Vor dreissig Jahren, anlässlich des 50. Jahrestages der Landung der Alliierten, hatte ich ein langes Interview mit einem serbisch-französischen Widerstandskämpfer geführt, der achtzehn Monate im Lager Neuengamme überstanden und wie durch ein Wunder eine englische Bombardierung des Schiffes, auf dem die SS die Deportierten in den letzten Apriltagen 1945 eingesperrt hatte, überlebt hatte. Er ist heute verstorben, aber er hatte mir folgende Empfehlung mit auf den Weg gegeben: «Vergiss nie, dass es die Russen und die Rote Armee waren, die uns vom Nationalsozialismus befreit haben. Nicht die Briten oder die Amerikaner.»
Eine Aussage, die man noch in den 1990er Jahren aus dem Mund der überlebenden GIs von Omaha Beach hören konnte, die wussten, dass sie ihr Leben den sowjetischen Kämpfern verdankten, die an der Ostfront starben, um Hitler daran zu hindern, seine Divisionen in die Normandie zurückzuholen. Die Zahlen sprechen für sich: 37 000 alliierten Toten in der Schlacht um die Normandie standen im gleichen Zeitraum in der parallel dazu geführten russischen Operation Bagration mehr als 178 000 Todesopfer und 600 000 Verwundete auf sowjetischer Seite gegenüber.
Wer erinnert sich heute noch daran? Im Westen fast niemand, so oft wird uns unter dem Einfluss der Nato-Propaganda eingetrichtert, dass es die Amerikaner waren, die den Krieg gewonnen haben. Zwischen «Der längste Tag» und «Der Soldat James Ryan»1 hat sich das filmische Narrativ made in USA in der europäischen Psyche durchgesetzt und alles andere, also das Wichtigste, weginterpretiert.
Unnötig zu sagen, dass für die Russen, die die 15 Millionen Toten des Konflikts (26 Millionen in ganz Sowjetrussland) nicht vergessen, dieses «Vergessen» schlimmer ist als ein Affront: Es ist eine Schandtat, die durch die Weigerung, Wladimir Putin in die Normandie einzuladen und gleichzeitig den roten Teppich für Selenski auszurollen, als einer bitteren Kirsche auf einem verdorbenen Kuchen noch gekrönt wird. Und wenn man, um den Kranz zu binden, die Deutschen zum Festmahl der Sieger einlädt, als wären sie unschuldige Opfer, während man diejenigen ausschliesst, denen der Sieg zu verdanken ist, kann man die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit dieses Vorgehens ernsthaft in Frage stellen (selbst wenn man der Meinung ist, dass die Deutschen von heute keine Schuld an den kriminellen Fehlern ihrer Vorfahren von 1945 haben).
Denn man kann nicht oft genug wiederholen, dass zwar auch die Ukrainer und die anderen heute unabhängigen Republiken, die damals die UdSSR bildeten, ihr Blut vergossen haben, um Europa vom Faschismus zu befreien – darunter Selenskis Grossvater, ein Held der Roten Armee, der sich heute im Grab umdrehen dürfte –, dass aber viele von ihnen weitgehend mit den Nazi-Invasoren kollaboriert haben. Wer weiss noch, dass von den 300 Mördern im Todeslager Treblinka dreissig Deutsche waren und alle anderen Litauer und Ukrainer? Wer erinnert sich noch daran, dass Simone Veil vor kurzem im französischen Fernsehen die aktive Beteiligung der Banderisten, die heute Selenskis Verbündete sind, am Holocaust durch Erschiessen in der Ukraine anprangerte? Sich auf die Hungersnot von 1932 zu berufen, um die Kollaboration mit der SS im Jahr 1943 zu rechtfertigen, wie man es allzu oft aus dem Mund derjenigen hört, die die Ukraine unterstützen, ist ein schändlicher Sophismus. Wenn die estnische Präsidentin stolz ihr Denkmal für die Opfer des Kommunismus zeigt, während sie gleichzeitig die Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus auslöscht und die Existenz der örtlichen Kollaborateure leugnet, die an der Ausrottung einiger ihrer Mitbürger beteiligt waren, tut sie nichts anderes, als die Geschichte auf eine Weise umzuschreiben, die nur einen Brechreiz hervorrufen kann.
Geschichtsrevisionismus ist überall am Werk. Man kann sich über die Russen lustig machen, die den ihren praktizieren, und sie denunzieren, wenn sie ihre Geschichtsbücher umschreiben und mit St.-Georgs-Bändern und Porträts ihrer im Kampf gefallenen Grossväter durch die Strassen marschieren. Aber wir tun das Gleiche, wenn nicht sogar Schlimmeres. Wenn ukrainische Schulbücher den Zweiten Weltkrieg als tapferen Kampf der Banderisten gegen zwei böse ausländische Diktatoren, Hitler und Stalin, zusammenfassen, die ihr Territorium besetzen wollten, dann muss man sich schon Fragen stellen.
Was auch immer man über den aktuellen Krieg und die Verantwortlichkeiten der einen oder anderen Seite denkt, man kann nicht die Fakten leugnen, die Geschichte verdrehen und die Wahrheit durch eine Lüge ersetzen. Letztendlich wird die Glaubwürdigkeit dessen, was man vorgibt zu verteidigen, in Frage gestellt. Diejenigen, die vorgeben, die Demokratie und Zivilisation in der Ukraine zu verteidigen, sollten sich daran erinnern. •
1 Zwei US-amerikanische Kriegsfilme zum D-Day von 1962 bzw. 1998. (Anm. d. Red.)
(Übersetzung Zeit-Fragen)
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