Kinder – unschuldige Opfer sinnloser Kriege

Es braucht die Rückkehr zu den Genfer Konventionen

von Eliane Perret

Nach den Greueln des Zweiten Weltkrieges schien sich die Menschheit zu besinnen. Nie wieder Krieg! 3,5 Prozent der damaligen Weltbevölkerung war ums Leben gekommen. Nicht nur Soldaten und paramilitärische Kräfte, sondern erstmals mehr Zivilisten als Soldaten. Viele Menschen erlagen erst nach dem Krieg ihren Verletzungen oder starben durch Zwangsarbeit, Missbrauch, Kälte und Hunger. 50 Millionen Opfer – neuere Forschungen sprechen sogar von über 75 Millionen. Es war der verheerendste Krieg der Geschichte.1
  Es wurden internationale Vertragswerke geschaffen und Vereinbarungen getroffen, die einen dauerhaften Frieden möglich machen sollten. «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen», hielt Artikel 1 der im Rahmen der Uno ausgearbeiteten und 1948 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fest.
  Besonderes Gewicht legte man auf den Schutz der Zivilbevölkerung, speziell von Kindern. So entstanden die vier Genfer Konventionen von 1949 und die zwei Zusatzprotokolle von 1977 sowie das Zusatzprotokoll von 2005. Sie bilden den Kern des Humanitären Völkerrechts und sollen alle Personen schützen, die sich nicht oder nicht mehr an den Kampfhandlungen beteiligten. Am 20. November 1989 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen zudem die Konvention über die Rechte des Kindes (KRK). Artikel 38 hielt bezüglich kriegerischer Auseinandersetzungen unter anderem fest: «Im Einklang mit ihren Verpflichtungen nach dem Humanitären Völkerrecht, die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu schützen, treffen die Vertragsstaaten alle durchführbaren Massnahmen, um sicherzustellen, dass von einem bewaffneten Konflikt betroffene Kinder geschützt und betreut werden.»2

Gebrochene Verträge,
 missachtete Vereinbarungen

Doch seither zeigt sich, dass speziell für die Grossmächte die damals getroffenen Verträge und Vereinbarungen Makulatur geworden sind. Irak, Indochina, Libyen, Somalia, Sudan, der Jemen, Sri Lanka, das ehemalige Jugoslawien, der Kongo, Syrien, Ukraine, Gaza und noch viele andere – Kriegsherde, die uns nicht schlafen lassen. Eine Studie des wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses zählte allein zwischen 1992 und 2022 251 «militärische Interventionen» (ein Euphemismus für Kriege), vorangetrieben durch eine kleine, einflussreiche Minderheit, deren Handeln von Gier nach (Vor-)Macht und Geld bestimmt ist. So wird weiterhin getötet und gestorben. Die menschlichen Opfer gelten als «Kollateralschäden» und werden als zum Krieg gehörendes Beiwerk in Kauf genommen. Das zeigte 1996 eine Stellungnahme von Madeleine Albright, der ehemaligen Aussenministerin der USA. Ein UN-Bericht hatte zuvor festgestellt, dass zwischen 1991 und Ende 1995 nicht weniger als 576 000 irakische Kinder auf Grund der harten von den USA erzwungenen Wirtschaftssanktionen gestorben waren. In einem Fernsehinterview bekräftigte Albright, dass der Tod von mehr als 500 000 irakischen Kindern (mehr als in Hiroshima) durch die von den USA verhängten Sanktionen richtig gewesen sei: «Ich denke, das ist eine sehr schwere Entscheidung, aber der Preis ist es wert.»3
  Und es ging weiter. 8000 Kinder seien in bewaffneten Konflikten getötet oder verstümmelt worden, hielt 2017 die Uno in ihrem jährlichen Bericht fest: In Afghanistan 3500 (fast ein Viertel mehr als im Jahr zuvor), im Jemen 1340, in Syrien 1300. Diese Attacken auf Kinder seien «inakzeptabel», sagte damals der UN-Generalsekretär António Guterres in New York. Doch es ging weiter. Einige Jahre später, am 20. November 2023 – ein Monat, nachdem der Krieg im Gaza-Streifen begonnen hatte und die zivilen Opfer sich mehrten – twitterte Papst Franziskus am Internationalen Tag der Kinderrechte: «Kein Krieg ist Kindertränen wert.» Wohltuende Stimmen im eiskalten Schweigen darüber, dass laut der israelischen Zeitung «Haaretz» im Gaza-Streifen mindestens 35 000 Menschen getötet worden sind, über 60 Prozent davon Zivilisten, mehrheitlich Frauen und Kinder. Ein unvorstellbares Grauen.4

Nie wieder Krieg – schon vergessen?
 Eine Erinnerungsstütze

Allein im verwüsteten Europa lebten nach dem Zweiten Weltkrieg 20 Millionen Kinder, die zu Kriegswaisen geworden waren. Andere hatten wichtige Menschen aus ihrem familiären Umfeld verloren. Eines von ihnen war die 1929 geborene deutsch-amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy E. Werner-Jacobsen. Ihre Kindheit und Jugendzeit in Deutschland waren geprägt von Leid, Armut, Entbehrung, Verlust geliebter Menschen, Angst und Unsicherheit. Bei Kriegsende war der Vater die einzige männliche Person ihres familiären Umfelds, die noch lebte.
  Zu ihrem Glück hatte sie die Möglichkeit, ihre durch den Krieg unterbrochene Schulbildung nachzuholen. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer einschneidenden Erlebnisse während der Kriegsjahre widmete sie ihr Leben als Forscherin Kindern, die wie sie selbst einen schweren Start ins Leben hatten.5 In ihrem Buch «Unschuldige Zeugen. Der Zweite Weltkrieg in den Augen von Kindern»6 gab sie Kindern in Europa, Asien und den Vereinigten Staaten, deren Leben durch Kriegserlebnisse im Zweiten Weltkrieg geprägt war, eine Stimme. Sie leitet es ein mit einem Dank «… für meine Mutter, die mich wieder zur Schule schickte, als die Welt, die ich kannte, in Trümmern lag. Was Kinder heute in den kriegsgeschüttelten Ländern erleben, darf niemanden unberührt lassen». Sie wertete Tagebucheinträge von Kindern und Jugendlichen aus oder bat sie in späteren Jahren, über ihre Kriegserlebnisse nachzudenken.

Unschuldige Opfer

Einige von ihnen sollen hier zu Wort kommen, sie sprechen für Tausende andere, die heute unter den gleichen Belastungen leiden und nicht vergessen werden dürfen. Sie wurden Zeugen und Opfer furchtbarer Gewalt, mussten den Verlust geliebter Menschen ertragen oder wurden auch Opfer von Propagandastrategien. Belastende Erlebnisse und grosses Leid gehörten zum Lebensalltag. Väter mussten in den Kriegsdienst einrücken, wie Juris Vater, der sich freiwillig zum Kampfeinsatz gemeldet hatte, nachdem die deutsche Armee in die Sowjetunion eingefallen war. Es galt Abschied zu nehmen: «Ich weinte, und zum erstenmal sah ich auch Tränen in den Augen meines Vaters», erinnert sich Juri (S. 49).
  Oft mussten Kinder schon in jungem Alter mit lebensgefährlichen Situationen zurechtkommen. Zum Beispiel ein fünfjähriger Bub in London. Er wurde gerettet, weil sein dünnes, zitterndes Stimmchen aus den Trümmern eines zerbombten Hauses gedrungen war; er sang «God save the Queen». Seinen Rettern erklärte er später: «Mein Vater war Bergarbeiter und hat erzählt, dass die Leute im Bergwerk klopfen und singen, wenn sie verschüttet werden. Ich war so eingequetscht, dass ich nicht klopfen konnte, und bin erst gerade in die Schule gekommen, und ‹God save the Queen› war das einzige Lied, das ich kannte.» (S. 34) Andere konnten zu Recht nicht verstehen, warum man sie behandelte, als wären sie gefährlich und hätten schwere Verbrechen begangen. So ging es japanischen Kindern, die seit Jahren in den USA lebten. Sie wurden nach dem Angriff Japans auf Pearl Harbour mit ihren Familien in Internierungslager gebracht. «Überall ziehen sie Stacheldraht, und es gibt acht Wachttürme … Ich begreife einfach nicht, warum die Regierung uns noch einsperren muss, nachdem sie uns schon mitten ins Niemandsland gebracht hat.» (S. 122)
  Die Frage, was die Kriegserlebnisse mit ihnen machen würden, beschäftigte viele Kinder und Jugendliche. Josephine, eine 16jährige Jugendliche schreibt:  «Nachts liege ich im Bett und lausche auf die Sirenen. Wir sind schon so weit, dass wir uns, statt aufzustehen und in den Bunker zu laufen, nur Watte in die Ohren stecken, die Decken über den Kopf ziehen und beten, dass die nächste Bombe nicht für uns bestimmt ist. […] Ich frage mich oft, was für ein Leben das für eine Jugendliche ist, aber ich kann nur daran denken, wie mich das hier auf die Dauer beeinflussen wird, falls ich es überleben sollte.» (S. 36) Und es war vieles – Unmenschliches, Überforderndes –, was sie erlebten.

  Willemien, 13 Jahre alt, sah in ihrer Heimatstadt Nijmegen (Niederlande), wie jüdische Kinder in einen Güterwagen verladen wurden: «Ich war erstarrt vor Angst. Ich wusste, was geschah … Ich konnte zu Hause nicht darüber sprechen. Im Bett weinte ich mir die Augen aus und konnte endlich meiner Schwester davon erzählen. Danach fühlte ich mich etwas besser, doch ich denke oft an jenen Augenblick zurück und sehe ihn deutlich vor mir wie in einem Film, aber in Zeitlupe.» (S. 45f.)
  Bernd aus Deutschland erinnert sich an seinen Zimmerkameraden in der Kinderlandverschickung. Sein Lehrer hatte ihn beiseite genommen und ihm einen Brief vorgelesen: «Wir sahen den Jungen erst am Abend wieder, blass, still kroch er in sein Bett, zog die Decke über den Kopf, und erst nach Stunden, als ich zufälligerweise wach wurde, hörte ich sein Weinen … Erst nach einigen Tagen erfuhren wir, dass seine Mutter und Grossmutter und seine kleine Schwester bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen waren.» (S. 76)
  Zum Glück gab es manchmal auch überraschende Momente, welche die Kinder davor schützten, ein von Hass geprägtes Feindbild aufzubauen, das ihr Leben später belasten würde. Der neunjährige Lucien erinnert sich an das von den Deutschen bombardierte Rotterdam. Alles lag in Trümmern, und ganze Strassenzüge standen in Flammen. Lucien hörte Musik. Sie kam aus einer ausgebombten Kirche, in der wie durch ein Wunder die Orgel noch funktionierte. Ein deutscher Offizier spielte Präludien und Fugen von Bach. Lucien erinnert sich: «Es berührte mich zutiefst. Ich meine, die Kirche war eine Ruine, aber er spielte Orgel. Mir kann niemand weismachen, dass dieser Mann durch und durch schlecht war.» (S. 29) – Viele Kinder waren feinfühlige Beobachter. Robin, 7 Jahre alt, begegnete deutschen Kriegsgefangenen in England und erinnert sich: «Meine Begegnung mit den Kriegsgefangenen war eine interessante Erfahrung. Ich entdeckte, dass Menschen, die ich gefürchtet und gehasst hatte – die zu fürchten und zu hassen man mich gelehrt hatte – genauso waren wie wir und nicht die grauenhaften, furchterregenden Feinde, von denen geredet wurde. Damals lernte ich zum ersten Mal, andere Menschen zu verstehen und den ersten Eindruck nicht als vollständig, endgültig und unwiderruflich zu empfinden.» (S. 40)
  Manchmal halfen umsichtige Lehrer den Kindern, die menschliche Seite im Grauen zu erkennen. Nancy erinnerte sich später an eine von ihnen: «Ich erinnere mich an diese Lehrerin … Sie sagte: Versetzt euch in ihre Lage! So viele von uns sind gegen die Deutschen, gegen die Japaner, aber nicht diese Menschen treffen die Entscheidungen, sondern ihre Anführer. Diese Botschaft habe ich nie vergessen. Sie war einzigartig – ein wahrhaft guter Mensch. Sie wohnte neben uns und war mit einem Mann verheiratet, der im Krieg fiel, und dennoch hatte sie diese Botschaft für uns.» (S. 103) So gab es neben sehr traurigen Erlebnissen auch immer Augenblicke überraschender Mitmenschlichkeit, die ihnen wichtige Wegweiser für ihr späteres Denken, Fühlen und Handeln waren.

«Die abscheulichen Kriege beenden …»

Alle diese Kinder und Jugendlichen haben Schwerstes ertragen. Sie sprechen stellvertretend für alle anderen unschuldigen Opfer von Kriegen. Auch wenn viele von ihnen zu lebensbejahenden Erwachsenen geworden sind, haben sogar die widerstandfähigsten unter ihnen Narben davongetragen, wie Emmy Werner schreibt.
  Was Kinder heute in den kriegsgeschüttelten Ländern erleben, darf niemanden unberührt lassen. Es gab sie damals und es gibt sie heute in Gaza, im Kongo … Sie halten den Albrights dieser Welt den Spiegel vor, denn sie haben die Verantwortung zu tragen. Auch für sie gilt, was Shigeru Tasaka (aus Japan), ein Drittklässler, nach den schrecklichen Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, sechs Jahre später schreibt: «Zum erstenmal begriff ich, wie abscheulich und furchterregend Krieg ist […]. Ich glaube […], dass die Menschen durch die Atombombe verstehen werden, wie barbarisch, tragisch, unzivilisiert und hassenswert der Krieg ist, und die abscheulichen Kriege, die es heute gibt, beenden.» (S. 199)
  Das war vor siebzig Jahren! •



1 Julia Monn und Anja Lemcke. «75  ahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen, ein Datenberg ist geblieben – eine Übersicht». In: Neue Zürcher Zeitung vom 8.5.2020; https://www.nzz.ch/international/zweiter-weltkrieg-eine-grafische-uebersicht-zum-ende-des-krieges-ld.1550346
2 https://www.unicef.ch/sites/default/files/2018-08/un-kinderrechtskonvention_de.pdf
3 https://swisscows.com/de/video?query=albright+kinder+irak
4 vgl. Hass, Amira. «Die Vernichtung Gazas darf in Europa nicht zum akzeptierten Alltag werden!» In: Globalbridge vom 15.5.2024; https://globalbridge.ch/die-vernichtung-gazas-darf-in-europa-nicht-zum-akzeptierten-alltag-werden/

5 Emmy E. Werner-Jacobson (*26. Mai 1929 in Eltville am Rhein; †12. Oktober 2017) wanderte nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA aus und absolvierte ein Psychologiestudium. Sie schrieb an der University of Nebraska ihre Doktorarbeit und wurde Professorin im Department of Human and Community Development der UC Davis. Sie war Pionierin der Resilienzforschung und erlangte Weltruhm durch ihre bahnbrechenden Studien an Kindern der Kauai-Inseln.
6 Werner, Emmy E. Unschuldige Opfer. Der Zweite Weltkrieg in den Augen von Kindern. Hamburg/ Wien: Europa Verlag 2001

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