Von Journalisten, Studenten und Macht

von Patrick Lawrence*

Den amerikanischen Medien mangelt es nie an Tagen, die man sich im Kalender rot anstreicht, wenn es um ihre wunderbare Kombination aus Überheblichkeit und Verantwortungslosigkeit geht. Aber in letzter Zeit sind die grossen Tageszeitungen und Magazine ganz auf Scharlachrot und Alizarinrot umgestiegen. Je leuchtender, desto besser, sage ich, wenn die Verfehlungen unserer Medien so zur Schau gestellt werden, dass die Leser die Täuschungen und Ablenkungen, die an dieser Stelle ihre Absicht sind, nicht mehr übersehen können.

Realität und Meta-Realität

Vor kurzem las ich beim Frühstück auf der Suche nach den nächtlichen Nachrichten über den israelisch-amerikanischen Völkermord in Gaza, als ich in der «New York Times» auf die Schlagzeile «Waschmittelblätter sind schlechte Reiniger» stiess. Wow! Diese Geschichte hatte die «Times» seit ihrem Eröffnungsartikel vom 5. April, «Die fünf besten Waschmittel des Jahres 2024», verfolgt, aber meine Freunde in der Eighth Avenue liessen mich warten. Endlich konnte ich mit der Gewissheit in den Tag gehen, dass ich ein gut informierter und engagierter Amerikaner war.
  Fünfundzwanzigster April, 25. April: War das nicht der Tag, an dem das Hilfswerk der Vereinten Nationen meldete, dass Israels Militäroperationen «aus der Luft, zu Lande und zu Wasser weitergehen» und dass «im Norden des Gaza-Streifens nur noch fünf Krankenhäuser in Betrieb sind und im Süden nur noch sechs»? Ja, das habe ich auf einer Webseite der Vereinten Nationen gelesen, aber die «Times» hatte keinen Platz dafür.
  Noch besser informiert war ich dann am darauffolgenden Sonntag, als «The New Yorker» ein langes, hinreissend albernes Gespräch zwischen David Remnick, Chefredakteur von «The New Yorker», der den Niedergang des einstmals guten Magazins hervorragend begleitet hat, und Jerry Seinfeld, dem Komiker, der immer eine Menge wichtiger Dinge zu sagen hat, veröffentlichte. Der Anlass war … ich lasse Remnick erklären:

«Und jetzt hat er zum ersten Mal bei einem Film Regie geführt. Es geht um einen russisch-orthodoxen Mönch im sechzehnten Jahrhundert, der sich lieber zu Tode hungert, als sich den Verwüstungen der zaristischen Gesellschaft zu beugen. Nein, darum geht es nicht. Es geht um die Erfindung der ‹Pop-Tarts›1 und um den Firmenwettstreit zwischen den beiden Unternehmen ‹Kellogg’s› und ‹Post› in den frühen Sechzigern. Ja, wirklich. Er heisst ‹Unfrosted› und wird am 3 Mai auf Netflix ausgestrahlt. Er ist extrem albern, auf eine gute Art und Weise.»

Extrem albern auf eine gute Art. Ich glaube, ich verstehe.
  An anderer Stelle in den Nachrichten, wie man in der Rundfunkbranche sagt, bombardierten die israelischen Besatzungstruppen weiterhin Rafah, als der Remnick-Artikel am vergangenen Sonntag erschien – Rafah, die Stadt im südlichen Gaza-Streifen, in die die IDF die Bewohner des Gaza-Streifens zu ihrer Sicherheit hatte fliehen lassen, während sie, die Israeli, den nördlichen Gaza-Streifen bis zur Unbewohnbarkeit bombardierten und mit Bulldozern dem Erdboden gleich machten.
  Aber wir sollten nicht zulassen, dass ein ans finstere Mittelalter erinnerndes Blutbad – Grausamkeiten, für die wir bezahlen – unsere Psyche stören. Womit sollen unsere Medien unseren Verstand füllen? Mit dem Abwurf amerikanischer Munition auf palästinensische Kinder oder mit der Geschichte von Pop-Tarts, die albern erzählt wird?

«White House Correspondents’ Dinner»

Wir kannten die Antwort bereits, als «The New Yorker» das pubertäre, zeitraubende Herumalbern von Remnick und Seinfeld veröffentlichte, denn wir hatten – das Nonplusultra der letzten Wochen – das White House Correspondents’ Dinner vor ein paar Wochen verfolgt. Wir sahen, wie ein Strom von Reportern, die auf eine vorübergehende soziale Verbindung zu Prominenten und Macht erpicht waren, verächtlich an Menschen vorbeizog, die gegen den israelisch-amerikanischen Völkermord demonstrierten. Wir sahen, wie Medea Benjamin von Code Pink aus der Dinnerveranstaltung geworfen wurde, weil sie ein Plakat mit der Aufschrift «100 Journalisten in Gaza getötet» hochhielt.
  Und wir hörten, wie Colin Jost, der Star der Fernsehsendung Saturday Night Live, seine 23 Minuten manchmal markigen Humors mit einer Ode an das beendete, was in diesem Raum voller feiger Wichtigtuer am auffälligsten fehlte. «Anstand ist der Grund, warum wir heute Abend alle hier sind», sagte der Fernsehkomiker mit ungeheuchelter Ernsthaftigkeit. «Anstand ist der Grund, warum wir heute Abend hier sein können.» Zu diesem Zeitpunkt hatte Jost, im Grunde ein Hofnarr, seinem narzisstischen Publikum bereits gesagt: «Eure Worte sagen der Macht die Wahrheit. Eure Worte bringen Licht in die Dunkelheit.»
  Ja, kaum zu glauben, im Frühjahr 2024 sagen Menschen immer noch solche Dinge über Konzernjournalisten. Und die so Angesprochenen halten sie für wahr.

Sprache und Realität

Worte. Wörter. Sprache, ihre Verwendung und ihr Missbrauch.
  Als ich die Woche in unseren Medien Revue passieren liess, dachte ich an ein Buch, das mich sehr beeindruckt hatte, als es Mitte der 1990er Jahre herauskam. In «The Unconscious Civilization» (Der Markt frisst seine Kinder, Campus, Frankfurt, 1997) hat der kanadische Gelehrte und Schriftsteller John Ralston Saul schon früh auf die Diskrepanz zwischen der Sprache, wie sie in unserem gesellschaftlichen Diskurs verwendet wird, und der Realität hingewiesen. Die Erweiterung des Wissens hat nicht zu einer Erweiterung des Bewusstseins geführt, stellte Saul fest. Statt dessen haben wir uns in ein Universum der Illusionen geflüchtet, in dem eine klare Sprache zu einer Art Verbrechen wird. Wir machen uns selbst bewusstlos. Ideologien ersetzen das Denken.

Studentenproteste –
 mit der Realität verbunden

Und dann dachte ich an etwas ganz anderes. Ich dachte an all die prinzipientreuen, klarsichtigen Studenten, die überall in den USA Zelte aufschlagen, Gebäude besetzen und Plakate zur Unterstützung der palästinensischen Sache – also der menschlichen Sache – hochhalten. Was ist der Unterschied, fragte ich mich, zwischen den demonstrierenden Studenten und den Journalisten, die über Waschmittel und Junk-Frühstücksessen schreiben oder die täglichen Greueltaten in Gaza so gut wie möglich verschleiern? Wenn die Frage impliziert, dass die beiden vergleichbar sind, gut. Ich denke, das sind sie in einigen wesentlichen Aspekten.
  Wenn wir diejenigen, die die Konzernmedien bevölkern, als leidvolle Repräsentanten der Unbewusstheit unserer Zivilisation verstehen – und ich kann nicht sehen, dass dies bestritten wird –, können wir bei Sauls Worten bleiben und unseren eigenen Blick so wenden, dass wir diejenigen, die in vielen amerikanischen Colleges und Universitäten demonstrieren, in erster Linie als höchst bewusste menschliche Wesen anerkennen. Möge ihnen die Zukunft gehören. Mögen sie stets jung bleiben. Sie sind mit der Realität verbunden, während die Medienklasse vor ihr zurückschreckt. Während sich Konzernjournalisten in Wäldern der Oberflächlichkeit verstecken, suchen die Studenten, von denen wir täglich lesen, Zuflucht in nichts, es sei denn, wir zählen all die Zelte, die sie auf den Grünflächen des Campus aufgeschlagen haben. Während ich schreibe, werden Studenten an der Columbia und anderen Universitäten von der Polizei in Schutzausrüstung belagert – oder, wie an der UCLA (University of California), von Marodeuren, vermutlich Studenten, aber vielleicht auch nicht, die Stöcke schwingen, um die zionistische Sache zu verteidigen.
  Achten Sie auf die Sprache der Demonstranten, nicht nur auf das, was sie sagen, sondern auch darauf, wie sie es sagen. Die Diktion, Einfachheit und Klarheit ihrer Plakate und öffentlichen Stellungnahmen haben die Kraft einer echten Überzeugung. Die Wiederherstellung der Verbindung zwischen Sprache und Realität ist der Kern dessen, wie wir unser Bewusstsein wiedererlangen können, argumentierte Saul. Oder es gibt Hannah Arendts Variation dieses Gedankens: «Wir vermenschlichen das, was in der Welt und in uns selbst vorgeht, nur, indem wir darüber sprechen, und indem wir darüber sprechen, lernen wir, menschlich zu sein.» Also: Wenn Demonstranten sprechen, erhalten sie selbst einen humanisierenden Einfluss.

Das Geschäft mit dem Antisemitismus

Vergleichen Sie dies mit der Berichterstattung des Mainstreams über die Proteste. Es wimmelt nur so von nebulösen Formulierungen und absichtlich unklaren Beiträgen, die die völlig offensichtliche Unterscheidung zwischen Antizionismus und Antisemitismus als eine Art unlösbares Rätsel darstellen. Das ist Unsinn. Ich habe eine ganze Reihe von Juden darüber klagen hören, dass der Zionismus ihnen ihre Religion, ihren Glauben und ihre Identität raubt, und in diesem Sinne halten sie den Zionismus für das, was in unserer Mitte wirklich antisemitisch ist.
  Das Geschäft mit dem «Antisemitismus» überall, oder dem «Antisemitismus» der «die Demonstrationen überschattet» – eine Phrase der «New York Times», die vor böser Absicht strotzt, aber keine erkennbare Bedeutung hat –, ist ein Fall von Sprachmissbrauch aus den zynischsten und korruptesten Gründen. Vor zwei Wochen stimmte das Repräsentantenhaus mit 320 zu 19 Stimmen dafür, dass  Kritik an Israel als antisemitisch gilt. Ich mache die Mainstream-Medien dafür verantwortlich, dass sie über viele Jahre hinweg diesen unverhohlenen Missbrauch der Sprache gefördert haben, indem sie so taten, als verdiene die Gleichsetzung auch nur im geringsten, ernst genommen zu werden.
  Bei den Demonstranten und den Journalisten gibt es Klarheit und Verschwommenheit – gut genutzte Sprache und missbrauchte Sprache. In ersterer steckt wieder einmal viel Hoffnung, in letzterer nicht.

Die Macht und ihre Diener

Es gibt eine zentrale Frage, die diejenigen, die sich für das palästinensische Volk einsetzen, und diejenigen, die die israelisch-amerikanische Aggression entweder ignorieren oder verschleiern, radikaler voneinander trennt als jede andere. Das ist die Frage der Macht. Schauen Sie sich die David Remnicks an oder die beim White House Correspondents’ Dinner (das schon lange vor der Gaza-Krise zu einer idiotischen Obszönität wurde) oder den Wäschekorrespondenten der «Times». Was tun diese Leute, wenn sie nicht um ihr Leben – oder zumindest um ihre Karriere – vor jeder ernsthaften Konfrontation mit der Macht fliehen? Diejenigen, die beim Abendessen im Weissen Haus anwesend sind und sich so sehr mit der Macht und ihrem populären engen Verwandten, der Berühmtheit, identifizieren wollen: Sind sie nicht einfach machtverliebte Mündel des Staates, über den sie berichten sollen?
  Sie haben vielleicht bemerkt, dass ich diejenigen, die sich weigern, wahrheitsgemäss über die täglichen Greueltaten in Gaza zu berichten – oder über andere Krisen, mit denen unser verfallendes Imperium konfrontiert ist – und diejenigen, die ihre Zeitungen mit … wie soll ich sagen? … heimtückischem Müll füllen, gemeinsam behandle. Um das zu erklären, schlage ich vor, den Begriff der passiven Vernachlässigung einzuführen.
  Unverhohlene Fälscher wie Jeffrey Gettleman sind die feigsten Diener der Macht, das stimmt. Und nebenbei bemerkt: Ich kann kaum erwarten, was die «Times», die sehr erfinderisch ist, wenn es darum geht, Korrespondenten zu bestrafen, die ihr peinlich sind, mit Gettleman macht, nachdem seine Geschichten über «sexuelle Gewalt» [der Hamas an israelischen Kindern und Frauen] so öffentlich in sich zusammengefallen sind. Vielleicht die Immobilienabteilung in Manhattan?2

Ablenkung im Dienste der Macht

Aber kein Reporter, der Geschichten über die Vorzüge von Waschmitteln oder die Wichtigkeit des Haarewaschens von Beyoncé schreibt – ja, ich habe neulich einen Artikel darüber gelesen –, kann behaupten, dass er sich aus der Verantwortung für die Pflichten von Berufsjournalisten heraushält. Diejenigen, die dazu beitragen, die Zeitungen mit ablenkendem Unsinn zu füllen, um wertvolle Nachrichtenberichte zu verdrängen, insbesondere in Krisenzeiten wie der unseren, sind ebenfalls mitschuldig daran, dass die Öffentlichkeit im Dienste der Macht irregeführt und falsch informiert wird. So sieht Soma aus, die perverse Beruhigungsdroge, die sich Huxley in «Schöne neue Welt» ausgedacht hat. Diese Leute verabreichen täglich eine Dosis davon, eben weil es die Einnehmenden ohnmächtig macht.
  Wenn es dagegen eine Gemeinsamkeit unter den Demonstranten gibt, die ihre Verwaltungen, die Polizeibehörden und viele Leute in Washington zum Zittern bringen, dann ist es ihre unerschrockene, unverblümte Entschlossenheit, sich der Macht entgegenzustellen. Was sie auf die Strasse und in die Gemeinschaftsräume ihrer Universitäten gebracht hat, ist ein weltgeschichtlich verwerflicher Machtmissbrauch zur Ausrottung eines Volkes. Sie sind genau da, wo sie sein sollten. Aber ich hoffe, dass sie verstehen, dass der israelisch-amerikanische Völkermord nur eine Manifestation einer weitaus grösseren Frage ist, nämlich der Frage der spätimperialen Macht.
  Und ich hoffe, dass sie dabei bleiben, wenn sie erkennen, dass es diese grössere Frage ist, die angegangen werden muss, wenn der Menschlichkeit, für die sie stehen, gedient werden soll. Kubaner, Syrer, Venezolaner, Iraker, Nigerianer, Nicaraguaner und andere – nehmen wir die berühmte Phrase nach dem 11. September und machen wir daraus: Sie alle sind jetzt Palästinenser.  •



1 «Pop-Tarts» ist ein süsses Teiggebäck, das man in den Toaster gibt, um schnell etwas Warmes zu essen. Kellog’s nennt seine einzigartige Kreation «Frühstücks-Kuchen» – ein Verkaufsschlager in den USA.
2 Jeffrey Gettleman hatte in der «New York Times» breit über die angeblichen Vergewaltigungen von israelischen Kindern und Frauen berichtet; dies wurde von Greyzone als Lügengeschichte entlarvt.

Erstveröffentlichung bei Scheerpost vom 2.5.2024

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein vorletztes Buch ist «Time No Longer: Americans After the American Century», Yale 2013. 2023 ist sein neues Buch «Journalists and Their Shadows» bei Clarity Press erschienen. Seine Webseite lautet patricklawrence.us. Unterstützen Sie seine Arbeit über patreon.com/thefloutist.

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