von Beat Kissling
1932 stellte Albert Einstein im Briefwechsel mit Sigmund Freud, von dem er sich eine tiefenpsychologisch aufschlussreiche Antwort erhoffte, die Frage:
«Gibt es einen Weg, die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien?»
Die grausamen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges steckten den Menschen zu dieser Zeit noch immer buchstäblich «in den Knochen», während sich bereits die nächste Barbarei anbahnte. Freud kam mit seiner Sicht der natürlichen menschlichen Disposition zu einem pessimistischen Schluss: Er ergänzte die Libido1 in seiner Persönlichkeitstheorie mit dem Destrudo2, dem Todestrieb. Andere Zeitgenossen zogen andere Schlüsse, beispielsweise Albert Schweitzer, der den Krieg grundsätzlich als Ausdruck des «Verfalls der Kultur» deutete, womit impliziert ist, dass für die Menschen auch ein «Wiederaufbau der Kultur» möglich ist, um Kriege zu verhindern. Zu einem ähnlichen Schluss kam Alfred Adler, der in seiner 1919 verfassten Schrift «Die andere Seite. Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes» aufzeigte, welche kulturellen, politischen und letztendlich psychologischen Elemente im gesellschaftlichen Leben vor und während des Krieges zur allgemeinen Bereitschaft beigetragen hatten, dass die meisten Menschen begeistert in den Krieg marschierten. Zum einen sprach er von der demütigen Verehrung des Herrscherhauses, der damit verbundenen «Kunst des Bücklings», der Geste des Untertanen3 und somit der grundsätzlichen Erziehung des Volkes zur «Selbstunsicherheit und zum Gehorsam gegen die Oberen». Zum anderen erachtete er die Verbreitung reiner «Lügengeschichten» aus der Küche des Generalstabs über die menschenverachtende brutale Mentalität des Gegners, dem jede Grausamkeit zuzutrauen ist, aber auch die tägliche, einschüchternde Erfahrung, dass Menschen verhaftet und umgebracht werden, weil sie sich ein kritisches Wort erlaubt haben, als besonders bedeutsam.
Die Sehnsucht der
Menschen nach (ewigem) Frieden
Die Kriegsverbrechen von Hiroshima und Nagasaki sind heutzutage im Bewusstsein der Menschen nicht präsent wie auch das unendliche Leiden in und nach beiden Weltkriegen. Den meisten Menschen in den westlichen Ländern ist ausserdem nicht bewusst, dass es seit beiden Weltkriegen, trotz Uno, Dutzende von Kriegen – in 90 % der Fälle innerhalb von Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens – gegeben hat, mit durchschnittlich um die 230 000 Toten. Im Jahre 2022 tobten weltweit mehr als 20 Kriege, von denen in westlichen Medien kaum etwas zu vernehmen war. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass der sehnsüchtige Wunsch nach Frieden und Freundschaft anstelle von Gewalt und Krieg bei den Menschen nicht immer schon gegenwärtig war. Wir Menschen sind «ultrasoziale» Wesen, wie u.a. der amerikanische Anthropologe und Psychologe Michael Tomasello mit seiner Forschung zur evolutionären Anthropologie veranschaulichen und beweisen konnte. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Menschen automatisch und unter allen Umständen sozial und friedfertig sind. Dies hängt ausschliesslich von Erziehung und Sozialisation ab, wie Alfred Adler im Anschluss an den Bildungsgedanken des Humanismus aufgezeigt hat oder was Albert Schweitzer indirekt meinte, wenn er von der Relevanz der Kulturentwicklung sprach, in die junge Menschen hineinwachsen und an der sie sich orientieren. Während Albert Einstein in seinem Briefwechsel mit Freud die besondere Rolle und Bedeutung der Bildung hervorhebt, wenn es darum geht, Widerstandsfähigkeit gegenüber der Psychose des Hasses bei jungen Menschen zu fördern, betont Adler die Hilflosigkeit und Manipulierbarkeit der Menschen – er spricht vom «verhetzten, versklavten schmählich missbrauchten Volk» – als Folge des fehlenden «einigende(n) Band(es) des gegenseitigen Vertrauens, eines starken, geschulten Gemeinschaftsgefühls» bei den Menschen, was wesentlich mit Erziehung und Bildung zusammenhängt.
Das Vertrauen, dass es menschenmöglich wäre, ohne Krieg zu leben, reicht bis in die Antike zurück und kommt als Hoffnung und Sehnsucht seit Beginn der Neuzeit in den Schriften verschiedener bedeutender humanistisch gesinnter Persönlichkeiten, die zumeist ihr Denken christlich fundieren, zum Ausdruck. In seiner 1517 veröffentlichten Hauptschrift «Die Klage des Friedens» spricht der grosse Humanist Erasmus von Rotterdam die Herrschenden seiner Zeit in und ausserhalb der Kirche an und appelliert an sie, im Namen der Bevölkerung und der Religion auf Reichtum und Herrschaft zu verzichten, wenn dadurch Krieg vermieden werden kann. Der Begründer des modernen Naturrechts, der holländische Rechtsgelehrte Hugo Grotius, hat durch sein Werk «Vom Recht des Krieges und des Friedens» sehr viel dazu beigetragen, dass es in seiner Zeit eine Belebung des Rechtsbewusstseins im öffentlichen Leben gab, so auch hinsichtlich der Rechtfertigung von Kriegen. Legitim sei es, schreibt Grotius, ausschliesslich im Fall von Selbstverteidigung, Wiedererlangung von Eigentum oder zur Bestrafung, Krieg zu führen. Überzeugt von der grundsätzlichen Friedfertigkeit der Menschen, wenn sie eine umfassende, humane Bildung erhalten, engagierte sich Jan Amos Comenius (1592–1670), tschechischer Reformator, Pionier der Didaktik und Vater unseres modernen Schulsystems, nicht zuletzt auch wegen eigener bitterer Erfahrungen im Dreissigjährigen Krieg (1618–1648) grundsätzlich gegen den Krieg. Mit seiner Schrift «Engel des Friedens» (1667) anlässlich von Friedensverhandlungen zwischen England und Holland versuchte er, die Beteiligten mit seinen friedensethischen Ausführungen zu überzeugen, auf weiteren Krieg zu verzichten.
Laut dem Verfasser des historischen Überblickswerks «Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance» von 1953, Kurt von Raumer, sind die Verkünder der Idee eines möglichen ewigen Friedens vor allem Autoren des 18. Jahrhunderts. Er schreibt: «Die Rede vom Ewigen Frieden wird im 18. Jahrhundert eins der beliebtesten Themen der europäischen Geistesgeschichte.»4 Am prominentesten tritt dabei das sehr umfassende Werk des Abbé de Saint-Pierre «Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe» 1712/13 in Erscheinung, zu dessen Bekanntheit letztlich vor allem Jean-Jacques Rousseau beigetragen hat. Dem Abbé sei es, so Raumer, gelungen, «den Gedanken der Friedensstiftung populär zu machen».5 In dessen Konzeption taucht die Vorstellung eines Friedensbundes auf, der «alle Streitfälle fortan durch Vermittlung, statt durch Kriege zu entscheiden habe» und der auch über eine «militärische Exekutive» verfügt, welche jeglichen Friedensbrecher zur Raison bringen kann. Ein Gerichtshof ist auch vorgesehen, der befähigt ist, je nach «Schieds- und Urteilsprüchen» mit «Zwangsgewalt» dafür zu sorgen, dass die «Wahrung des Allgemeininteresses gegen die Sonderinteressen» durchgesetzt wird.6 Abbé Saint-Pierre und Rousseau sind nicht die einzigen, aber sicher die prominentesten Vertreter der Idee vom ewigen Frieden im 18. Jahrhundert, die dann von Immanuel Kant aufgegriffen und von ihm in ein kurzes, sehr prägnantes Traktat, ein sehr weitsichtiges Werk mit einer klaren rechtlichen bzw. rechtsphilosophischen Struktur, umgesetzt wurde.
Die Basis zu Kants Friedensidee:
sein Verständnis der Menschenwürde
Anlässlich des 300. Geburtstages Immanuel Kants erschienen zahlreiche Würdigungen seines umfassenden geistesgeschichtlichen Beitrags zur Fundierung eines aufgeklärten Verständnisses der Welt und des Verhältnisses des Menschen zu sich und der Natur. Ein Schlüsseltext zur Erklärung des Aufklärungsgedankens ist sein Aufsatz «Was ist Aufklärung?» von 1784. Schon in den ersten Sätzen ist die programmatische Grundüberlegung formuliert:
«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.»
Aus diesen Zeilen spricht die grundsätzliche Überzeugung von der allgemeinen Vernunftfähigkeit des Menschen, welche jedermann zum Tragen bringen kann, vorausgesetzt, der Mensch hat sich dieses Instruments des selbständigen Denkens zu bemächtigen getraut. Kant fordert ganz im Sinne der Aufklärung jedermann dazu auf, sich aktiv von Bevormundung durch Kirche und sonstige Autoritäten zu emanzipieren und auf die eigene Reflexions- und Beurteilungsfähigkeit zu vertrauen. Bleibt jemand im Zustand der Unmündigkeit, so ist Kants Diagnose unverblümt offen: Dieser Zustand verletze eigentlich die Würde des betreffenden Menschen: Nur selbstbestimmt und seinem Gewissen verpflichtet – als soziales Wesen in Eigenverantwortung gegenüber dem Leben und den Interessen anderer Menschen handelnd – kann er seine Würde leben. Diese menschenbildnerische Auffassung spiegelt sich im Wortlaut des ersten Artikels der am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte:
«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.»
Das Besondere an Kants Denken geht über die grundsätzliche Idee der Aufklärung hinaus, wonach das primäre Ziel der individuellen Emanzipation des Individuums die «Glückseligkeit» ist. Gemäss Kant strebt der Mensch weiter, nämlich nach Vervollkommnung der «inneren Denkungsart» oder anders gesagt, seiner vernunftgeleiteten Moralität. Laut Kant entspricht es der menschlichen Würde, autonom, also aus freiem Willen gemäss seiner Vernunft möglichst sittlich zu handeln. Aufbauend auf dieser Überlegung hat er die moralische Formel des kategorischen Imperativs begründet, was jedem Menschen auf Grund seiner Vernunftfähigkeit erlaubt, sich jeweils bei seiner Handlungsweise die Frage zu stellen, ob er sein Handeln zu einem allgemeinen Gesetz erheben könnte.
Kant hat sich bereits 1784 in der Schrift «Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht» dem Friedensgedanken zugewandt, als er das Ziel formulierte, dass dafür eine «die Gerechtigkeit verwaltende und den Frieden sichernde Staatenverbindung» erforderlich sei. Diesen Gedanken greift er dann 1795 in seinem Entwurf «Zum ewigen Frieden» auf, wo verschiedene Grundelemente des 1920 gegründeten Völkerbundes bzw. der Uno-Charta von 1945 bereits vorgedacht sind.
Kants Schrift
«Zum ewigen Frieden»
Als formale Rechtsschrift enthält Kants politisches Traktat sechs Präliminar- und drei Definitivartikel. Als Kant begann, diese Schrift auszuarbeiten, standen sich die Staaten hochgerüstet gegenüber. Er entwickelte bewusst keine perfekt entwickelte Vision einer Welt ohne Waffen und Krieg für eine ferne Zukunft, sondern wollte angesichts der Realität diejenigen Aspekte in Angriff nehmen, die er staatsübergreifend Schritt für Schritt für umsetzbar hielt. Die Präliminarartikel haben also den Sinn, Punkte zu definieren, über die man sich schon einmal einigen kann und die dann als Vorbedingung für den definitiven Vertrag dienen sollen. Diese Artikel werden hier auf Grund ihrer Länge nicht wörtlich, sondern zusammenfassend inhaltlich erklärt:
Der erste Präliminarartikel besteht darauf, dass ein Friede von den Beteiligten ernsthaft angestrebt werden muss; ein Waffenstillstand genüge nicht, zumal dieser erfahrungsgemäss strategisch zur Aufrüstung genutzt werden könne.
Präliminarartikel 2 bezieht sich darauf, dass ein Staat keine Habe ist, mit dessen Elementen jemand willkürlich umgehen darf, wie dies in Form von Schenkung, Heirat, Verkauf usw. während der Zeit des Feudalismus üblich war. Diese Quelle für Streit und Gewalt soll damit eliminiert werden.
Mit dem dritten Präliminarartikel soll die Existenz von stehenden Heeren (Berufsarmeen) schrittweise verboten werden. «Staatsbürger in Waffen», sprich eine Milizarmee zur Selbstverteidigung, ist laut diesem Präliminargesetz als einzige Armeeform erlaubt, also eigentlich die Lösung, welche die Schweiz kennt.
Im folgenden vierten Präliminarartikel beugt Kant der Versuchung von Staaten vor, durch übermässige Staatsschulden riskante Abhängigkeiten zu schaffen, was ein Risiko für kriegerische Auseinandersetzungen in sich birgt. Einander auszuhelfen, seine zivilen Einrichtungen zu verbessern, darin sieht er hingegen keine Gefahr.
Die zwei noch verbliebenen Präliminarartikel sind sicherlich von besonderer Bedeutung und zeigen auch, wie solide Kant vorgedacht hat, zumal beide darin enthaltenen Regelungen Elemente des heutigen Völkerrechts sind. Artikel fünf verbietet die gewalttätige Einmischung eines Staates in die Verfassung und Regierung eines anderen Staates. Der sechste Artikel könnte direkt dem Humanitären Völkerrecht entnommen sein, zumal damit die Anwendung von Kriegsführungsmethoden verboten sind, die so starke Ressentiments hervorrufen können, dass zukünftige Möglichkeiten der Versöhnung praktisch verunmöglicht werden.
Kants Auffassung über die Natur des Menschen zeigt sich an seiner Vorstellung des sogenannten Naturzustands7. Ähnlich wie Thomas Hobbes und ganz anders als Jean-Jacques Rousseau geht Kant davon aus, dass man sich im Naturzustand eher den Krieg aller gegen alle vorstellen müsse. Der Frieden werde, erklärt Volker Gerhardt in seiner ausgezeichneten Interpretation von Kants Text, den Menschen nicht geschenkt. Er sei ein «politisch-rechtlicher Zustand, der hergestellt und aktiv gesichert werden muss. Er muss, mit Kants Wort, ‹gestiftet› werden».8 Nebst der Sichtweise, dass das politische Ziel einer Staatsgründung laut Kant stets die Stiftung des Friedens sei, legt er besonderen Wert auf die erforderliche politische Aktivität des einzelnen Bürgers, um eben die gemeinsame Rechtsform zu finden, die es erlaubt, in gesicherten, friedlichen Verhältnissen zu leben. Jeder müsse daran aktiv mitwirken, um sicherzustellen, dass Unfrieden weder im Kleinen noch im Grösseren möglich sei.
Im Unterschied zu den vorbereitenden Präliminarartikeln geht es bei den Definitivartikeln darum festzulegen, welche Bedingungen schlussendlich geschaffen werden müssen, damit der Frieden vorbehaltlos Gültigkeit haben kann. Der erste Artikel lautet:
«Die bürgerliche Verfassung in dem Staate soll republikanisch sein.»9
Kant geht von der Gewissheit aus, dass es zwischen despotischen Staaten keinen gesicherten Frieden geben könne. Nur wenn in einem Staat die innere Ordnung verbürgt sei, könne man seinen Friedensabsichten trauen, erläutert Gerhardt den zugrundeliegenden Gedanken. Es seien Völker vorausgesetzt, die sich selbst nach freiheitlichen Rechtsprinzipien regieren könnten. Freiheit ist laut Kant das höchste Recht des Menschen und somit zugleich die wichtigste Bedingung für Frieden. Im Sinn des ersten Definitivartikels schwebt Kant das Ziel vor, allmählich durch beharrliche Reformen ein Gemeinwesen aus Bürgern zu entwickeln, die «für sich selbst sprechen und handeln können».10
Angesichts der Tatsache, dass zur Zeit Kants die praktischen Erfahrungen mit einer funktionierenden republikanischen Gesellschaft fehlten – die Französische Revolution endete im Desaster, und sogar in der ersten sich bewährenden Republik, nämlich in der Schweiz, dauerte es bis 1848, bis dieser Staat konsolidiert war –, ist die Selbstverständlichkeit, mit der er die Entwicklung eines ewigen Friedens von der Einrichtung republikanischer Staaten abhängig machte, enorm weitsichtig.
Zum Kern einer republikanischen Verfassung führt Kant folgende Aspekte an:
Es handele sich um einen Staat, der den Bürgern ein Leben in Frieden durch die «Herrschaft des Rechts» garantiere. Alles Handeln – privat wie staatlich – sei immer an dieses Recht gebunden, was Rechtssicherheit sogar über die Landesgrenzen hinaus ermögliche. Ausserdem sei die Friedenssicherung im republikanischen Staat am besten gewährleistet, weil es die von einem Krieg am meisten Betroffenen bzw. Leidenden selbst sind – nämlich das Volk –, die über Krieg und Frieden bestimmen.
Der zweite Definitivartikel behandelt die Beziehungen zwischen den Staaten. Während man bei den bisherigen Friedenskonzepten wie demjenigen von Abbé Saint-Pierre sehr darauf bedacht war, schon möglichst konkret und anschaulich die institutionellen Rahmenbedingungen des anzustrebenden Friedenszustandes zu definieren und zu beschreiben, formuliert Kant nur minimale Voraussetzungen, um die Konkretisierung der praktischen Politik zu überlassen. Entsprechend kurz ist also auch dieser zweite Definitivartikel:
«Das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein.»11
Wie bei den menschlichen Individuen geht der Königsberger Philosoph auch im Bereich staatlichen Zusammenlebens von einem gesetzlosen Naturzustand unter den Staaten aus und beurteilt das reale Verhältnis zwischen den Staaten seiner Zeit genau gleich, nämlich von einer feindseligen Gesinnung geprägt. Deshalb müsse die äussere wie die bestehende innere Friedensordnung zwischen den Bürgern durch das Recht gesichert werden. In der internationalen Friedensordnung sollten eben laut Kant dieselben Prinzipien gelten wie im Staatsrecht, nämlich «die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, der individuellen Selbständigkeit und der gesetzlichen wie geschichtlichen Verbindlichkeit».12 Es brauche keinen übergeordneten «Völkerstaat», der ja die Souveränität der einzelnen (freien) Staaten infrage stellen würde, sondern ein völkerrechtliches Vertragssystem in Form eines rechtlich verankerten Föderalismus. Die Hinführung zu dieser völkerrechtlichen Konzeption hat Kant bereits in einem Teil seiner Präliminarartikel vorgenommen. Die Präliminarartikel 2, 4 und 5, welche die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Staaten fordern und zu garantieren versuchen, haben die Perspektive des Föderalismus bereits logisch vorbereitet.
Der dritte Definitivartikel schliesst sich direkt hier an und baut auf dem Gedanken der Staatenvielfalt auf:
«Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein».13
Mit Hospitalität ist die Möglichkeit für jeden Menschen gegeben, in alle Staaten zu reisen und dort erwarten zu können, als Besucher zugelassen zu sein. Dies ist, wie Volker Gerhardt schreibt, eine «rechtspolitische Innovation», da dem Menschen hiermit positive Rechte, unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit, zugesprochen werden. Dass kein Asylrecht davon abzuleiten ist, erklärt sich daraus, dass auf Grund der ersten beiden Definitivartikel – sofern sie erfüllt werden – nicht zu erwarten ist, dass es ein Asylrecht braucht. In einer Republik bestimmen ja die Menschen miteinander in Anerkennung der Herrschaft des Rechts über ihre Art des Zusammenlebens. Brisant ist die Tatsache, dass Kant mit der Formulierung dieses Definitivartikels den Kolonialstaaten als solchen eigentlich jegliche Legitimation entzogen hat. Bedenkt man, dass das Ende der Kolonialzeit erst in den 1960er Jahren begann, staunt man auch hier, wie sehr Kant seiner Zeit voraus war.
Kants Vorwegnahme
völkerrechtlicher UN-Prinzipien
Die Charta der Vereinten Nationen von 1945 als Verfassung der Uno und als wichtigstes aktuelles Völkerrechtsdokument überhaupt ist in einer Haltung geschrieben, die die fassungslose Betroffenheit der Verfasser angesichts der Katastrophen beider Weltkriege zum Ausdruck bringt. Sie beginnt mit den Worten:
«Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, […]».
Und im ersten Artikel der Charta zu ihren Zielen und Grundsätzen geht es ausschliesslich als oberste Aufgabe um die Erhaltung des Friedens:
«Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele: 1. Den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmassnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen […]».
In den nachfolgenden Artikeln wird die Notwendigkeit unterstrichen, freundschaftliche Beziehungen untereinander zu entwickeln, die internationale Zusammenarbeit zu fördern – wirtschaftlich, sozial, kulturell und humanitär – alles mit Blick auf die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten der Menschen. Die Staaten sollen sich, wie es weiter heisst, darum bemühen, gemeinsame Ziele anzustreben und zu verwirklichen. Im zweiten Artikel der UN-Charta wird der Grundsatz der Gleichheit aller Staatenmitglieder festgehalten und allen die unausweichliche Pflicht auferlegt, den Vorgaben der Charta zu folgen, was vor allem darin besteht, den Frieden nie zu gefährden, jegliche Androhung von Gewalt zu unterlassen und sich der Einmischung in einen anderen Staat stets zu enthalten. Mit etwas anderen Formulierungen bzw. Fokussierungen stimmt diese völkerrechtliche Ausrichtung mit derjenigen von Kant überein.
Zur UN-Charta gehört auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in der, wie schon gezeigt wurde, die Würde und das Recht jeder Person und deren Vernunft- und Gewissensfähigkeit als besonders schützenswert bezeugt ist. Am Ende heisst es, sie (die Menschen) sollten einander «im Geiste der Brüderlichkeit» begegnen, womit der völkerrechtlich zentrale Kern angesprochen ist: Die Menschen gehören alle zur selben Gattung, sind trotz der Vielfalt an Kulturen, äusserlichen Unterschieden usw. eine grosse Familie, deren Mitglieder einander mit freundschaftlicher Verbundenheit wie Geschwister begegnen sollten. Kant erachtet es angesichts seines skeptischen Menschenbildes als zwingende Notwendigkeit auf dem Weg zum «ewigen Frieden», dass die Mündigkeit des Individuums, seine Vernunftfähigkeit im Sinne eines aufgeklärten Bewusstseins zum Tragen kommen muss, was eben die Anerkennung und Stärkung der Herrschaft des Rechts erfordert. Er traut es dem Menschen allerdings zu, sich auf diesen Weg zu machen, weil es auch zu seinem Gefühl der Würde gehört, moralisch integer handeln zu wollen.
Die Verbundenheit aller Menschen –
durch ihre gemeinsame Natur
Heute – rund 230 Jahre nach Kants Schrift – stehen uns zahlreiche Einsichten und Erkenntnisse der modernen Humanwissenschaften zur Verfügung, die unser Bild vom Menschen erweitern und vertiefen. Sie weisen in die gleiche Richtung. Eine besonders schöne und eindrückliche Art und Weise, die anthropologisch stimmige Perspektive der Menschenfamilie, die allen Grund hätte, sich miteinander verbunden zu fühlen, zu veranschaulichen, war nach dem Zweiten Weltkrieg die Fotoausstellung «The Family of Man» des luxemburgischen Fotografen Edward Steichen. Er liess sich nach dem Krieg aus der ganzen Welt Fotos über das unterschiedliche kulturelle Leben schicken. Er stellte anfangs der 1950er Jahre aus den Fotos ein umfassendes Portrait der Menschheit anhand von 32 essentiellen Themen im menschlichen Leben zusammen, so dass es den Betrachtenden wie Schuppen von den Augen fallen sollte, wie sehr die Bedürfnisse und Anliegen der Menschen überall auf der ganzen Welt dieselben sind, wie ähnlich das Leben des Einzelnen verläuft, eingebunden in verschiedene Gemeinschaften, kulturelle Umfelder und in unterschiedlichen Phasen des Lebens. Am Ende der Ausstellung war ein grosses Foto einer Atombombenexplosion zu sehen, das die potentielle Katastrophe anmahnte, die ein weiteres Hiroshima oder Nagasaki für die Zukunft der Menschheit mit Sicherheit bedeuten würde.
Die Ausstellung wurde zunächst ab 1955 in New York gezeigt, später tourte sie als Wanderausstellung während mehrerer Jahre rund um die Welt und sollte dazu beitragen, dass überall die Bereitschaft und der Wille insbesondere des sogenannten Westens zur friedlichen Zusammenarbeit gestärkt werden konnte. Diese emotional-soziale sowie geistige Einstellung scheint heutzutage leider weitgehend verlorengegangen zu sein, wenn man die aktuelle Politik verfolgt. Als um so bedeutungsvoller muss Kants beeindruckendes Traktat von 1795 gewertet und als äusserst wertvolles Vermächtnis gewürdigt werden, das nebst seinen sonstigen grossartigen Beiträgen zur geistesgeschichtlichen Entwicklung nochmals als ein Höhepunkt menschlicher Reflexionsfähigkeit und ethischen Bewusstseins bezeichnet werden kann. Seine Schrift hat ein hoffnungsvolles Licht der Erkenntnis auf die Zukunft der Menschheit geworfen und sollte unbedingt in den Kanon der Inhalte demokratiestiftender Bildung an unseren Schulen aufgenommen bzw. dort erhalten und jungen Menschen zur Kenntnis gebracht werden. •
1 Libido: die lebenserhaltende und Luststeigerung suchende Energie im Menschen
2 Destrudo: der Todestrieb mit seinem Drang nach Tod und Zerstörung
3 vgl. Heinrich Manns gleichnamiger Roman «Der Untertan»
4 Raumer, 1953, S. 127
5 ebd., S. 128
6 ebd., S. 13
7 Naturzustand: Dabei handelt es sich um eine Vorstellung bzw. ein Gedankenexperiment, wie die Menschen gelebt haben sollen, noch bevor sie sich eine staatliche oder sonstige gesellschaftliche Regelordnung geschaffen haben.
8 Gerhardt, 2023, S. 74
9 Kant, 2008, S. 10
10 Gerhardt, 2023, S. 84
11 Kant, 2008, S. 16
12 Gerhardt, 2023, S. 93
13 Kant, 2008, S. 21
Literatur
Adler, A. (1919). Die andere Seite. Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes. Verlag von Leopold Heidrich, Wien
Comenius, J. A. (1993). Angelus Pacis/Friedensengel. Königshausen & Neumann, Würzburg
Gerhardt, V. (2023). Immanuel Kants Entwurf «Zum Ewigen Frieden». Eine Theorie der Politik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt (2., erweiterte Auflage)
Institut International de Coopération Intellectuelle (1933). Ein Briefwechsel. Albert Einstein – Sigmund Freud. Gedruckt bei Imprimerie Darantiere, Dijon (France)
Kant, I. (2008). Zum ewigen Frieden. Reclam, Stuttgart
Schweitzer, A. (2007). Kulturphilosophie. Verfall und Wiederaufbau der Kultur. Kultur und Ethik. Verlag C. H. Beck, München
v. Raumer, K. (1933). Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. Verlag Karl Alber, Freitburg/München
Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.