von Dr. iur. Marianne Wüthrich
Was hat der Klimaschutz mit dem Recht älterer Frauen auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens zu tun? Leute mit gesundem Menschenverstand sind sich einig: Nichts. Was hat das CO2, das die Schweiz in die Luft lässt, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu tun? Nichts. Geradezu absurd ist der Vorwurf, die Schweiz tue zu wenig für den Klimaschutz. Sicher kann man mehr tun, aber die kleine Schweiz mit ihrem minimen CO2-Anteil an den Pranger zu stellen, ist nicht nur willkürlich, sondern nützt auch der Umwelt wenig. Und wie gesagt: In der EMRK steht nichts über den Klimaschutz. Die Strassburger Richter sind mit ihrem Entscheid gegen die Schweiz wieder einmal kräftig über ihre Kompetenzen hinausgeschossen.
«Einfallstor für einflussreiche NGOs»
Auftrag des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist es, die in der EMRK von 1953 garantierten Rechte der Bürger gegen Übergriffe der Vertragsstaaten des Europarats zu schützen, Punkt. Seit langem lässt sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jedoch von westlichen NGOs für andere Zwecke einspannen. Laut einer Studie waren mindestens 22 der 100 Richter, die zwischen 2009 und 2019 in Strassburg eingesetzt wurden, mit mächtigen transatlantischen NGOs verbandelt, «die am EGMR mit Klagen sehr aktiv sind». Darunter das Open-Society-Netzwerk von George Soros, Amnesty International, Human Rights Watch und das Helsinki-Komitee. In diesem Zeitraum «hätten diese Richter an knapp 90 Verfahren teilgenommen, in denen ‹ihre› NGO involviert gewesen sei» (NZZ-Redaktorin Katharina Fontana). Die Schweizer Klimaseniorinnen zum Beispiel waren mit Greenpeace unterwegs nach Strassburg.
Im Klartext: Die Europäische Menschenrechtskonvention «wird heute von der Mehrheit der Strassburger Richter als Vehikel für die Durchsetzung des Zeitgeistes missbraucht» (Fulvio Häfeli, Bundesverwaltungsrichter von 2007 bis 2022).
Umpflügen des nationalen Rechts –
so lange wir uns das gefallen lassen
Die Rechtsprofessoren und Verwaltungsjuristen ohne Bodenhaftung im Rechts- und Kulturleben ihrer eigenen Staaten sind längst damit beschäftigt, deren Gepflogenheiten und Werte umzupflügen.
Und wir braven Schweizer beugten und beugen uns den von unserem nationalen Rechtsverständnis abgehobenen Richtersprüchen. Ein Müsterli: 1994 befand der EGMR, die Regelung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB): «Der Name des Ehemannes ist der Familienname der Ehegatten», widerspreche der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das Parlament änderte seitdem gegen den vehementen Widerspruch einer Minderheit mehrmals das Namensrecht im ZGB. Heute können Frau Müller und Herr Meier bei der Trauung je ihren eigenen Namen behalten und für ihre Kinder einen dieser Namen wählen. Gleichberechtigung der Geschlechter? Verzell du das em Fährimaa! In Wirklichkeit geht es darum, die Einheit der Familie als Gemeinschaft aufzubrechen.
Die gute Nachricht: Die Brautleute können statt dessen auch einen ihrer Ledignamen als gemeinsamen Familiennamen wählen – die meisten Paare tun dies trotz der werteauflösenden Stimmungsmache heute noch.
Kruzifix-Urteil: Was die
Italiener können, könnten wir auch
Erinnern Sie sich an das Kruzifix-Urteil? Eine italienische Mutter beschwerte sich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, weil in den Schulzimmern ihrer Kinder an einer öffentlichen Schule Kruzifixe hingen. Die Kleine Kammer des Strassburger Gerichts gab im November 2009, gestützt auf Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit), der Klägerin Recht. Darauf ging ein Aufschrei durch Italien, der in jeden Winkel des gedrückten «Werte-Europas» ausstrahlte. Von Como bis Sizilien hängten die Menschen Kruzifixe in die öffentlichen Gebäude. Die Regierung in Rom folgte dieser deutlichen Willensäusserung der Bevölkerung und verlangte die Revision des Urteils durch die Grosse Kammer des EGMR. Und siehe da: Diese stürzte den Entscheid der Kleinen Kammer um und entschied mit fünfzehn zu zwei(!) Stimmen das pure Gegenteil: «Christliche Kreuze, die in Klassenzimmern öffentlicher Schulen angebracht sind, verletzen keine Grundrechte – weder Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls (Recht auf Bildung) noch Art. 9 der EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit).»
Diesen bemerkenswerten Fall sollte man einrahmen und sich über den Schreibtisch hängen. Zwei Lehren drängen sich auf. Erstens: Wenn wir, das Volk, nicht mehr bereit sind zu spuren, wird sich unsere Classe politique wohl oder übel dazu bequemen müssen, dem Volkswillen zu folgen. Zweitens: Das sogenannte «Völkerrecht», das der faktisch sakrosankte Gerichtshof in Strassburg sich teilweise aus den Fingern saugt, ist offensichtlich nicht in Stein gemeisselt, sondern kann je nach politischer Wetterlage auch flugs wieder geändert werden.
Bundesverwaltungsgericht
hebelt Schweizer Recht aus
Ganz anders als für die Italiener ist für unsere Schweizer Staatsgewalten alles, was aus Strassburg kommt, «Völkerrecht», das sie unhinterfragt umsetzen. So das Bundesverwaltungsgericht (BVGer), das 2022 «seine Rechtsprechung an ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anpasste». Der EGMR hatte 2021 befunden, «die strikte und automatische Anwendung einer Wartefrist von mehr als zwei Jahren» für den Familiennachzug vorläufig aufgenommener Personen sei «unvereinbar mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens». Deshalb wies das BVGer die Bundesverwaltung an, sich nicht mehr an die Wartefrist von drei Jahren gemäss Art. 85 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) zu halten.
Das Ausländergesetz war 2005 vom Parlament beschlossen und in der Referendumsabstimmung 2006 vom Schweizervolk angenommen worden. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Justiz weist die Verwaltung an, die oberste Staatsgewalt, die Legislative, glatt zu übergehen, und setzt selbst Recht! Wenn das Richtergremium in Strassburg pupt, wird die Gewaltenteilung – ein tragender Grundsatz des Rechtsstaates! – ganz einfach über den Haufen geworfen.
Den kuschenden Bundesrat stoppen!
Und’s Tüpfli uf em i: Das Urteil des EGMR von 2021 richtete sich gar nicht gegen die Schweiz, sondern gegen Dänemark. Dazu alt Bundesverwaltungsrichter Fulvio Haefeli: «Die Entscheidungen des EGMR entfalten keine über den entschiedenen Fall hinausgehende allgemeine Bindungswirkung für alle Vertragsstaaten der EMRK.» Also ist der Entscheid für die Schweiz nicht bindend.
Trotzdem kürte der Bundesrat ihn flugs zu einem «Grundsatzurteil» des EGMR und eröffnete kürzlich die Vernehmlassung, um die «Praxisanpassung» des BVGer «auf Gesetzesebene um[zu]setzen». Über diese Gesetzesänderung – so sie denn durch das Parlament befürwortet wird – werden wir Stimmbürger vermutlich in einer Referendumsabstimmung entscheiden. Denn rascherer Familiennachzug heisst noch mehr Zuwanderung in unseren grosszügigen Sozialstaat. Wollen wir einen so schwerwiegenden Entscheid der Justiz in der Schweiz oder in Strassburg überlassen?
Übrigens: Wir können den Bundesrat auch schon während der Vernehmlassung stoppen. Sie dauert bis zum 22. August 2024. •
Quellen:
Urteile des EGMR: Verein Klimaseniorinnen Schweiz gegen die Schweiz, Urteil vom 9.4.2024, Beschwerde 53600/20 EGMR; Burghartz gegen die Schweiz (Familienname), Urteil vom 22.2.1994, Beschwerde A/280-B EGMR; Lautsi und andere gegen Italien (Kruzifix im Schulzimmer), Urteil vom 18.3.2011, Beschwerde Nr. 30814/06.
Medienmitteilung des Bundesverwaltungsgerichts zum Urteil F-2739/2022 vom 7.12.2022, «Anpassung der Wartefrist für Familiennachzüge»; Medienmitteilung des Bundesrates vom 1.5.2024, «Bundesrat schlägt Anpassung der Wartefrist beim Familiennachzug vor»
Haefeli, Fulvio. «Stoppt Strassburg!» In: Weltwoche vom 25.4.2024
Fontana, Katharina. «Heute Aktivist, morgen Richter: Wie unparteiisch ist das Strassburger Gericht?» In: Neue Zürcher Zeitung vom 12.4.2024
mw. Zu den 47 Richtern am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehört auch einer aus der Schweiz. Dieser Fakt soll die Strassburger Richtersprüche für uns Schweizer legitimieren. Vertritt der vom Bundesrat geschickte Richter aber auch unsere Interessen?
Für die Schweiz sitzt derzeit Andreas Zünd (SP) im EGMR. Laut NZZ-Redaktorin Katharina Fontana zählte Zünd schon in seinen 17 Jahren als Bundesrichter «zu den führenden Stimmen der ‹Internationalisten›». Man könne von keinem EGMR-Richter erwarten, dass er immer die Meinung seines eigenen Landes unterstütze, so Fontana, fügt aber hinzu: «Eine andere Frage ist, ob ein Richter auch in Fällen, wo die Meinungen in der Richterschaft auseinandergehen, so gut wie immer gegen das eigene Land entscheiden muss – wie Zünd das tut.»
Wir können uns lebhaft ausmalen, was für eine Mannschaft der Bundesrat in das sogenannt «unabhängige paritätische Schiedsgericht» gemäss Rahmenvertrags-Entwurf Schweiz-EU schicken würde. Wahrscheinlich kämen ihrem Land verbundene Juristen wie der langjährige EFTA-Gerichtspräsident Carl Baudenbacher oder der Zürcher Rechtsprofessor Andreas Glaser nicht in die Kränze. Jede Wette, dass auch dort die gleichen EU-Turbos auftauchen würden, die wir schon täglich in unseren «Leitmedien» anhören dürfen …
Quelle: Fontana, Katharina.
«Richter Andreas Zünd: Niemand verurteilt die Schweiz zuverlässiger als er».
In: Neue Zürcher Zeitung vom 26.2.2024
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