ein grosses Problem für den Fortbestand der Berggemeinden. Die schwierige Versorgungslage bei langen Zufahrtswegen und vielerlei Bedrohung durch Naturgefahren zwingt sie zu verstärkten Schutzmassnahmen und dadurch erhöhten Ausgaben. Zugleich schwindet ihr Steuereinkommen, weil junge Werktätige in die Städte und Agglomerationsgemeinden abwandern, wo sie oft höhere Verdienstmöglichkeiten haben. Und wenn sie dort ihre Familien gründen, sind die Dörfer ihrer Herkunft vom Aussterben bedroht. Ein Circulus vitiosus, der nicht ohne Hilfe von aussen aufgebrochen werden kann.
  Nach dem Willen der Gründer und Spender der Schweizer Patenschaft für Berggemeinden1 sollen diese Gemeinden in ihrer oftmals schwierigen Existenzlage weiterhin in grösstmöglicher Selbständigkeit bestehen können. Ihre Schulhäuser, Zufahrtswege, Wasserwerke, Alpställe, Kommunalfahrzeuge, also die gesamte Infrastruktur und nicht zuletzt die Alpweiden und Schutzwälder ermöglichen dieser Bevölkerung, am angestammten Ort weiterhin zu leben. «Diese Solidarität zwischen Berg und Tal hilft der Bergbevölkerung und stärkt den Zusammenhalt in der Schweiz», heisst es in einer Informationsbroschüre2 des Hilfswerks.
  Es entstand in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als das Ärztepaar Olga und Paul Cattani ihre Unterstützung für ein kleines Tessiner Dorf im Val Colla bei Lugano auf ähnlich bedürftige Gemeinden der Schweiz ausweiten wollte. Seit 1940 existiert nun der gemeinnützige Verein Schweizer Patenschaft für Berggemeinden. Seine jährliche Mitgliederversammlung bietet Gelegenheit für einen Einblick in diese weniger bekannte Schweiz.
  Am 3. Mai 2024 waren an dieser Versammlung in Zürich etwa 400 Mitglieder, Gönner und Gäste anwesend. Man konnte alle vier Landessprachen hören. Vertreter verschiedener Kantonsregierungen und Gemeinderäte waren da und richteten ihre Dankes- und Grussworte an die Versammlung.
  Ein Jodelchor aus dem Kanton Wallis bereicherte den Anlass mit seinen Liedern. Und zum Abschluss wurden kulinarische Spezialitäten aus dem Wallis zum Apéro aufgetischt.
  Sehr eindrücklich war der Bericht des Gemeindepräsidenten der Gemeinde Bitsch im Oberwallis, deren Bergwald neben der Nachbargemeinde Riederalp im Hochsommer 2023 von einem verheerenden Brand heimgesucht worden war.
  Während rund drei Wochen wütete das Feuer im Wald über diesen Dörfern. Der Krisenstab und die Feuerwehren arbeiteten im 24-Stunden-Schichtbetrieb. Koordination und Kooperation aller Beteiligten zeugten von hoher Professionalität – und Solidarität. Die Menschen standen in der Not zusammen. Am Ende waren 130 Hektar Wald verbrannt, aber kein einziger Helfer oder gar Bewohner verletzt und kein Anwesen abgebrannt.
  Für die Brandbekämpfung kamen Dutzende Feuerwehren aus dem ganzen Kanton zu Hilfe, und natürlich die Polizei, die Armee und bis zu sieben Hubschrauber. 
  Gemeindepräsident Edgar Kuonen schilderte auf bewegende Art, wie er «unvorbereitet von einer Lawine überrollt» wurde, und wie ihn seine Familie und das ganze Dorf unterstützte. Er musste aus dem Stand mit seinen Helfern alle wichtigen Entscheidungen treffen, Platz für die Arbeitsstäbe schaffen, Evakuationen anordnen und über 200 evakuierte Einwohner versorgen lassen. Auf Grund der Sommerferien stand zum Glück das ganze Schulhaus zur Verfügung. Für die täglichen Presseberichte diente das Vorbereitungszimmer der Lehrer.
  Sein ganzer Bericht wäre es wert, nicht nur für die Fortbildung von Krisenstäben ausgewertet zu werden. Er könnte in unseren Schulen einer Jugend, die nach gesunden Vorbildern sucht, auch als dokumentiertes Lehrbeispiel für Mut, Solidarität und echtes Zusammenstehen dienen.
  Der Beitrag der Schweizer Patenschaft für Berggemeinden bestand darin, dass die Geschäftsleiterin Barbla Graf schon zwei Tage nach Bekanntwerden der Feuersbrunst beim Gemeindepräsidenten anrief und Unterstützung anbot.
  Die Kosten werden nun solidarisch getragen, teilweise von den Gemeinden, die für ihren Feuerwehreinsatz keine Rechnungen stellten, und durch eine grosse Spende der Schweizer Patenschaft für Berggemeinden, die damals unverzüglich eine Sammlung gestartet hatte.
  Die spontane Bereitschaft zur Hilfe war den Betroffenen eine unüberschätzbare immaterielle Unterstützung. Sie gab und gibt den Menschen überall die Kraft zum Durchhalten in bedrängter Lage. Diese «Cohésion nationale», wie ein Vertreter aus dem Kanton Jura sich ausdrückte, wird durch die Solidarität im Volk unter den verschiedenen Landesteilen gestärkt. Und diese Solidarität bildete immer den Kern der humanitären Schweiz – auch im internationalen Wirken.
  Darin liegt die tiefe Wahrheit im Liedtext des Schweizer Chansonniers Mani Matter: «Dene wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit …»  •



1 https://patenschaftberggemeinden.ch
2 Bergwelten Hautnah, Band 18, 2024

  

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