Die direkte Demokratie der Schweiz – Geschichte und Bedeutung

von Dr. phil. René Roca, Forschungsinstitut direkte Demokratie

(www.fidd.ch)

In der Schweiz haben die Bürgerinnen und Bürger die Demokratie in den letzten 200 Jahren zu einem weltweit einmaligen Modell entwickelt. Die direkte Demokratie ist fester Bestandteil der politischen Kultur und das entscheidende Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes. In keinem Land werden jährlich so viele Abstimmungen durchgeführt wie in der Schweiz. Im Rahmen von insgesamt vier Terminen pro Jahr kann sich die Schweizer Bevölkerung mittels Initiativen und Referenden zu einer sehr breiten Palette von Themen äussern; dies grundsätzlich auf allen politischen Ebenen, nämlich auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene. So wird es in nächster Zeit möglich sein, über die kürzlich eingereichte Neutralitäts-Initiative abstimmen zu können. Es geht dabei darum, die Schweizer Neutralität mit einem neuen Verfassungsartikel präziser in der Bundesverfassung zu verankern. Bereits die Unterschriftensammlung und nun das Zustandekommen der Initiative haben eine breite Debatte ausgelöst, die unabhängig vom Resultat politisch einiges zu verändern vermag. Das macht eben das Spezifische der politischen Kultur der Schweiz aus und bewirkt, dass die Macht etablierter Zirkel wie Parteien und Verbände aufgebrochen wird. Zudem verhindert die direkte Demokratie eine zu grosse Medienmacht, und somit entstehen Freiräume für Denk- und konkrete Veränderungsprozesse. Was sind die Wurzeln dieses demokratischen Erfolgsmodells?

Naturrecht, Genossenschaftsprinzip
 und Bildungssystem als Grundlage

Mit der direkten Demokratie entwickelte die Schweiz auf der Gemeinde- und Kantonsebene schon vor der Bundesstaatsgründung von 1848 ein Fundament, das sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts sehr unterschiedlich ausgestaltete. Dies geschah immer «von unten nach oben», also aufbauend auf den Gemeinden über die jeweilige Kantons- bis hin zur Bundesebene; auf diese Weise entwickelte sich unser bewährtes föderalistisch-subsidiäres Modell. Tragend in diesem Prozess waren das Naturrecht sowie das Genossenschaftsprinzip.
  Der Begriff «Naturrecht» als theologisch-philosophische Kategorie hat sich seit der Antike entwickelt und bedeutet, dass sich die Menschen Gedanken machen zu den überzeitlichen Normen für das Zusammenleben, zum sittlichen Verhalten (Wertefrage) und zur Gestaltung der politisch-rechtlichen Ordnung. Dabei sind folgende Fragen zentral: Was kommt jedem einzelnen Menschen zu? Welche natürlichen Rechte und Pflichten besitzt er als Person?
  Unter anderem mit dem Genossenschaftsprinzip und seinen drei «Selbst», nämlich der Selbsthilfe, der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortung, wurde das Naturrecht in der Schweiz in die Praxis umgesetzt. Der Mensch wird als soziales Wesen angesprochen, was speziell auch im Milizsystem und im Konkordanzprinzip zum Ausdruck kommt. Diese Prinzipien, die das personale Menschenbild formen, beinhalten eine integrierende Kraft, ohne die eine Willensnation Schweiz, die auf Freiheit und Gleichheit basiert, nicht hätte entstehen können. Davon zeugen zahlreiche Formen vormoderner demokratischer Institutionen wie die unterschiedlich ausgestaltete «Landsgemeinde» in verschiedenen Kantonen, der «Freistaat der Drei Bünde» im Kanton Graubünden oder die «Republik der sieben Zehnden» im Kanton Wallis. Solche genossenschaftlich fundierte Formen existierten in der Schweiz seit dem Spätmittelalter, dies im Gegensatz zum mehrheitlich feudalistischen und absolutistischen Europa.
  Die wirtschaftliche Dynamik setzte in der Eidgenossenschaft zwar spät ein, aber auf einem soliden, menschlichen Fundament. Das bedeutete nicht eine konfliktfreie Entwicklung, aber sie brachte meist gute Lösungen im Sinne des Gemeinwohls, des Bonum commune, hervor. Die Schweiz war vor 1848 vor allem ländlich-agrarisch geprägt, verzeichnete aber vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1848 einen ersten industriellen Aufschwung. Dieser erfasste allerdings nur bestimmte Landesregionen und beruhte auf den exportorientierten Leichtindustrien, also der Baumwollspinnerei und -weberei, der Seidenweberei sowie der Uhrmacherei. Ende des 19. Jahrhunderts kamen weitere wirtschaftliche Sektoren dazu, die der Schweiz mit viel innovativem und kreativem Geist einen fortgesetzten Aufschwung bescherten. Ein wichtiger Grund liegt darin, dass die Schweiz in Sachen Bildungssystem den meisten europäischen Staaten weit voraus war, wie das aktuelle Auswertungen der sogenannten Stapfer-Enquête zeigen (siehe www.stapferenquete.ch). Der helvetische Minister Philipp Albert Stapfer (1766–1840) führte 1799 die erste empirische Untersuchung zum Schulwesen der Schweiz durch. Die kritische Edition dieser wichtigen Quellen erfolgte erst im Jahr 2015. Nun liegen erste Resultate von Forschungsprojekten vor, und die sind überraschend und sehr erhellend. So war die Schweiz um 1800 eine eigentliche «Schulhochburg», in der fast alle Kinder die Schule besuchten. Die ersten Forschungsergebnisse vermögen das politische und wirtschaftliche Erfolgsmodell der Schweiz anschaulich zu erklären.
  Im Wissen um den menschlichen Drang, gesellschaftliche Umstände selber gestalten und verbessern zu wollen, stiessen gebildete Zeitgenossen nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik wichtige Veränderungen an. In diesem Zusammenhang waren das bereits vorhandene Bildungssystem wichtig sowie die Gemeinde- und Genossenschaftsformen als «Schulen der Demokratie». Die «Schulhochburg» trug neben anderen Faktoren dazu bei, dass in der Schweiz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ländliche Volksbewegungen die ersten direktdemokratischen Volksrechte erkämpften. Sie setzten diese gegen teilweise sehr heftigen, vornehmlich liberalen Widerstand durch. Dies zeigen diverse kantonale Beispiele, in denen in der Zeit der schweizerischen Regeneration (1830–1848) besonders ländliche Volksbewegungen aktiv wurden und konservativ-traditionelle und aufklärerisch-freiheitliche Konzepte miteinander verbanden. Zwei unterschiedliche Beispiele sollen dies näher beleuchten:

Baselland und seine
«Bewegungsleute»

In Baselland forcierten liberale Kreise ab 1830 die demokratische Entwicklung. Sie vertraten als kleine liberale Führungsschicht bezüglich der Demokratie das Prinzip der Repräsentation. Die Volkssouveränität sollte sich in der durch einen Zensus eingeschränkten Wahl der Legislative erschöpfen und nicht durch weitere Volksrechte konkretisiert werden. Schnell formierte sich dagegen eine Opposition aus der ländlichen Bevölkerung, die sogenannten «Bewegungsleute». Diese waren radikal denkende Freisinnige, die sich teilweise in eine jakobinisch-frühsozialistische Richtung entwickelten und für weitergehende Volksrechte eintraten. Im Zuge der Trennung von Basel-Stadt verbuchten die «Bewegungsleute» bald einen ersten Erfolg. 1832 gab sich Baselland die erste, eigenständige Verfassung und verankerte darin das Gesetzesveto, eine Vorform des heutigen fakultativen Referendums. Baselland war damit der zweite Kanton, der rund ein Jahr nach St. Gallen dieses Volksrecht einführte. Die ersten politischen Erfahrungen waren gut, und man verbesserte in der Folge die direkte Demokratie Schritt für Schritt. Die «Bewegungsleute» waren auch wichtige Förderer der «Demokratischen Bewegung» in diversen Schweizer Kantonen während der 1860er und 1870er Jahre.

Luzern und seine
 «ländlichen Demokraten»

Der Kanton Luzern hatte 1831 erstmals eine Verfassung per Volksabstimmung angenommen. Die 31er Verfassung war primär ein Produkt liberaler Kreise und war dank ihres demokratischen Charakters ein grosser Fortschritt. Die Demokratie war aber wie anfangs in Baselland eine repräsentative, das heisst, abgesehen von eingeschränkten Wahlen (Zensus) gab es für die Bevölkerung keine Möglichkeit, die Politik aktiv mitzugestalten. Für die Liberalen war dies das «vollendetste Staatssystem». Die Katholisch-Konservativen, auch «ländliche Demokraten» genannt, hatten eine andere Vorstellung von Volkssouveränität. Sie wollten der Bevölkerung mehr Mitsprache sichern. Um das zu erreichen, formierte sich eine ländliche Volksbewegung. Nach einer intensiven politischen Debatte drängten die «ländlichen Demokraten» 1841 auf eine Totalrevision der Verfassung, die schliesslich in der Abstimmung eine grosse Mehrheit erhielt. Der erste Paragraph der neuen Verfassung wies den Kanton Luzern als «demokratischen Freistaat» aus. In Erläuterungen dazu führten die Verfassungsväter aus, dass die Einführung von Volksrechten entscheidend sei, da im demokratisch-repräsentativen Staat der «Wille des Volks an die Stellvertreter desselben abgetreten» werde und dem Volke selbst «nur der Schatten der eigentlichen Souveränität» bleibe. Zu den Volksrechten gehörte wie in St. Gallen und Baselland das Gesetzesveto. Für Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866), den wohl bedeutendsten Philosophen der Schweiz im 19. Jahrhundert, war das Luzerner Gesetzesveto «die wichtigste neue Institution». Er forderte Volksrechte auch für andere Kantone, damit diese «geordneter und glücklicher» würden, was dann auch geschah. Im Kanton Luzern wurde die direkte Demokratie in den nächsten Jahrzehnten weiter entwickelt. Apropos «Glück»: Einige Forschungsarbeiten von Ökonomen haben in den Letzen Jahren nachgewiesen, dass die Bevölkerung um so zufriedener und glücklicher ist, je mehr direkte Demokratie umgesetzt ist. Eine Bestätigung also von Troxlers Diktum.

Verschiedene politische Strömungen waren wichtig,
um direktdemokratische Rechte durchzusetzen

Die Liberalen stellten nach der Gründung des Bundesstaates 1848 wichtige Weichen für die wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz und ermöglichten so die zweite Industrialisierung (u.a. mit dem Eisenbahnbau). Sie pflegten aber auch – wie das Beispiel Alfred Eschers zeigt – einen Hang zur Aristokratisierung und favorisierten ein utilitaristisches Prinzip, das gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit produzierte. In diesem Sinne gaben die Liberalen oft auch keine adäquaten Antworten auf die Soziale Frage der Industrialisierung. Die «Bewegungsleute» und die «ländlichen Demokraten» gehörten 1848 nach dem Sonderbundskrieg zu den politischen Verlierern. Sie prägten aber die Schweizer Geschichte vor und nach 1848 ebenso wie die Liberalen. Die liberalen Sieger des Sonderbundkrieges von 1847 mussten einen langen Lernprozess durchstehen, bis sie die direkte Demokratie akzeptierten und ihren Dünkel gegenüber dem «Volk» ablegten. Die Schweiz wäre kein föderalistisches und direktdemokratisches Staatswesen und besässe auch nicht das heutige wirtschaftliche Erfolgsmodell, wenn sich die liberalen, antiklerikalen und zum Teil auch zentralistischen Elemente widerstandslos durchgesetzt hätten. Liberale, frühsozialistische und konservative Kreise waren in der Schweiz gemeinsam verantwortlich für die Entwicklung des demokratischen Systems. Eines Systems, das 1874, also vor 150 Jahren, das fakultative Referendum und 1891 die Verfassungsinitiative auch auf Bundesebene einführte. Die Schweiz ist so bis heute das einzige Land mit direktdemokratischen Rechten auf allen staatspolitischen Ebenen und wurde damit zum grossen Vorbild für das Ausland. Was braucht es heute, um dieses System zu bewahren und zu verbessern?

Politische Bildung seriös im schulischen
Lehrplan verankern und ausbauen

Die direkte Demokratie in der Schweiz ist sehr anspruchsvoll und bedingt, dass die Bevölkerung intensiv und sachlich fundiert über die anstehenden Themen debattiert. Nötig ist dabei auch, dass sie sich gut über institutionelle Fragen der Schweiz auskennt, den demokratischen Aufbau unseres föderalistischen Landes zu schätzen weiss und die Abstimmungsvorlagen auch historisch verorten kann.
  Das alles setzt gute staatsbürgerliche Kenntnisse und ein breites Wissen um die Schweizer Geschichte voraus; dies sollte in der Volksschule gelegt und mit aktuellen Bezügen auch in den Gymnasien und Berufsschulen fortgesetzt werden. Gerade das Fach Geschichte und die politische Bildung kamen in den letzten Jahren stark unter Druck. In vielen Kantonen wurde Geschichte im Zuge der Einführung des Lehrplans 21 gar abgeschafft und durch ein diffuses Sammelfach ersetzt. In dieser zunehmenden Geschichtsvergessenheit und Entpolitisierung steckt die grösste Gefahr für unser demokratisches Gemeinwesen. Mit dieser offensichtlichen Verdummung der Bevölkerung wird der einzelne schutzlos der staatlichen und medialen Willkür und Propaganda ausgesetzt. Das muss verhindert werden, denn die Beteiligung an der direkten Demokratie benötigt einen ganzheitlich gebildeten Menschen mit seinem Willen partizipieren zu wollen und aktiv im Sinne des Gemeinwohls die Gesellschaft mitzugestalten.  •

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