Mundart-Kunstlieder und Sinfonik aus der Schweiz

Zur Wiederentdeckung eines musikalischen Schatzes

von Winfried Pogorzelski

Zur Zeit ist in den Feuilletons grosser Zeitungen immer mal wieder von der Krise der klassischen Musik die Rede: Die Veranstaltungen in grossen Sälen wie der Tonhalle Zürich, des Kultur- und Kongress-Zentrums Luzern, der Berliner und der Kölner Philharmonie sowie in den namhaften Opernhäusern seien immer seltener ausverkauft. Das Publikum bestehe vornehmlich aus älteren Besuchern, die sich die Eintrittskarten leisten könnten; meistens würden dieselben grossen Werke der Klassik und Romantik von allseits bekannten Stars aufgeführt … Mit anderen Worten: Der Klassik-Konzertbetrieb sei zu einem Ritual erstarrt: Es fehle an neuen Ideen und Gesichtern, die frischen Wind in den Konzertbetrieb bringen. Nicht alle Musik-Begeisterten teilen diese Einschätzung, sondern verweisen auf neue Formen von Veranstaltungen mit weniger bekannten Künstlern zu bestimmten Epochen und Gattungen, die auch ein jüngeres Publikum begeistern.

Hierzulande ist noch wenig bekannt, dass es viele Schweizer Komponisten gab, die während der Frühklassik, der Romantik bis hin zur angehenden Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts grossartige Musik schufen. Bei Intendanten, Musikern, Orchestern und nicht zuletzt in der Musikwissenschaft fanden sie noch nicht die Beachtung, die ihnen gebührt. Um so begrüssenswerter ist es, dass es immer mehr engagierte Musiker gibt, die Neuland betreten, indem sie sich des eigenständigen Schweizer Beitrags zur europäischen Musikgeschichte annehmen. Dem Konzertbesucher kann dies nur recht sein, kommt er doch immer öfter in den Genuss, diese Musik zu hören.

Volkslied und Kunstlied

Dass die Schweiz über eine breite Tradition der Volksmusik verfügt, dürfte allgemein bekannt sein. Wer kennt nicht das «Guggisberglied» aus dem frühen 18. Jahrhundert, das von der tragischen Liebe von Vreneli und Simes Hansjoggeli erzählt, oder das «Rigilied» «Vo Luzern uf Weggis zue» mit der Schilderung einer Reise über den Vierwaldstättersee von Luzern über Weggis nach Rigi Kaltbad. Volkslieder werden durch die Jahrhunderte mündlich tradiert und dadurch, dass sie bei gemeinschaftlichen Anlässen immer wieder intoniert werden.
  Das in Notenschrift vorliegende Kunstlied verfügt über eine anspruchsvolle Melodieführung für Gesang und Klavier; ein namentlich bekannter Komponist komponierte es zu einem als Gedicht vorliegenden Text. Die Aufführung – üblicherweise im Rahmen eines Liederabends – setzt eine klassische Ausbildung der Interpreten voraus. Wenig bekannt ist bis jetzt, dass auch die Schweiz eine reiche Tradition des Kunstliedes vorzuweisen hat, doch noch selten werden sie aufgeführt.

«Lieder der Heimat» –
 schweizerdeutsche Mundartlieder

Das Schweizer Mundart-Klavierlied erlebte seine Blütezeit in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Wie im übrigen Europa verstärkte sich auch hier der Wunsch nach einer stärkeren Ausprägung der nationalen Identität, was sich in der Veröffentlichung von fünf Gedichtbänden zwischen 1861 und 1906 niederschlägt.
  Die aus der Innerschweiz stammende Sopranistin Regula Mühlemann (*1986), inzwischen auf allen Opernbühnen der Welt präsent, begab sich auf die Suche nach Schweizer Komponisten von Kunstliedern: Sie wurde fündig und barg einen wahren Schatz. Die Texte kreisen um Themen wie Heimat, Liebe, Natur und Wandern. Begleitet von der russischen Pianistin Tatiana Korsunskaya veranstaltete Regula Mühlemann viele Liederabende mit dem Titel «Lieder der Heimat». Ihre Begeisterung und ihre Bühnenpräsenz springen sofort auf das Publikum über; ihre helle und zugleich volle Stimme, mit der sie mühelos alle Herausforderungen meistert, zieht den Zuhörer sofort in den Bann. Eine CD mit demselben Titel folgte.
  Der Titel geht zurück auf Friedrich Niggli (1875–1959), der die Kompositionsklasse des Franzosen Gabriel Fauré (1845–1924) besucht hatte. Sein besonderes Anliegen war die Vertonung von Liedern in Schweizer Mundart; so entstanden mehrere Lied-Zyklen. Seine Liedsammlung «Lieder der Heimat» umfasst hundert Texte. Zu den zahlreichen Schweizer Lied-Komponisten zählen Wilhelm Baumgartner (1820–1867), der mit Gottfried Keller und Richard Wagner befreundet war, Othmar Schoeck (1886–1957), Schüler von Max Reger, und Richard Flury (1896–1967), der eine Miniatur des Theaterautors Ferdinand Schell (Vater von Maria Schell) mit dem Titel «Wandern mit Dir» vertonte, um nur einige zu nennen. Der Bieler Komponist Richard Langer (1907–1967) vertonte die «Fünf Lieder in Schweizer Mundart», darunter «Edelwyss».

Edelwyss

Es blüeht es Blüemli ganz allei
hoch obe uf de Flueh,
ganz zuserschtus uf Felsestei,
wo niemer cha dezue.

Es blüeht es Blüemli dört,
wo nur de Sehnsucht ghört,
es luegt an Himmel ue
und grüesst is Tal eim zue,
es blüeht im Alpeparadies
das schönste Blüemli Edelwyss.

Das Blüemli blüeht as wie ne Stärn
i sammetweichem Gwand.
Ich ha das Blüemli drumm so gärn,
will’s ‘s schönste isch im ganze Land.

Es blüeht es Blüemli dört,
wo nur de Andacht ghört,
wo alles Schwiege seit:
bi nur für dich bereit.

Edelweiss

Es blüht ein Blümchen ganz allein
hoch oben auf der Fluh,
ganz weit aussen auf Felsenstein,
wo niemand es erreichen kann.

Dort blüht ein Blümchen,
das nur der Sehnsucht gehört,
es schaut zum Himmel hoch
und grüsst einen ins Tal,
es blüht im Alpenparadies
das schönste Blümchen Edelweiss.

Dieses Blümchen blüht wie ein Stern
in samtweichem Gewand.
Ich hab dieses Blümchen drum so gerne,
weil es das schönste ist im ganzen Land.

Es blüht ein Blümchen dort,
das nur der Andacht gehört,
wo alles Schweigen sagt:
ich bin nur für dich bereit.

Regula Mühlemann greift auch auf Gioachino Rossini (1792–1868) zurück, der schon mit seiner Oper «Guillaume Tell» und dem Klavierstück «Au Rutli» seine Verbundenheit mit der Schweiz zum Ausdruck brachte. Rossini vertonte «La pastorella dell’Alpi» (die Schäferin der Alpen) von Carlo Pepoli, einem italienischen Dichter und Librettisten. Mit der Komponistin und Pianistin Marguerite Roesgen-Champion (1894–1976) reiht sich auch eine Frau in diese Runde ein, indem sie Texte der französischen Autoren Guy Lavaud und Jean Moréas vertonte. Und Walther Geiser (1897–1993), der aus Zofingen stammende Komponist und Schüler von Ferruccio Busoni, vertonte rätoromanische Liedtexte. Somit gelang es Regula Mühlemann mit Liedern in allen vier Landessprachen von noch unbekannten Schweizer Komponisten ihrer Heimat ein beeindruckendes musikalisches Denkmal zu setzen.

«Plangliedli [Sehnsuchtslieder],
 Lanzigliedli [Frühlingslieder],
 Herbstliedli, Heiwehliedli»

So lautet der Titel einer CD mit Schweizerdeutschen Mundartliedern, die von der Pianistin Fabienne Romer und der Sopranistin Sybille Diethelm realisiert wurde – für beide eine Herzensangelegenheit, wie sie betonen. Sie studierten an einer Schweizer Musikhochschule, kamen aber zu ihrem Erstaunen kaum mit Schweizer Musik oder Komponisten in Berührung. Anlässlich des 150. Geburtstags des aus Einsiedeln stammenden Mundart- und Heimatdichters Meinrad Lienert (1865–1933) suchten sie nach Vertonungen und stiessen zu ihrer Überraschung auf eine ganze Reihe von Deutschschweizer Komponisten, die «folkloristische Leichtigkeit mit poetischem Feinschliff» verbinden und «den Schweizer Volkston mit der langen Tradition des Kunstliedes» zusammenführen, wie es im Booklet heisst. Auch sie veranstalten Liederabende, die vom Publikum enthusiastisch aufgenommen werden.
  Nach seinem Studium der Rechtswissenschaft in der Romandie und in Deutschland arbeitete Lienert als Notar und Redakteur. Er zog mit seiner Frau ins liberale Zürich, fühlte sich aber stets seiner Geburtsstadt Einsiedeln und der Voralpenlandschaft mit ihren Bewohnern eng verbunden. Die Erlebniswelt der Heimat ist denn auch vorherrschendes Thema seiner Mundart-Lyrik, die durch poetische Eleganz, kraftvolle Bilder, feinen Humor, aber auch durch Melancholie gekennzeichnet ist. Das Schweizerdeutsche nimmt er so ernst wie «unsere alldeutsche Schriftsprache», denn «Mundart» bedeutet für ihn, dass «es quellfrisch aus Mund und Herzen» kommt. Sein grosser Freund und Förderer ist der Schweizer Dichter und Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler (1845–1924), der von ihm sagt: «Mich jauchzt es, mich jubelt es, wenn ich an den Lyriker Lienert denke. Ein überquellendes Stimmungsglücksgefühl, wie wenn man über eine Alpweide wandelt», wie etwa im folgenden Gedicht, das Volkmar Andreae (1871–1956) vertonte:

‘s Gspüslis Auge

Äugli hät mys Schatzeli
Wien ä Bach wänn’s dunkled.
Wänn drususe d’Stärneli
Still und heimli funkled.
Wänn um’s Wasser d’Zitterhälm
Stönd wie Augehöirli;
Wänn’s eim aluegt i dr Nacht,
Rüebig, teuff und g’föihrli.

Äugli hät mys Schatzeli
Wie dr Bach wänn’s taged,
Wänn drus alli Näbeli
D’Morgelüftli haged.
Wä’me alls im Bach gseht,
Himmel, Wält und Sunne,
Blöiss die arge Fischli nüdUnd’rem Bachport unne.

Liebchens Augen

Augen hat mein Schätzchen
Wie ein Bach, wenn es dunkelt.
Wenn daraus Sternelein
Still und heimlich funkeln.
Wenn ums Wasser die Zitterhalme
Stehen wie Wimpern;
Wenn es mich anschaut in der Nacht,
Ruhig, tief und gefährlich.

Augen hat mein Schätzchen
Wie der Bach, wenn es Tag wird,
Wenn daraus die Morgenlüftchen
Alle Nebelschwaden jagen.
Wenn man alles im Bach sehen kann,
Himmel, Welt und Sonne,
Bloss die schlauen Fischlein nicht
Unter der Bachböschung.

Meinrad Lienert war es ein Anliegen, dass seine Gedichte vertont werden, und zwar in den «kunstlosen Lauten des Rotkehlchens» und in der Art, wie «die Nachtigallen singen.» Mit anderen Worten: Sie sollten in einfachen, von jedermann leicht zu singenden Weisen und in Klavierliedern mit gehobenem Kunstanspruch vertont werden. Die zehn auf der CD verewigten Komponisten waren bedeutende, im Kulturbetrieb engagierte Musiker, betätigten sich als Konzertpianisten, Dozenten, international gefragte Orchester- und Chor-Dirigenten und oder als Gründer bedeutender Institutionen wie der Internationalen Musikfestwochen Luzern (heute Lucerne Festival), des Collegium Musicum Zürich oder des Paul Sacher Collegiums.

Schweizer Sinfonik wiederbelebt

Fragt man einen an klassischer Musik interessierten Schweizer, ob er einen einheimischen Komponisten und eines seiner Werke benennen kann, so wird man in den wenigsten Fällen eine spontane Antwort bekommen. Das ist leider kein Zufall, sondern liegt daran, dass schweizerische sinfonische Musik bedauerlicherweise ein Mauerblümchen-Dasein fristet: Die Programme der Konzerthäuser und Klassik-Festivals nehmen sich vor allem der deutschen, französischen, italienischen, russischen und englischen Komponisten und ihrer sinfonischen Werke an.
  Die Wiederbelebung der Schweizer Sinfonik hat einen Namen, ein Orchester und einen Aufführungsort: Die Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer (*1983) gründete 2018 das Swiss Orchestra, das Residenzorchester der Andermatt Konzerthalle in Andermatt (Kanton Uri), das sich vor allem der Aufführung und Verbreitung der Schweizer Sinfonik verschrieben hat. Das sonstige klassische Repertoire wird ebenfalls gepflegt.
  Lena-Lisa Wüstendörfer studierte Musikwissenschaften, Violine und Dirigentin, lernte bei den Dirigenten Sir Roger Norrington und Claudio Abbado. Als Gastdirigentin ist sie bei vielen renommierten Orchestern gefragt. Schwerpunkt ihrer Forschungstätigkeit ist u. a. die Schweizer Musikgeschichte. Sie leistet Pionierarbeit bei der Erschliessung des weitgehend noch unbekannten Schweizer Repertoires, was sich in der Programm-Gestaltung des Swiss Orchestra niederschlägt.
  Es besteht aus 50 Berufsmusikern der jüngeren Generation und tritt mit grossem Erfolg in allen Regionen der Schweiz auf. Schwerpunkt des Repertoires ist die schweizerische Sinfonik von der Frühklassik bis zur beginnenden Moderne. Um diese Musik zu dokumentieren, zu fördern und einer grösseren Zuhörerschaft bekannt zu machen, werden CDs mit Ersteinspielungen veröffentlicht, zuletzt die Doppel-CD «swiss dreams – stalder, huber, strong, suter u. a.» von 2023. Im Booklet wird darauf hingewiesen, dass die Schweizer Musikgeschichte «weder isoliert noch in vollkommener Abhängigkeit von Deutschland» zu sehen ist, sondern ein eigenes Profil hat: «Da ist Joseph Stadler, der in Luzern geboren und gestorben ist, Jean Baptiste Edouard Dupuy, dessen Wurzeln in Corcelles am Neuenburger See liegen und den es nach Stockholm zog, der Luzerner Franz Xaver Schnyder von Wartensee, der in Frankfurt am Main seine Heimstätte fand, Hans Huber, der in Eppenberg zur Welt kam und in Locarno verstarb, der gebürtige New Yorker George Templeton Strong, den es nach Genf verschlug, Hermann Suter aus dem aargauischen Kaiserstuhl, der massgeblich in Basel wirkte, sowie Paul Huber, der gebürtige Kirchberger, der im nahe gelegenen St. Gallen starb. Eine Geschichte also, die sich von Nord nach Ost, vom Tessin in die Romandie zieht und die immer wieder Berührungspunkte mit dem nahen und fernen Ausland liefert.» Die Auswahl der Musikstücke ist vielfältig, die Gattungen Sinfonie, Ouvertüre, Violinkonzert und Serenade sind ebenso vertreten wie ein Konzert für Hackbrett und Streichorchester. Mit diesem Repertoire und ihrer erfrischenden Interpretation gelingt es den Musikern, den Zuhörer zu begeistern.
  Mit dem Bau der 2019 eröffneten Andermatt Konzerthalle und der Gründung des Swiss Orchestras ist es gelungen, in der Zentralschweiz eine neue Spielstätte von Rang zu schaffen, die die bisherigen Konzerthäuser der Schweiz sehr gut ergänzt, zumal hier das musikalische Erbe der Schweiz gepflegt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird.  •

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