IGH: Israel muss seine Offensive gegen Rafah einstellen und die Grenzübergänge für Hilfslieferungen öffnen

MiddleEastEye/zf. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat auf Antrag Südafrikas entschieden, dass Israel seine Offensive in Rafah im Gaza-Streifen einstellen muss (siehe Kasten).
  Das Gericht hatte im Januar entschieden, dass Israel alles tun muss, um völkermörderische Handlungen im Gaza-Streifen zu verhindern, forderte aber keinen Waffenstillstand. Südafrika argumentierte jedoch, dass der jüngste israelische Bodenangriff in Rafah, dem monatelange Bombardierungen vorausgegangen waren, die Situation vor Ort verändert habe und es unumgänglich mache, neue Massnahmen zu ergreifen.
  Der Präsident des IGH, Nawaf Salam, bezeichnete die humanitäre Lage im Gaza-Streifen als «katastrophal» und sagte, dass frühere Massnahmen unzureichend gewesen seien. «Israel muss unverzüglich seine Militäroffensive und alle anderen Massnahmen im Regierungsbezirk Rafah einstellen, die den Palästinensern im Gaza-Streifen Lebensbedingungen auferlegen, die ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen könnten», sagte er bei der Verlesung des Urteils vor Gericht.
  Er fügte hinzu, dass Israel den Grenzübergang Rafah wieder öffnen und «den ungehinderten Zugang von Untersuchungskommissionen oder Untersuchungsgremien gewährleisten muss, die von den Vereinten Nationen beauftragt wurden, Vorwürfe des Völkermords zu untersuchen».
  In seiner vierten Eingabe an den IGH in der vergangenen Woche hatte Südafrika im Rahmen seines laufenden Verfahrens, in dem Israel des Völkermordes im Gaza-Streifen beschuldigt wird, neue Dringlichkeitsmassnahmen im Zusammenhang mit dem israelischen Einmarsch in Rafah gefordert, darunter auch die Einstellung aller Militäroperationen.
  Die Massnahmen kamen zu den neun vorläufigen Massnahmen hinzu, die Südafrika in seiner ersten Eingabe an das Gericht im Januar beantragt hatte, in der es Israel unter anderem aufforderte, die Militäroperationen im Gaza-Streifen einzustellen. Das Gericht erliess diese wichtige Anordnung nicht, forderte Israel aber auf, dafür zu sorgen, dass seine Truppen keine völkermörderischen Handlungen gegen die Palästinenser in Gaza begehen, mehr humanitäre Hilfe zuzulassen und alle Beweise für Verstösse zu sichern.
  Israels Einmarsch in Rafah, der südlichsten Stadt des Gaza-Streifens, in der Hunderttausende intern vertriebene Palästinenser Zuflucht gesucht haben, wurde von vielen in der internationalen Gemeinschaft abgelehnt. Doch trotz der weltweiten öffentlichen Proteste startete das israelische Militär Anfang des Monats einen Bodenangriff auf die Stadt und besetzte den Grenzübergang zu Ägypten, über den Hilfsgüter in die Stadt gebracht wurden.
  Mehrere Länder haben den Beschluss des IGH begrüsst, zum Beispiel Saudi-Arabien, die Türkei, Jordanien, Ägypten und Norwegen. «Kein Land der Welt steht über dem Gesetz. Wir erwarten, dass alle Entscheidungen des Gerichtshofs von Israel rasch umgesetzt werden», so das türkische Aussenministerium. «Ägypten betont, dass Israel als Besatzungsmacht die volle rechtliche Verantwortung für die Verschlechterung der humanitären Bedingungen im Gaza-Streifen trägt», twitterte das ägyptische Aussenministerium. Die stellvertretende kanadische Premierministerin Chrystia Freeland erklärte, sie erwarte von allen Parteien, dass sie sich an das Völkerrecht halten. «Wir werden uns entscheiden müssen zwischen unserer Unterstützung für internationale Institutionen der Rechtsstaatlichkeit oder unserer Unterstützung für Israel», sagte der Aussenbeauftragte der Europäischen Union, Josep Borrell, in seiner Antwort auf das Urteil.
  Israel reagierte lautstark auf das Urteil. Der Minister des israelischen Kriegskabinetts, Benny Gantz, erklärte gegenüber US-Aussenminister Antony Blinken, dass Israel nicht die Absicht habe, der Entscheidung des IGH zu folgen, und die Kämpfe in Rafah fortsetzen werde – und fügte hinzu, dass dies bereits im Einklang mit dem internationalen Recht stehe.
  «Auf die Anordnung des antisemitischen Gerichtshofs in Den Haag sollte es nur eine Antwort geben – die Besetzung von Rafah, die Erhöhung des militärischen Drucks und die Niederlage der Hamas, bis der Krieg vollständig gewonnen ist», sagte der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, gegenüber israelischen Medien. Der rechtsextreme israelische Finanzminister Bezalel Smotrich erklärte, Israel werde nicht zustimmen, seinen Krieg gegen den Gaza-Streifen einzustellen, da dies gleichbedeutend damit wäre, dass es «sich selbst das Ende seiner Existenz verordnet». «Wir kämpfen weiter für uns und für die gesamte freie Welt. Die Geschichte wird darüber urteilen, wer heute an der Seite der Nazis von Hamas und ISIS stand», sagte er in einem Beitrag auf X.
  Lokale Medien berichteten, dass israelische Flugzeuge kurz nach der Entscheidung des IGH das Salah-al-Din-Tor, das zum Grenzübergang Rafah führt, und das überfüllte Shabura-Lager im Herzen der Stadt bombardierten.
  Die Palästinensische Autonomiebehörde begrüsste das Urteil. «Die Präsidentschaft begrüsst die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs, die einen internationalen Konsens über die Forderung nach Beendigung des Krieges gegen den Gaza-Streifen darstellt», sagte der palästinensische Präsidentensprecher Nabil Abu Rudeineh. Die Hamas begrüsste das Urteil ebenfalls, sagte jedoch, es gehe nicht weit genug, und forderte ein Ende der israelischen Offensive auf den gesamten Gaza-Streifen. «Wir fordern den UN-Sicherheitsrat auf, diese Forderung des Weltgerichtshofs unverzüglich in praktische Massnahmen umzusetzen, um den zionistischen Feind zur Umsetzung der Entscheidung zu zwingen», erklärte der Hamas-Vertreter Basem Naim gegenüber Reuters.
  Die Biden-Administration äusserte sich bislang nicht unmittelbar zu dem Beschluss des IGH vom Freitag oder zu den erneuten Aufrufen zur Aussetzung von Waffenlieferungen an Israel, und es ist unklar, wie die offizielle Antwort der Biden-Administration aussehen wird. Washington hat sich vor dem IGH zwar entschieden gegen Israels «Völkermordklage» ausgesprochen, aber auch wiederholt erklärt, dass es eine «umfassende» Bodeninvasion in Rafah ohne einen glaubwürdigen Plan Israels zur Minimierung des Leidens der Zivilbevölkerung nicht unterstützen wird.
  Auch Amnesty International forderte erneut die Einstellung der Rafah-Offensive. «Die Bodenoffensive und die damit verbundene Massenvertreibung stellen eine weitere irreparable Gefahr für die Rechte des palästinensischen Volkes dar, die durch die Völkermordkonvention geschützt sind», sagte Heba Morayef, Amnesty-Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika. «Die israelischen Behörden müssen die Militäroperationen in Rafah vollständig einstellen, da jede weitere Militäraktion den Tatbestand des Völkermords erfüllen könnte.»
  Diesem Aufruf schlossen sich auch andere Bürgerrechtsgruppen an, darunter Democracy for the Arab World Now, deren Geschäftsführerin Sarah Leah Whitson erklärte, die Anordnung des IGH lasse «keine Zweifel daran, was folgen sollte: ein Waffenembargo gegen Israel».
  Der israelische Angriff hat die ohnehin schon gefährliche humanitäre Krise im Gaza-Streifen weiter verschärft, da die lebenswichtigen Hilfswege über die Grenzübergänge Rafah und Kerem Shalom blockiert sind. Mehr als 810 000 Menschen sind in den vergangenen zwei Wochen aus Rafah geflohen, teilte die UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge am Montag mit.  •

Quellen: https://www.middleeasteye.net/news/icj-rules-israel-must-halt-its-military-offensive-gaza vom 24.5.2024; https://www.middleeasteye.net/news/world-welcomes-ICJ-ruling-rafah-us-response-pending vom 24.5.2024

Beschluss des IGH vom 24. Mai 2024

Der Internationale Gerichtshof hat heute seinen Beschluss über den von Südafrika am 10. Mai 2024 gestellten Antrag auf Änderung und Verhängung vorläufiger Massnahmen in der Rechtssache betreffend die Anwendung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes im Gaza-Streifen (Südafrika gegen Israel) erlassen.
  In seinem Beschluss hat der Gerichtshof:

«(1) Mit dreizehn zu zwei Stimmen,
bekräftigt, dass die in seinen Beschlüssen vom 26. Januar 2024 und 28. März 2024 genannten vorläufigen Massnahmen unverzüglich und wirksam umgesetzt werden müssen;

(2) verwiesen er auf die folgenden vorläufigen Massnahmen:
Der Staat Israel wird in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus der Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes und in Anbetracht der sich verschlechternden Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung im Regierungsbezirk Rafah angewiesen,
(a) Mit dreizehn zu zwei Stimmen,
die Militäroffensive und alle anderen Massnahmen im Regierungsbezirk Rafah, die der palästinensischen Gruppe im Gaza-Streifen Lebensbedingungen auferlegen könnten, die ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen könnten, sofort einzustellen;
(b) Mit dreizehn zu zwei Stimmen,
den Grenzübergang Rafah für die ungehinderte Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Hilfe in grossem Umfang offenzuhalten;
(c) Mit dreizehn zu zwei Stimmen,
wirksame Massnahmen zu ergreifen, um den ungehinderten Zugang von Untersuchungskommissionen, Erkundungsmissionen oder anderen Untersuchungsgremien, die von den zuständigen Organen der Vereinten Nationen mit der Untersuchung von Völkermordvorwürfen beauftragt wurden, zum Gaza-Streifen zu gewährleisten;
(3) Mit dreizehn zu zwei Stimmen,
beschliesst er, dass der Staat Israel dem Gerichtshof innerhalb eines Monats ab dem Datum dieses Beschlusses einen Bericht über alle Massnahmen vorlegt, die zur Umsetzung dieses Beschlusses getroffen wurden. […]»

Source: https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/192/192-20240524-pre-01-00-en.pdf vom 24.5.2024

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Rafah 13.–20. Mai 2024

Aus dem Bericht der Palästinensischen Rothalbmond-Gesellschaft (PRCS)

Der Grenzübergang Rafah ist seit dem 7. Mai geschlossen, was zu einer weiteren Verschlechterung der bereits katastrophalen humanitären Lage im Gaza-Streifen führt.
  Nach Angaben der UN wurden fast 800 000 Menschen aus Rafah in Richtung Khan Younis und Deir Al Balah vertrieben, was zu einem Anstieg des humanitären Versorgungsbedarfs geführt hat.
  Der Patiententransport über den Grenzübergang Rafah wird von der Besatzung nicht gestattet.
  Es wird keine humanitäre Hilfe in den Gaza-Streifen gelassen: kein Treibstoff, kein Gas, keine Lebensmittel und keine Hilfsgüter erreichen die Palästinenser.
  Das Gesundheitssystem in Rafah verschlechtert sich weiter und leidet unter einem zunehmenden Mangel an wichtigen medizinischen Gütern.
  Die PRCS-Zweigstelle in Khirbet Al Adas im Osten Rafahs wurde durch schwere Bombardierungen beschädigt.
 Das PRCS führt seine humanitären Massnahmen in Rafah von der PRCS-Einrichtung in Al Mawasi im Gouvernement Khan Younis (westlich von Rafah) aus durch.
  EMS (Emergency Medical Services)-Teams können im Osten Rafahs nicht arbeiten. Daher wurden die EMS-Teams auf 4 Standorte im Regierungsbezirk verteilt, um eine schnelle Reaktion zu gewährleisten.
  Der medizinische Posten in Al Quds ist seit Anfang Februar 2024 in Betrieb.
  Die medizinischen Dienste an den Standorten Al Nasr medical, Al Attar und Park sind auf Grund der schweren Bombardierungen in dem Gebiet eingestellt worden. Ein medizinischer Stützpunkt (Tel Al Sultan im Westen Rafahs) ist in Rafah noch in Betrieb.
  2 Lager für Binnenvertriebene befinden sich noch in Rafah, ein drittes wurde abgebaut und soll nach Al Mawasi Khan Younis verlegt werden.
  Hilfslieferungen werden auf Grund der Schliessung des Grenzübergangs Rafah durch die Besatzung gestoppt.

Quelle: Humanitarian Response Report PRCS
 vom 13.–20. Mai 2024

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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