Eingriff in das Recht souveräner Staaten

EGMR, EU-Kommission – wie haltet ihr’s mit Rechtsstaat und Demokratie?

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Es ist nichts Neues, dass Gremien ausserhalb des Nationalstaates mit ihren Vorstellungen von «Rechtsstaatlichkeit» in das Innere von Staaten hineingreifen. Demgegenüber gehört es zum Begriff des souveränen Staates, dass er sein Recht autonom bestimmt. Selbstverständlich muss er sich an die von ihm abgeschlossenen Verträge mit anderen Staaten halten, zum Beispiel als Mitgliedsstaat des Europarates an die «Europäische Menschenrechtskonvention» (EMRK) oder als EU-Mitgliedsstaat an das Regelwerk der EU. Einige Bestimmungen der EMRK sind zudem zwingendes Völkerrecht, das meist auch in anderen Erlassen steht.
  Was aber, wenn überstaatliche Gremien wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) oder die EU-Kommission ihre vertraglich begründeten Kompetenzen bis zum Gehtnichtmehr überdehnen und sich ungebührlich in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates einmischen?

Schweizer Parlament
 bietet dem EGMR die Stirn

Der Ständerat hat am 5. Juni ein starkes Zeichen gesetzt für den Vorrang der Demokratie und des innerstaatlichen Rechts gegenüber Urteilen des Europäischen Menschenrechts-Gerichtshofs (EGMR), die über den Rahmen ihrer Zuständigkeit hinausschiessen.
  Vor kurzem hatte der EGMR wieder einmal die Schweiz gerügt.1 Dabei interpretierte er doch tatsächlich in das «Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens» hinein, dass die Schweiz den klagenden Klimaseniorinnen sauberere Luft liefern müsse. Das Klimaurteil war nicht der erste haarsträubende Entscheid des Strassburger Gerichts gegen die Schweiz, aber diesmal platzte unseren Parlamentariern endlich der Kragen.
  Der Ständerat stimmte am 5. Juni mit einem deutlichen Mehr von 31 Ja gegen 11 Nein (bei 2 Enthaltungen) einer «Erklärung des Ständerates» zu, mit der er das Richtergremium in Strassburg zur Ordnung ruft: «Effektiver Grundrechtsschutz durch internationale Gerichte statt gerichtlicher Aktivismus» lautet seine Forderung. Urheber des Vorstosses ist die «Kommission für Rechtsfragen des Ständerates» (RK-S).
  In seiner Erklärung stellt der Ständerat «besorgt fest», dass der Gerichtshof «die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung durch ein internationales Gericht überstrapaziert» und damit «in Kauf nimmt, dass seine Legitimität […] in Frage gestellt wird». Er fordert den Gerichtshof auf, «den in der Konvention verankerten Grundsatz der Subsidiarität zu respektieren; dem Wortlaut der Konvention und ihrer historischen Entstehungsbedingungen wieder erhöhte Beachtung zu schenken; der staatlichen Souveränität […] die ihr gebührende Bedeutung beizumessen; die demokratischen Prozesse der Vertragsstaaten zu achten.»2
  Den Bundesrat fordert der Ständerat auf, dem Ministerkomitee des Europarates mitzuteilen, dass die Schweiz ihre internationalen Klima-Verpflichtungen einhält und «daher keinen Anlass sieht, dem Urteil des Gerichtshofs vom 9. April 2024 weitere Folge zu geben».
  Der Nationalrat wird am 12. Juni über eine Erklärung mit demselben Wortlaut abstimmen. Die Chancen für ein Ja stehen nach dem klaren Entscheid des Ständerates gut, hat sich doch die Rechtskommission des Nationalrates mit 15 zu 10 Stimmen ihrer Schwesterkommission angeschlossen.3
  Diese Erklärung des Schweizer Parlaments ist ein Warnruf gegenüber internationalen Gremien, die erzwingen wollen, dass souveräne Staaten ihr demokratisch gesetztes Recht ändern. Es ist zu hoffen, dass das Richtergremium in Strassburg das Signal der Schweiz (sowie anderer Staaten) zur Kenntnis nimmt und sich künftig seinem einzigen Auftrag widmen wird, nämlich schwere Menschenrechtsverstösse von Mitgliedsstaaten des Europarates gegenüber einzelnen Menschen in ihrem Land zu ahnden.

Eingriff der EU-Kommission in
das Rechtsgefüge der Mitgliedsstaaten

«Die Europäische Kommission hat das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen eingestellt. Die Kommission war bereits in ihrer vorangegangenen Analyse vom 6. Mai zu dem Schluss gekommen, dass in Polen keine eindeutige Gefahr mehr besteht für eine schwerwiegende Verletzung der Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union.»4
  Warum hatte die EU-Kommission dieses Verfahren gegen Polen ergriffen? Und warum hat sie es gerade jetzt beendet?
  Wenn sich die EU-Kommission in das innerstaatliche Recht ihrer Mitgliedsstaaten einmischt, gilt es für uns Schweizer, genau hinzuschauen. Denn bekanntlich müsste sich die Schweiz nach der Vorstellung Brüssels mit einem Rahmenvertrag II dem Rechtssystem der EU unterwerfen. Die Schweiz ist zwar nicht EU-Mitglied und kann von Brüssel auch nicht mit dem Entzug finanzieller Mittel bestraft werden, weil wir mit dem Rahmenvertrag keine Milliarden kriegen, sondern im Gegenteil Milliarden bezahlen müssten. Aber es ist für uns Stimmbürger – und auch für die Bürger der EU-Staaten – von grossem Interesse, wie die Brüsseler Bürokratie mit «ungehorsamen» Staaten umspringt.

Rechtsstaatsmechanismus
 versus Demokratie

In aller Kürze: Die EU hat 2014 einen Rechtsstaatsmechanismus «Wahrung der in der Europäischen Union geltenden Werte» eingeführt, der eingesetzt werden soll, «wenn ein EU-Mitgliedsstaat die Tendenz zeigt, die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu verletzen».5 Im Klartext heisst das, dass die Brüsseler Bürokratie in der Rechtsetzung und -anwendung der Mitgliedsstaaten herumschnüffelt und über jeden Staat einen jährlichen «Bericht über die Rechtsstaatlichkeit» verfasst. Unglaublich! Die Souveränität der Staaten und die damit verbundene Rechtsetzung nach den innerstaatlichen demokratischen Regeln gehören offenbar nicht zu den in der EU geltenden Werten …
  Damit die Rügen aus Brüssel mehr Wirkung zeigen, führte die EU 2021 eine neue Regelung ein, wonach «Zahlungen aus dem EU-Haushalt für Länder gekürzt bzw. Mittel der Strukturfonds eingefroren werden» können. Dieses finanzielle Druckmittel setzte die EU-Kommission 2021 gegen Polen und Ungarn ein, wegen ihrer «fortwährenden Verstösse […] gegen die Rechtsstaatlichkeit». Ohne ins Detail zu gehen: Die beiden Regierungen erhielten einen Brief, «der sämtliche Missstände und Mängel bei Rechtsstaatlichkeit, Budgetkontrolle und Korruptionsbekämpfung aufzählt.» Beide Staaten reichten dagegen Klage ein und wurden vom Europäischen Gerichtshof abgewiesen. In der Folge hielt die EU-Kommission Milliardenbeträge zurück, die Polen und Ungarn rechtmässig zugestanden wären.
  Warum gerade diese beiden Staaten? Ob die rechtlichen Mängel dort mehr Anlass geben zur Beanstandung als in allen anderen EU-Staaten, kann ich nicht beurteilen. Was aber bekannt ist: Ihre Regierungen und Parlamente sagen seit Jahren nicht zu allem ja und amen, was aus Brüssel kommt, sondern wollen ihr Recht und ihre Politik nach eigenem Willen gestalten.

Warum fliessen
 die Milliarden heute wieder nach Polen?

In Polen bestehe «keine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit» mehr, so die Europäische Kommission anfangs Mai. Dieser «Durchbruch» sei «das Ergebnis» der «harten Arbeit» der neuen Regierung von Donald Tusk und «ihrer entschlossenen Reformbemühungen», erklärte Kommissionspräsidentin von der Leyen am 6. Mai.6
  Sicher ist, dass die Bürgerplattform von Donald Tusk den EU-Gremien besser in den Kram passt als die EU-skeptische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die im Dezember 2015 vom polnischen Volk gewählt worden war. Aber wie die neue Regierung es geschafft haben soll, praktisch über Nacht ihre «entschlossenen Reformbemühungen» zu beweisen, steht in den Sternen. Im Dezember 2023 wurde Tusk gewählt, seit dem 1. Januar 2024 ist er Ministerpräsident. Bereits knapp zwei Monate später, Ende Februar 2024, kündigte die EU-Kommission an, 137 Milliarden(!) Euro an EU-Mitteln für Polen zu entsperren. Eine erste Tranche in Höhe von 6,3 Milliarden Euro floss im April nach Warschau. Diesen Vorgang kommentierte die sonst ausgesprochen EU-freundliche «Neue Zürcher Zeitung» kürzlich so: «Die EU findet, dass der Rechtsstaat in Polen nicht mehr bedroht sei, und lässt deswegen ein Strafverfahren fallen. Allerdings hat sich bisher wenig verändert in Warschau. Das zeigt, wie strategisch die Brüsseler Kommission in Wahrheit tickt.» Titel des Kommentars: «Die Rehabilitierung Polens ist eine machtpolitische Entscheidung».7
  Die Einschätzung, dass sich die Rechtslage in Polen wenig verändert hat, wird von der EU-Kommission bestätigt, wenn man genau hinschaut. Die bisherigen Taten der Regierung Tusk werden wie folgt benannt: Ein Aktionsplan, den Polen im Februar 2024 vorgestellt hat; erste konkrete Schritte zur Umsetzung des Aktionsplans; «Polens Anerkennung, dass die Frage der Rechtsstaatlichkeit angegangen werden muss»; Einleitung einer «Reihe legislativer und nichtlegislativer Massnahmen […], um den Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz Rechnung zu tragen»; das Versprechen, «alle Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in bezug auf die Rechtsstaatlichkeit umzusetzen.»8

Zweierlei Mass

Im Klartext: Viele Versprechen, wenig «Fleisch am Knochen». Besonders augenfällig ist die «Anerkennung, dass die Frage der Rechtsstaatlichkeit angegangen werden muss» – diese Frage anzugehen, war ja eigentlich die Aufforderung der Kommission an die polnische Regierung seit der Eröffnung des Verfahrens im Jahr 2017. Die «Gründe» für dieses Verfahren seien «nicht aus der Welt», so die «Neue Zürcher Zeitung» vom 31. Mai. In Wirklichkeit habe von der Leyen «strategische und machtpolitische Motive», um «so zu tun, als sei Polen wieder ein Rechtsstaat». Einerseits brauche sie Tusks Stimme, um im Sommer wieder gewählt zu werden, anderseits wolle sie «eine EU-freundliche Regierung belohnen und eine Botschaft an andere Mitgliedsstaaten senden, in denen der Rechtsstaat unter die Räder zu geraten droht». Eine Botschaft an Ungarn? Dessen Präsident Viktor Orbán lässt sich tatsächlich nicht vor den Brüsseler beziehungsweise transatlantischen Karren spannen, sondern erfreut kritische Geister immer wieder mit seinen unbestechlichen Stellungnahmen zur Lage Europas und der Welt. Eine Botschaft an die Slowakei? Sie hat ihren Schuss vor den Bug bereits erhalten mit dem Mordversuch an Ministerpräsident Robert Fico.
  Akzeptieren es die Menschen im EU-Raum, wenn die EU-Kommission die Rechtsstaatlichkeit ihrer Mitgliedsstaaten mit zweierlei Mass misst? Was gibt diesem Gremium überhaupt die Befugnis, in das Recht der einzelnen Staaten hineinzugreifen? Was gibt ihm das Recht, seinen Daumen je nach Wohlverhalten einer Regierung zu heben oder zu senken? Wurden die Völker der EU gefragt, ob sie ein mehr und mehr autokratisches Regelgeflecht in Brüssel wollen? Rechtsstaatlichkeit? Demokratie?  •



1 siehe «Was hat der Klimaschutz mit dem Recht auf Privatleben zu tun? Ausufernde Richtersprüche des EGMR.» in: Zeit-Fragen Nr. 10 vom 14.5.2024
2 24.053 Erklärung des Ständerates. Urteil des EGMR «Verein KlimaSeniorinnen Schweiz u.a. vs. Schweiz»
3 «EGMR-Urteil: auch der Nationalrat soll sich äussern». Medienmitteilung der RK-N vom 29.5.2024
4 «EU-Kommission beendet Artikel-7-Verfahren gegen Polen». Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 29. Mai 2024
5 Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg lpb. «EU-Rechtsstaatsmechanismus und Artikel-7-Verfahren». https://osteuropa.lpb-bw.de/rechtsstaatsmechanismus-artikel-7-verfahren#c67022
6 Europäische Kommission, Vertretung in Deutschland. «EU-Kommission will Rechtsstaatlichkeits-Verfahren gegen Polen beenden». Presseartikel vom 6.5.2024
7 Steinvorth, Daniel. «Die Rehabilitierung Polens ist eine machtpolitische Entscheidung». In: Neue Zürcher Zeitung vom 31.5.2024
8 Europäische Kommission, Vertretung in Deutschland. «EU-Kommission will Rechtsstaatlichkeits-Verfahren gegen Polen beenden». Presseartikel vom 6.5.2024

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