Eine harte Definition der Schweizer Neutralität fehlt in der Bundesverfassung. Die Neutralitätsinitiative verlangt, dass der Bundesrat seine Friedensfunktion aktiv betreibt. Unser Land würde dadurch Handlungsspielraum zurückgewinnen.
Die 2022 lancierte Neutralitätsinitiative kommt zustande. Das Initiativkomitee hat am 11. April 133 000 Unterschriften für das Begehren eingereicht. Damit ist der Kurs für eine Volksabstimmung über eine Neutralitätsdefinition in der Schweizer Verfassung so gut wie eingeschlagen.
Eine in der Verfassung verankerte Neutralität würde Klarheit schaffen für uns – und für das Ausland. Ob der Bundesrat in einer ersten Phase einen Gegenvorschlag zur Initiative ausarbeiten wird oder eine Ablehnung ohne Alternative bevorzugt, steht im Moment noch in den Sternen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass er die Initiative im Originalwortlaut nicht befürworten wird, da sie seine Kompetenz, den Neutralitätsbegriff frei zu interpretieren, einschränkt. Der Bundesrat hat in seinen Berichten zur Neutralität von 1993 und 2022 wiederholt argumentiert, die Neutralität brauche «Flexibilität, damit sie sich dem Lauf der Zeit anpassen kann» (2022, S. 8). Das Magistratengremium wird daher entscheiden müssen, ob es eine weniger strikte Neutralitätsdefinition vorschlagen will oder die «Alles oder nichts»-Strategie einschlägt, das Begehren an der Urne versenken zu wollen.
Von Grossmächten für Grossmächte
So oder so wird die Initiative von nun an eine substantielle Debatte über die Definition der Neutralität und ihrer Verankerung im Schweizer Staatsgebilde forcieren. Unsere Neutralität wird im Moment nämlich von der Verfassung zwar an zwei Stellen erwähnt (Art. 173, 185), dort aber mit keiner Bedeutung gefüllt. Darin unterscheidet sich die Schweizer Neutralität zum Beispiel von derjenigen Österreichs, wo ein Bundesverfassungsgesetz von 1955 (BGBl. Nr. 211/1955) die aussenpolitische Maxime auch näher beschreibt: «Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.» Eine solch «harte» Definition fehlt der Schweiz auf Verfassungsebene.
Das österreichische Beispiel zeigt anschaulich, dass eine Definition in der Verfassung einer flexiblen Auslegung der Aussenpolitik aber nicht im Weg steht. So hat sich Österreich 1955 trotz «harter» Neutralitätsdefinition sofort für einen Uno-Beitritt entschieden (der in der Schweiz erst 2002 kam) und ist 1995 der EU beigetreten – etwas, was in der Schweiz von konservativer Seite her häufig als inkompatibel mit der Neutralität dargestellt wird.
Es wird zum Teil auch argumentiert, dass so ein Verfassungstext unnötig sei, denn die Schweizer Neutralität richte sich nach den Haager Abkommen von 1899 und 1907, was völkerrechtlich nicht verkehrt ist, jedoch einen wichtigen Punkt übersieht. Die Haager Abkommen definieren die Rechte und Pflichten neutraler Staaten zu Kriegszeiten und beziehen sich auf alle Staaten, die sich gegen einen Beitritt zu einem Krieg entscheiden. Die Abkommen beinhalten keine speziellen Klauseln für «immerwährend» neutrale Staaten wie die Schweiz, die sich die Neutralität als aussenpolitische Maxime auf ihre Fahne geschrieben haben. Die Haager Abkommen waren vor allem von Grossmächten für Grossmächte gemacht, die im 19. Jahrhundert ab und zu mal neutral waren («situative Neutralität»), aber nicht als Grundprinzip. Deshalb sucht man in diesen Abkommen Weisungen an immerwährend neutrale Staaten während Nichtkriegszeiten vergebens.
Eine in der Verfassung verankerte Neutralitätsdefinition für die spezifisch schweizerische immerwährende Neutralität würde hier Klarheit schaffen für uns – und für das Ausland, was von der Schweiz erwartet werden darf. Sie gäbe zudem innenpolitisch nur vor, was die Minimalanforderungen für eine Ausgestaltung unserer Neutralitätspolitik sind, nicht, was die genauen Details betrifft. So ist es auch mit dem vorliegenden Initiativtext, der alles andere als radikal ist.
Der vorliegende Initiativtext ist ein ausbalancierter Ansatz, um konservative und progressive Wertvorstellungen von der Schweizer Aussen- und Sicherheitspolitik unter einen Hut zu bringen. Im Wortlaut heissen die vier vorgeschlagenen Paragraphen:
Paragraph eins und vier sind der Spagat der Initiative, Friedenspolitik mit militärischer Selbstverteidigung zu harmonisieren. Während die Formulierung eine Schweiz ohne Armee erschweren (aber nicht verunmöglichen) würde, ist sie gleichzeitig ein Olivenzweig an pazifistisch eingestellte Mitbürger und Mitbürgerinnen, dass die Schweiz eine Friedensfunktion im internationalen System aktiv betreiben soll und ihre Neutralität in diesem Sinne zu verstehen hat – und nicht etwa als Isolationismus.
Paragraph zwei streut vor allem viel Sand ins Getriebe der Nato-Turbos, die hinter den Kulissen an einem schleichenden Beitritt arbeiten (von den Politikwissenschaftlern Filip Ejdus und Catherine Hoeffler treffend «Krypto-Atlantiker» getauft). Ebenso wäre ein Schweizer Mitmischen in einer gemeinsamen EU-Verteidigungsstruktur unmöglich, sollte eine solche jemals entworfen werden. Gleichzeitig trägt der Paragraph aber realpolitischen Umständen Rechnung, indem er für den Fall eines unmittelbaren Angriffs auf die Schweiz gemeinschaftliche Verteidigung nicht per se ausschliesst. Der Bundesrat müsste also nicht Notrecht verhängen, um im Fall eines Angriffs mit der einen oder anderen ausländischen Macht zu kooperieren. Während dies durchaus ein Einfallstor für Krypto-Atlantiker ist, durch eine Hintertür militärische Verflechtungen der Schweiz weiter auszubauen, ist der Paragraph doch ein Kompromiss, um Optionen für eine unsichere Zukunft offenzuhalten.
Erinnerungen an das Bankgeheimnis
Die grösste Änderung im bisherigen Neutralitätsverständnis steckt in Paragraph drei, jedoch auch hier mit viel Vorbehalt. Einerseits wird zwar stipuliert, dass die Schweiz nicht nur direkt (militärisch) sich nicht an Kriegen von Drittstaaten beteiligt, sondern auch von «nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen» – sprich: Sanktionen – gegen die eine oder andere Konfliktpartei absieht. Andererseits werden gleichzeitig zwei Ausnahmen vorgeschlagen: Uno-Sanktionen, die von Natur aus universellen Charakter haben, würden weiterhin auch von der Schweiz mitgetragen, und zweitens könnte die Eidgenossenschaft auch weiterhin «Massnahmen» ergreifen, um die Umgehung von Sanktionen anderer (befreundeter) Staaten zu verhindern. Auch diese Ausnahme ist vor allem aus realpolitischen Gründen wichtig.
Es wäre fatal, wenn die Schweiz gar keine Sanktionen von Drittstaaten (der EU und der USA) mittragen könnte, da beide dieser für die Schweiz sehr wichtigen Handelspartner die unangenehme Angewohnheit haben, nicht nur primäre Sanktionen gegen Kontrahenten zu verhängen, sondern auch über Sekundärsanktionen Drittstaaten oder deren Institutionen zu drohen. Würde die Schweiz gewisse Sanktionen von den USA und der EU nicht selbst übernehmen und dadurch zur Umgehung dieser Primärsanktionen beitragen (wenn auch nur in den Augen der USA und der EU), käme die Schweiz selbst unter Sanktionen, die die hiesige Wirtschaft aufs schlimmste beschädigen könnten. Vergessen wir nicht, dass das Bankgeheimnis 2009 vom Bundesrat nicht freiwillig ausgehebelt wurde, sondern auf Grund von Drohungen der USA, die UBS und Credit Suisse zu sanktionieren, was den Untergang beider Banken hätte bedeuten können.
Uno-Sanktionen, die universellen Charakter haben, würden weiterhin auch von der Schweiz mitgetragen. Zugegebenermassen ist dies kein positives, souveränitätsbasiertes Argument für Sanktionen. Aber als nicht selbstsuffizienter, kleiner Binnenstaat im Herzen Europas, der vom Handel abhängt, muss man sich gewissen Diktaten fügen — vor allem wenn sie unter Gewaltandrohung daherkommen. Das Sich-fügen-Können lässt der Initiativtext explizit zu. Was bedeutet, dass, auch wenn die Initiative angenommen werden sollte, die Schweiz nicht automatisch alle gegen Russland (und andere Staaten) verhängten Sanktionen rückgängig machen müsste, sollte der Stellvertreterkrieg in der Ukraine und der Nato-Russland-Konflikt bis dann noch nicht beendet sein.
Was bringt denn dann dieser Initiativtext, könnte man berechtigterweise fragen. Nun, die Wichtigkeit liegt im Grundsatz. Denn der neue Neutralitätsartikel würde klarstellen, dass die Schweiz ihre Neutralität im Prinzip als Bündnisfreiheit betrachtet und im Prinzip auch wirtschaftlich verstanden haben will (was manchmal auch als «integrale Neutralität» bezeichnet wird). Das soll aber nicht heissen, die Schweiz würde nicht Ausnahmen machen oder ihre Existenz für diese Grundsätze aufs Spiel setzen. Das Prinzip zielt darauf ab, gewisse Tendenzen umzukehren, die sich seit dem Ende des Kalten Krieges in der eidgenössischen Aussenpolitik materialisiert haben.
Massnahmen gegen Kriegsparteien
Obwohl Sanktionen nicht per se unmöglich wären, würde eine solche Neutralitätsdefinition dafür sorgen, dass die Schweiz nicht (quasi)automatisch vom Ausland verhängte Sanktionen übernimmt, sondern unter der vorsichtigeren – und souveräneren – Maxime agiert, dass nur die «nötigsten» Sanktionen ergriffen werden, so, wie das 1998 und vorher noch der Fall war.
Des weiteren ist die Androhung von Sekundärsanktionen zwar nicht unüblich, gerade für die USA; sie sind aber trotzdem ein unfreundlicher Akt, von dem die EU bis vor kurzem noch abgesehen hat. Es ist also durchaus zu erwarten, dass es in Zukunft ausländische Sanktionen geben wird, die ohne Androhung von Sekundärsanktionen daherkommen werden und denen die Schweiz sich dann nicht in vorauseilendem Gehorsam anschliessen muss, sondern mit Hinweis auf diesen Verfassungsartikel zurückweisen kann. Die Schweiz würde mit dem Artikel also mehr Handlungsspielraum gewinnen – nicht verlieren.
Ausserdem könnte die Schweiz dadurch auf symbolische Sanktionen verzichten, wie etwa auf die Sperrung des Schweizer Luftraums für die russische Zivilluftfahrt. Diese Massnahme ist komplett sinnentleert, denn russische Flugzeuge können offensichtlich den Schweizer Luftraum nicht passieren, ohne den sanktionierten EU-Luftraum zu überfliegen. Solche Massnahmen gegen Kriegsparteien könnte man sich in Zukunft sparen – insofern die EU nicht mit der Sekundärsanktionskeule droht –, um so auch neutralitätspolitisch glaubhafter zu bleiben, als dies im Moment der Fall ist.
Auch im militärischen Bereich hätte der Verfassungsartikel eine starke Signalwirkung, dass das Stimmvolk die schleichende Integration des Schweizer Verteidigungsdispositivs in die Strukturen der Nato und der EU nicht befürwortet und Distanz zu Plänen kollektiver militärischer Einsätze wünscht.
Auch im militärischen Bereich
hätte der Verfassungsartikel
eine starke Signalwirkung
Er wäre ein Gegengewicht zu den Plänen des Bundesrats, der spätestens seit dem 2022 publizierten Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht des Vorjahres die eidgenössische Sicherheitsdoktrin komplett auf eine Verflechtung mit der Nato und der EU ausgerichtet hat. «Kooperation» mit beiden Institutionen bis hin zur Sicherstellung von «Interoperabilität» liegt im Moment im Zentrum des bundesrätlichen Sicherheitsdenkens. Das zeigt sich zum Beispiel glasklar in der Entscheidung, beim European-Sky-Shield-Projekt mitmachen zu wollen, oder in der konstanten politischen Annäherung an die Nato. So hat 2023 zum ersten Mal eine VBS-Chefin (wobei die Betonung hier nicht auf dem Gender liegt) nicht nur das Nato-Hauptquartier besucht, sondern auch an einer Sitzung seines obersten Gremiums, des Nordatlantikrats, teilgenommen.
Ist es gut, im Strom mitzuschwimmen?
Militärisch wie wirtschaftlich ist der Initiativtext darauf ausgelegt, als Gegengewicht zu diesen Verflechtungstendenzen zu wirken und das Staatsschiff vom schwedischen und finnischen Kurs abzubringen, der darin besteht, die Neutralität zuerst operativ auszuhöhlen, um sie zu gegebenem Zeitpunkt (wenn ein genügend grosser externer Schock auftritt) ganz über Bord zu werfen.
Bereits vor ihrem Zustandekommen musste die Neutralitätsinitiative vielfältige Kritik einstecken, so wurde sie in den Medien häufig als rechte Blocher-Initiative dargestellt, obwohl im unabhängigen Initiativkomitee auch linke Vertreter sitzen und sich verschiedene SP-Vertreter, Gewerkschafter und die Kommunistische Partei dezidiert hinter die Initiative gestellt haben.
Auch die Neutralitätsgegner waren in den letzten beiden Jahren natürlich aktiv – von plumpen Aussagen wie: die Neutralität sei eine «identitätsstiftende Lebenslüge» (Publizist Roger de Weck), bis hin zur Behauptung, dass der Wunsch nach integraler Neutralität, die auch Sanktionen nicht mitträgt, eine implizite «Unterstützung oder explizite Parteinahme für aggressive Staaten» darstelle (Historiker Jakob Tanner).
Diese Auseinandersetzungen werden sich über die nächsten Jahre intensivieren, und man wird sich über kurz oder lang der Frage stellen müssen, warum die Schweiz Russland sanktio-niert nach dessen Angriff auf die Ukraine, nicht aber die USA nach ihrem Angriff auf den Irak (2003) oder der momentanen völkerrechtswidrigen Bombardierung des Jemen sowie Israel wegen seiner Bombardierung und Besetzung palästinensischer Gebiete. Ist es gut, wenn ein neutraler Staat wirtschaftlich und moralisch Partei ergreift in den Fällen, in denen es einfach ist, im Strom mitzuschwimmen, in anderen Momenten aber eine ganz andere Aussenpolitik fährt? Oder wollen wir aussenpolitisch Grundsätze verfolgen, die wenigstens im Prinzip vereinbar sind mit einer Gleichbehandlung aller Kriegsparteien?
Es gibt viel zu diskutieren. •
Erstveröffentlichung in Weltwoche 17.4.2024.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags Weltwoche.
* Pascal Lottaz ist Associate Professor für Neutralitätsstudien an der Rechtsfakultät der Universität Kyoto (Japan). Er stammt aus dem Kanton Freiburg und ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei.
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