Berlin im Mai 2024. Beim ersten Blick zeigt die gigantische Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland pulsierendes Leben und bunte Betriebsamkeit. Berlin wirkt polyglott, in den meist vollen Bussen und Bahnen hört man immer wieder Gäste aus dem Ausland, Englisch dominiert. Davon, dass Deutschland Krieg führt, merkt man zuerst nichts. Doch wenn man genauer hinschaut, zeigt sich ein anderes Bild. Über manch einem öffentlichen Gebäuden weht nicht die deutsche, sondern die ukrainische Fahne. Für die Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni wirbt die SPD mit grossen Plakaten. Man sieht die Spitzenkandidatin Katarina Barley sowie den deutschen Kanzler Olaf Scholz und im Vordergrund in grossen Lettern nur ein Wort. Zum Beispiel «Gerechtigkeit» – oder «Frieden». Auch auf Wahlplakaten von Bündnis 90/Die Grünen ist von Frieden die Rede. Ich denke an Orwells Dystopie «1984»: «Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Unwissenheit ist Stärke!»
Propaganda statt Bildung
Berlin hat zahlreiche Museen mit sehenswerten Ausstellungen. Zum Beispiel die Jubiläumsausstellung zu Caspar David Friedrich in der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel. Geschichtlich interessierte Menschen sind ins grosse Deutsche Historische Museum, aber auch in viele kleinere Ausstellungsstätten geladen. Ich selbst besuche das Museum im Weltkriegsbunker beim Anhalter Bahnhof. Die Ausstellung, die mich interessiert, hat den Titel «Hitler – wie konnte es geschehen?». Die Ausstellung ist umfangreich, bietet für den ausgebildeten Historiker aber wenig Neues. Im Gegenteil, sie lässt sogar wichtige Themen aussen vor. Zum Beispiel Solides über die Rolle der Westmächte beim Aufstieg der deutschen Nationalsozialisten.
Statt dessen gibt es eine Wandtafel im Raum über den deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion, die so in keinem seriösen Geschichtsbuch zu finden ist. Die Tafel ist der Ukraine gewidmet (nicht etwa Belarus) und zeigt unter anderem ein Foto mit einem der für die Ausstellung Verantwortlichen. Er war im Frühjahr 2022 in Butscha (Ukraine) und ist dort neben einem ausgebrannten Panzer zu sehen. Dazu ein Text des US-amerikanischen Historikers Timothy Snyder, in dem behauptet wird, Putin und Hitler seien sich sehr ähnlich … und das heutige Russland habe «Merkmale des Faschismus». Timothy Snyder war hochaktiv beim Staatstreich in der Ukraine 2014. Und ich frage mich: Warum muss ein deutsches Museum bei seinem geschichtlichen Urteil auf US-amerikanische Hassprediger zurückgreifen?
Neben mir stehen Schülerinnen und Schüler. Sie werden zuhauf durch die Ausstellung geführt. Wie soll ich das nennen, was hier bezweckt wird? Ich nenne es Kriegspropaganda der übelsten Art. Kurz vor dem Ausgang des Museums gibt es eine «Sonderausstellung» zur Ukraine und zum Krieg dort. Eine grosse Wandtafel auf der rechten Seite bildet die Köpfe von Hitler und Putin ab und zitiert noch einmal, jetzt ganz ausführlich, Timothy Snyder.
Karl Jaspers
Erneut lese ich das 1966 veröffentlichte Buch von Karl Jaspers: «Wohin treibt die Bundesrepublik?» Offensichtlich finde nicht nur ich das Buch auch heute noch lesenswert. Im April 2024 veranstaltete die Heidelberger Akademie der Wissenschaften eine öffentliche Vorlesung zum Thema1 … und wollte schon mit der Ankündigung vorbeugen: «Der Titel dieser 1966 publizierten Schrift klingt überraschend aktuell, der Inhalt ist es weniger.» Ich sehe das anders – auch wenn fast 60 Jahre seit der Veröffentlichung vergangen sind und das Buch schon damals heftig attackiert wurde.2
Auf der Internetseite der «Karl-Jaspers-Stiftung» ist eine ausführliche Biographie zu lesen3: «Karl Jaspers wurde am 23. Februar 1883 in Oldenburg geboren. Er stammte aus einer liberalkonservativen Familie, die Kaufleute, Pastoren und Politiker hervorgebracht hatte. Sein Vater, als Stadtrat und Landtagsabgeordneter selbst politisch tätig, war Direktor einer Bank. Seine Mutter leitete mit Klugheit und Wärme einen grossbürgerlichen Haushalt, in dem die Geschwister − Jaspers hatte noch eine zwei Jahre jüngere Schwester und einen sechs Jahre jüngeren Bruder − behütet aufwuchsen.»
Es folgen Passagen über seine lebenslange Erkrankung der Atemwege, sein Medizin-Studium, seine Arbeit als Mediziner in einer Psychiatrischen Klinik, seine Veröffentlichungen zu Fragen der Psychologie, seine Bedrohung durch die Nationalsozialisten (Lehrverbot 1937, Publikationsverbot 1938), seine Furcht vor dem Abtransport seiner jüdischen Frau in ein Vernichtungslager, seine innere Emigration und sein reichhaltiges Wirken in den beiden Jahrzehnten nach dem Krieg bis zu seinem Tod 1969.
Konsequente Aufarbeitung?
Schon vor dem Krieg hatte Jaspers begonnen, sich der Philosophie zuzuwenden. Nun, nach dem Krieg, wird er einer der namhaftesten deutschen Philosophen. Ein Philosoph, der über die Universität hinaus Wirkung entfaltet. In der Biographie der Stiftung lesen wir: Nach dem Krieg «begann die Zeit eines intensiven, bis ans Lebensende aufrechterhaltenen publizistischen Engagements. Jaspers gründete mit Alfred Weber und Werner Krauss die Zeitschrift Die Wandlung, für die er selbst zahlreiche Beiträge schrieb. Verstärkt meldete er sich in Tageszeitungen zu Wort, bald kamen Rundfunkvorträge hinzu. […] Dieses publizistische Engagement war von der Hoffnung getragen, die politische Denkungsart der Deutschen dauerhaft zu wandeln. Jaspers glaubte, dass durch konsequente Aufarbeitung der NS-Diktatur ein demokratisches Bewusstsein erzeugt werden konnte. Bald musste er jedoch enttäuscht feststellen, dass weder die Bevölkerung noch die Besatzungsmächte an einer ernsthaften Diskussion über die Vergangenheit interessiert waren.»
In seinen letzten Lebensjahren beschäftigen ihn zunehmend politische Fragen höchster Brisanz: die Frage der Atombewaffnung und der innere Zustand der damaligen Bundesrepublik Deutschland. Sein Buch «Wohin treibt die Bundesrepublik?» hielt sich wochenlang auf den Bestsellerlisten, erzielte aber, so schreibt die Stiftung, «nicht die von ihm erhoffte Wirkung». Schon 1948 hatte Jaspers, nicht zuletzt aus Enttäuschung über die politische Entwicklung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, einen Ruf nach Basel angenommen und Deutschland verlassen. Aus Verärgerung über die aktuelle politische Entwicklung in der Bundesrepublik gab Jaspers 1967 seinen deutschen Pass zurück und erwarb das Basler Bürgerrecht.
Demokratie,
Parteienoligarchie und Diktatur
«Wohin treibt die Bundesrepublik?» kritisiert in seinem ersten Teil die Versuche der deutschen Politik, einen juristischen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zu ziehen. Davon ausgehend nimmt er in einem zweiten, umfangreicheren Teil den inneren Zustand der Bundesrepublik unter die Lupe. Aussagekräftig sind allein schon die Kapitelüberschriften: «Der Strukturwandel der Bundesrepublik: Von der Demokratie zur Parteienoligarchie» und «Der drohende zweite Schritt: Von der Parteienoligarchie zur Diktatur». Aussagekräftig auch die Überschriften der Unterkapitel: «Die Gesinnung von Obrigkeitsstaat und Untertanen», «Keine Bereitschaft zur politischen Verantwortung», «Lähmung politischen Denkens bei Volk und Regierung», «Verminderung der politischen Kontrolle», «Steigerung des Drangs zur Geheimhaltung», «Minimalisierung der Grundrechte», «Abwertung des Geistes. Zensur», «Allparteien-Regierung».
Gegen die Notstandsgesetze
Dann untersucht er akribisch die damals geplanten Notstandsgesetze und lehnt diese grundsätzlich und entschieden ab: «Der Plan der Notstandsgesetzgebung ist innenpolitisch die bei weitem wichtigste Sache der nächsten Jahre. Durch sie kann das Instrument geschaffen werden, mit dem in einem verhängnisvollen Augenblick durch einen einzigen Akt die Diktatur errichtet, das Grundgesetz abgeschafft, ein nicht reversibler Zustand der politischen Unfreiheit herbeigeführt werden kann. Mehr noch: Es kann die grösste Gefahr für den Frieden entstehen und das neue und endgültige Unheil über Deutschland, nunmehr vernichtend, heraufbeschworen werden.» (S. 157) Mit dem letzten Satz dieser Textpassage verweist Jaspers auf die deutschen Pläne für den «äusseren Notstand», also den Krieg.
«Alles tun, um den Frieden zu retten»
Für Jaspers ist schon die «Planung» des Kriegszustandes fatal. Er geht davon aus, dass ein nächster grosser Krieg in Europa mit Atomwaffen ausgetragen werde, und formuliert deshalb: «Krieg ist im Atomzeitalter gegenseitige totale Vernichtung. Der Notstand dieses Krieges ist in der Tat gar nicht zu bekämpfen.» So folgert er: «Dieser Notstand darf nicht eintreten. Daher muss man bedingungslos alles tun, um den Frieden zu retten, darf man nichts tun, was zum Krieg treiben könnte.» Und: «Der äussere Notstand ist allein durch ehrliche, bedingungslose Friedenspolitik zu bekämpfen.» (S. 159) [Hervorhebungen km]
Er diagnostiziert aber auch: «Was es heisst und welche Folgen es hat, dass der Krieg nicht mehr die Ultima ratio, nicht ‹Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln› sein kann und nicht sein soll, das ist trotz der Protestmärsche [zum Beispiel Ende der fünfziger Jahre gegen eine von der Regierung in Erwägung gezogene deutsche Atombewaffnung] noch nicht genügend in das Bewusstsein der Bevölkerung, der Politiker, der Militärs der Bundesrepublik getreten, jedenfalls nicht wirksam geworden.» (S. 159) Und er fügt hinzu: «Die Notstandsgesetzgebung für solchen Krieg erzeugt die falsche Stimmung, als ob in diesem Fall überhaupt Hilfe noch möglich sei. Diese Beruhigung schwächt Antriebe, alles zu tun, damit diese Situation nicht eintritt.» (S. 159) Und: «Die alten militärischen Notstandsmassnahmen gewinnen unter den neuen Bedingungen einen ganz anderen Sinn. Sie retten nicht mehr das Vaterland und nicht die Heimat und nicht die Bevölkerung. Im Augenblick, aber auch nur für eine Weile, kann sich eine kleine Gruppe der Politiker und Offiziere retten. […] Eine Frage ist: Wer sind die Erwählten, die hier – wie lange? – gerettet werden können. Durch die Notstandsgesetze wird die Bevölkerung jener kleinen Gruppe ausgeliefert. Die Bevölkerung selber ist in der Tat dem Verderben preisgegeben.» (S. 159ff.)
Heute sagt der deutsche Minister Pistorius (SPD): Deutschland muss «kriegstüchtig werden».
Das Volk muss
gegen den Krieg revoltieren können
Die Notstandsgesetze, so Jaspers, planen, die Bevölkerung erneut, wie schon im Ersten Weltkrieg, der Willkür der Militärs auszusetzen. Und er fragt: «Wollen wir durch die Notstandsgesetze die Revolte der Bevölkerung gegen den Krieg unmöglich machen? Wollen wir die Chance, dass vielleicht im äusseren Notstand die Völker überall sich sträuben, durch einen terroristischen Herrschaftsmechanismus ausschliessen?» (S. 161) Jaspers hielt eine solche «Revolte» für «grossartig» und «möglich»: «Gegen die Verantwortungslosigkeit von Militär und Regierung kann Kopf und Herz eines vernünftigen Volkes sich auflehnen, die Polizei gegen die Regierung, die Soldaten gegen die Generäle.» (S. 161)
Und: «Wenn das Volk nicht Krieg führen will […], muss es das Recht und die Möglichkeit haben, zu revoltieren: durch Streiks, durch Gehorsamsverweigerung, durch den Widerstand gegen alle Mächte, die doch nicht helfen, sondern Freiheit und Leben zugleich nehmen.» (S. 163) Dem Volk müsse eine «Chance der Rettung» gegeben werden: «Diese liegt nicht in der Vergewaltigung, sondern vorher in der Politik einer Regierung, die keinen fremden Staat bedroht, und die so handelt, dass kein fremder Staat sich bedroht fühlen muss, und nachher in der Chance der gemeinsamen Gehorsamsverweigerung der aufeinander gehetzten Staaten und Völker.» (S. 163)
Ansonsten gelte: «Wenn die geplanten Notstandsgesetze im Kriegsfall verwirklicht werden, so verwandeln sie das Volk in eine zur Schlachtbank getriebene Schafherde, geführt von den letzten Politikern der nationalen, absolutistischen Denkungsart, ebenso machtwillig wie dumm.»
Was hätte Jaspers zur
heutigen deutschen Politik gesagt?
Jaspers bezeichnet die geplante Notstandsordnung als «terroristische Ordnung vor dem Untergang». Hier sei «die Unmenschlichkeit nur gesteigert». Diese Ordnung «lässt ausweichen vor dem Ernst; sie macht unfrei; sie zerstört das Selbstsein des Menschen. Sie ist widervernünftig und in aller Rationalität zugleich dumm. Mit Empörung muss ein Volk, das Würde kennt, sich gegen die Leute und die Massnahmen wehren, die sie ihm aufzwingen möchten, und gegen die Ahnungslosen, die das tun und nicht merken. Die totale Militarisierung des Volkes raubt ihm die Seele.» (S. 163)
So frage ich, was Karl Jaspers, würde er heute noch leben, zur deutschen Politik gesagt hätte. Zu Frau Strack-Zimmermann und den Herren Kiesewetter, Merz und Hofreiter? Zu Frau Baerbock und Frau Lang? Zu Herrn Habeck? Zu Frau Faeser und Herrn Haldenwang? Zu den hohen Bundeswehroffizieren, die den Einsatz deutscher Taurus-Marschflugkörper planen? … Leider ist die Namensliste zu lang, um alle zu nennen. •
1 https://www.hadw-bw.de/news/events/karl-jaspers-wohin-treibt-die-bundesrepublik
2 zum Beispiel: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/528017/wer-treibt-die-bundesrepublik-wohin-das-treibenlassen-unbehagen-ueber-die-pluralistische-gesellschaft/ in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.). Aus Politik und Zeitgeschichte, 31/1968
3 https://jaspers-stiftung.ch/de/karl-jaspers/leben/leben
«Ein Freund meinte, dieses Buch sei einer der schärfsten Angriffe auf die Bundesrepublik durch einen Deutschen. Ich halte dies nicht für richtig. Das Dasein der Bundesrepublik ist unser Glück als Chance für einen neuen deutschen Staat. Kritik wird an Wegen geübt, die die Bundesrepublik heute geht. Nicht Verneinung ist die Absicht, sondern eine wenn auch noch so winzige Hilfe durch die Besinnung.»
Karl Jaspers. Wohin treibt die Bundesrepublik?
München 1966, Vorwort
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