von Guy Mettan*
Zwischen Russland und dem Westen, zwischen den Ukrainern in Kiew und den ehemaligen Ukrainern, die wieder zu Russen geworden sind, ist der Kampf jedoch nicht nur ein militärischer, sondern auch ein erinnerungspolitischer. Im Westen möchte man den 80. Jahrestag der Landung der Alliierten am kommenden 6. Juni ohne die Russen begehen und leugnen, dass der Sieg über Nazideutschland in erster Linie ein sowjetischer Sieg war und dass die Operation Overlord ohne die von der Roten Armee im Osten durchgeführte Operation Bagration, mit der die deutschen Panzerdivisionen dort eingekesselt wurden, nicht erfolgreich hätte sein können.
In Osteuropa, insbesondere in den baltischen Staaten und der Ukraine, werden mit aller Gewalt historische Statuen und Denkmäler für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs abgerissen, um Stelen zu Ehren der Opfer der Sowjets und der Nationalisten zu errichten, die an der Seite der Nazis kämpften und Juden massakrierten, wie Stepan Bandera, Jaroslaw Stetsko oder Roman Schukowitsch. Man tut so, als hätte man vergessen, dass das Todeslager Treblinka von etwa 20 deutschen SS-Männern geleitet wurde, während die Vernichtung von etwa 100 ukrainischen und litauischen Aufsehern durchgeführt wurde.
Kriegsführung mit
Zerstörung der Erinnerung
Das Gedenken an den Holodomor, wie die Ukrainer die von Stalin 1932 gegen die Bauernschaft ausgelöste Hungersnot nennen, ist ein typisches Beispiel dafür. Es schreibt dieses Massaker durch Mangel an Nahrungsmitteln allein den Russen zu und macht die Ukrainer zu seinen einzigen Opfern, obwohl es auch Südrussland und Kasachstan betraf und von einem Georgier, Stalin, orchestriert und von einem Polen, Kossior, ausgeführt wurde, der die Ukraine in dieser Zeit regierte.
Täglich werden Denkmäler abgerissen und andere an ihrer Stelle errichtet, heimlich, still und leise, während die westlichen Medien darüber schweigen. Diese Um-Schreibung der Geschichte und der Krieg der Erinnerungen ist den Menschen im Donbass nicht entgangen; sie reagieren darauf getreu ihrem Motto «Niemals vergessen, niemals vergeben» mit einer Verdoppelung des Gedenkens und der Denkmäler für die auf dem Feld der Ehre gefallenen Helden.
Verstehen der Gegenwart
braucht Wissen um die Vergangenheit
Das beunruhigendste Denkmal ist zweifellos das Denkmal des Minenschachtes 4/4 Bis in Donezk. Ich hatte noch nie davon gehört, und ich nehme an, Sie auch nicht. Es wird in keinem unserer Geschichtsbücher erwähnt und ist auch auf Wikipedia nicht zu finden. Es wird jedoch geschätzt, dass dort zwischen Ende 1941 und 1943 75 000 bis 102 000 Menschen niedergemetzelt wurden, doppelt bis dreimal so viele wie in Babi Yar. Die gesamte jüdische Gemeinde der Stadt Donezk (damals Stalino genannt) wurde in diese Grube geworfen, sowie Zehntausende weitere Zivilisten. Diese Gedenkstätte, die von der Regierung in Kiew nach 1991 ignoriert wurde, weil sie das offizielle Narrativ störte und nur die russischsprachigen Menschen im Osten des Landes betraf, wird seit letztem Jahr wiederbelebt. Ein Besuch dieser Stätte genügt, um zu verstehen, warum sich die Bewohner des Donbass im April 2014 erhoben, als das aus dem Maidan hervorgegangene Regime ihre Sprache verbieten wollte und die Erben ihrer Henker schickte, um sie zu unterdrücken.
Man kann Denkmäler zerstören, aber nicht die Erinnerung.
70 Kilometer von Donezk entfernt, in der Provinz Horlivka, ist der monumentale Kenotaph von Sawur-Mohyla ein weiteres Zeugnis der Schlachten des letzten Jahrhunderts. Er wurde auf dem höchsten Hügel des Donbass errichtet, am Ort eines der grossen Schrecken des Zweiten Weltkriegs, der im Juli und August 1943 stattfand, zeitgleich mit der berühmten Panzerschlacht von Kursk, welche die Wehrmacht zerschlagen sollte. Im Jahr 1963 wurde dort eine Treppenallee mit einer riesigen Turmspitze errichtet. 70 Jahre später, im August 2014, war der Hügel Gegenstand eines erbitterten Stellungskampfes zwischen Separatisten und Kiewer Soldaten, bevor er endgültig von den Donezker Republikanern unter ihrem angesehenen Anführer Alexander Sachartschenko zurückerobert wurde. Die Kämpfe hatten Hügel und Anlage verwüstet. Nach 2022 liess Putin sie wieder aufbauen, um an die beiden Kriege zu erinnern, den Grossen Vaterländischen Krieg von 1941–1945 und den Krieg zur Befreiung des Donbass von 2014–2022. Auf beiden Seiten der Allee stehen grosse geschnitzte Stelen, welche die Helden feiern, die zwischen 1941 und 2022 für die Freiheit des Donbass gestorben sind.
Am intensivsten ist dieser Erinnerungsschock aber wohl in Lugansk. Dort werde ich von Anna Soroka, einer Historikerin und seit 2014 Kämpferin in den Regimentern der Republik, empfangen. Das erste Denkmal erinnert an die 67 Kinder, die von den ukrainischen Milizionären der Neonazi-Bataillone Kraken und Aidar getötet wurden, die 2014 versuchten, die Stadt einzunehmen, und sie bis 2022 bombardierten. Es wurde inmitten eines Parks errichtet, der als Kindergarten dient. Mehrere Kinder wurden dort durch ein gezieltes Bombardement der Ukrainer getötet, während die umliegenden Gebäude nicht betroffen waren.
Gnadenloser Informationskrieg
Kinder sind in der Tat Gegenstand eines gnadenlosen Informationskriegs auf beiden Seiten. Die Ukrainer haben eine Beschwerde wegen Kriegsverbrechen gegen die Russen eingereicht, und der Internationale Strafgerichtshof hat Wladimir Putin und die russische Kinderbeauftragte wegen der Entführung ukrainischer Kinder angeklagt. Die westliche Propaganda greift diese Anschuldigungen immer wieder auf, sowohl im Kino – der Ad-hoc-Dokumentarfilm wurde gerade mit einem Oscar ausgezeichnet – als auch in den Medien. Letztere vergessen natürlich, die Ansichten der Menschen im Donbass wiederzugeben, die sagen, dass es die Ukrainer seien, die Kinder als Geiseln nehmen. In der Ukraine existiert in der Tat eine Freiwilligenorganisation namens «Weisse Engel», die den berühmten syrischen «Weisshelmen» nachempfunden ist, die alles andere als neutrale Helfer waren, sondern tatsächlich im Auftrag dschihadistischer Gruppen handelten.
Kinder als Geiseln
Diese Abteilungen der «Weissen Engel» (White Angels) wurden ab Februar 2022 von einem gewissen Rustam Lukomsky ausgebildet. In der angelsächsischen Presse wurden sie einige Male erwähnt. Bei denjenigen, die im Donbass operieren, besteht ihr Ziel darin, die Eltern in den Frontgebieten dazu zu zwingen, sich von ihren Kindern zu trennen unter dem Vorwand, sie zu schützen. Die Kinder werden also von ihren Eltern isoliert und im Hinterland «in Sicherheit» gebracht, wo sie fortan zur Erpressung gegen ihre Familien eingesetzt werden. Die Familien werden zwischen zwei unerträglichen Alternativen hin- und hergerissen: Entweder sie verlassen ihr Zuhause, um zu ihren Kindern zu gelangen, oder sie bleiben dort und werden gezwungen, mit der ukrainischen Armee zusammenzuarbeiten, die sie auffordert, die Bewegungen der russischen Armee zu denunzieren oder zu sabotieren. Man kann sich die Not der Eltern vorstellen, die mit einer solchen Erpressung konfrontiert sind. Zeugenaussagen wie die von Olga V. Zubtsova aus Bakhmut und Igor Litvinov aus Avdievka bestätigen diese Version der Dinge. Schliesslich kursieren in den sozialen Netzwerken unzählige Gerüchte, die diese angeblichen Weissen Engel beschuldigen, pädokriminelle Netzwerke und den Kinderhandel zu unterstützen. Dies muss jedoch noch bewiesen werden.
Grabmäler im Donbass –
Widerstand gegen das Vergessen…
Das zweite Denkmal befindet sich in einem Waldstück am Rande von Lugansk. Wie der Minenschacht Nr. 4 in Donezk erinnert es an den Ort des Massakers an der jüdischen Gemeinde von Lugansk (etwa 3000 überwiegend jüdische Frauen und Kinder) und an 8000 Erwachsenen verschiedener Glaubensrichtungen während der Nazi-Besatzung. «Es ist unverständlich, warum Kiew heute die Nachkommen derer ehrt, die während des Zweiten Weltkriegs so viele von uns getötet haben», sagt Anna Soroka. Die Stätte war seit 1991 dem Dornengestrüpp überlassen und wurde erst kürzlich restauriert. In unseren Suchanwendungen ist sie nicht aufgeführt.
Ein Stück weiter, auf der anderen Seite der Strasse, haben die Behörden der Republik eine grosse Gedenkstätte zu Ehren der Kämpfer und Zivilisten errichtet, die im Krieg von 2014–2022 getötet wurden. Fast 400 Gräber sind auf beiden Seiten der Allee aufgereiht, die von der von Rodin inspirierten Statue in der Nähe der Säule im Zentrum der Stätte bis hin zur kleinen Kapelle führt. Wir halten in der Nähe des Grabes von Iwan Selichow an. Anna hat die meisten der hier Begrabenen persönlich gekannt. Am 5. Mai 2014 wurde Ivan aus seinem Haus geholt und von Milizen mit einem Kopfschuss exemplarisch hingerichtet, weil sein Sohn sich bei den Republikanern engagiert hatte. Seine Nachbarn hatten ihn zunächst in seinem Garten beerdigen müssen. Die Stätte befindet sich am Ort der Schlacht und erinnert an die 397 «Opfer der ukrainischen Aggression» in jenem Sommer: Arbeiter, Grabenbauer, Lehrer, Schulkinder, Ärzte, Krankenschwestern und Patienten, die von der Bombardierung ihrer Schule und ihres Krankenhauses (169 Tote) getroffen wurden.
Auf dem Weg zurück in die Stadt kommen wir an dem grossen Denkmal für die sowjetischen Soldaten vorbei, welche die Stadt 1943 befreit haben, und an einem mit Blumen geschmückten ukrainischen Panzer, der auf einem Betonsockel am Rande der Autobahn steht: Die Bewohner des Viertels haben ihn dort hingestellt, um daran zu erinnern, dass dieser Panzer vor zehn Jahren ihre Häuser bombardiert hatte. Unterhalb der Strasse befindet sich ein Feld, das immer noch mit Minen übersät ist – es zu betreten wird Spaziergängern dringend abgeraten.
… und Zeichen der
Entschlossenheit zur Selbstbehauptung
Das letzte Denkmal auf diesem Stadtrundgang der Grabmäler ist wahrscheinlich das symbolträchtigste für das tragische Schicksal des Donbass in den letzten 100 Jahren. Es handelt sich um die Gedenkstätte Hostra Mohyla, die auf einem kleinen Hügel im Südosten der Stadt liegt. Mehrere Denkmäler unterschiedlicher Machart erinnern an die verschiedenen Gemeinschaften, die im Laufe der Jahrzehnte von der Landkarte getilgt wurden. Das grösste Denkmal auf der Anhöhe des Komplexes gibt jedoch einen Einblick in die Psychologie der Bewohner der Region. Sie zeigt vier riesige Statuen von Soldaten, bewaffnete Helden der vier Kriege, die das kollektive Bewusstsein des Donbass prägen: einen Kämpfer aus dem Bürgerkrieg, einen sowjetischen Soldaten aus dem Grossen Vaterländischen Krieg, einen Aktivisten des gegen Kiew gerichteten Widerstands von 2014–2018 und schliesslich einen Kämpfer aus dem Befreiungskrieg der Oblast von 2022 bis heute.
Für diese wie auch für die anderen Stätten findet man trotz ihrer Beliebtheit bei den Einwohnern absolut keine Informationen in den westlichen Suchmaschinen. Google und Wikipedia ignorieren diese Stätten oder haben sie aus ihrem Verzeichnis verbannt. Einzig die «Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas» bietet einige Informationen über die jüdischen Opfer.
Infolgedessen versteht man besser, dass Russland und seine neuen Bürger in den ostukrainischen Provinzen ihren Kampf gegen Kiew und den Westen niemals aufgeben werden, ohne ihn gewonnen zu haben. Die dumpfe Wut, die sie bei dem Gedanken packt, dass wir sie über die Ukrainer buchstäblich und im übertragenen Sinne von der Erdoberfläche tilgen wollen, wird erst mit dem verschwinden, was sie als ihren Sieg betrachten. •
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Guy Mettan ist Journalist und Abgeordneter im Grossen Rat des Kantons Genf, den er 2010 präsidierte. Er arbeitete für das «Journal de Genève», Le Temps stratégique, Bilan, «Le Nouveau Quotidien» und später als Direktor und Chefredaktor der «Tribune de Genève». 1996 gründete er den Club Suisse de la Presse, dessen Präsident und späterer Direktor er von 1998 bis 2019 war.
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