pk. Generalleutnant Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr sowie Stabschef des militärischen Ausschusses der Nato-Truppen Europas in Brüssel, warnt die Verantwortlichen dringend vor einer weiteren Eskalationsstufe im Ukraine-Krieg.
Europäische Nato-Staaten haben der Forderung des Nato-Generalsekretärs Stoltenberg nachgegeben, vermehrt Ziele auf russischem Territorium mit westlichen High-Tech-Waffen anzugreifen. Dabei geht es nicht nur um eine Störung des russischen Nachschubs oder um andere taktische Ziele, sondern auch um gezielte Angriffe auf das nukleare russische Frühwarnsystem. Das ist eine klare westliche Eskalation mit dem Risiko, sich mehr und mehr auf einer strategischen Ebene des Krieges zu bewegen, mit allen Folgen. Damit steigt abermals, wie damals in der Kuba-Krise mitten im Kalten Krieg, die Gefahr der Auslösung eines weltweiten, nicht mehr kontrollierbaren Nuklearkriegs. Die folgenden Kernäusserungen Harald Kujats aus einem Gespräch mit der «Weltwoche» geben wichtige Einsichten und werfen entscheidende Fragen auf.
«Die militärische Lage der Ukraine ist schwierig bis aussichtslos. Die Russen machen grosse Geländegewinne, vor allem in der Region Charkiw. Ihr militärisches Ziel ist aber ganz klar erkennbar nicht die Einnahme der Grossstadt, sondern die Schaffung einer Pufferzone zwischen der Grenze und den ukrainischen Streitkräften.»
Angesichts der aussichtslosen militärischen Lage der Ukraine verfolgt die Regierung Selenski einen verzweifelten Provokationskurs. Was soll daraus werden? Mithilfe der westlichen Ausrüstung hat die ukrainische Armee kürzlich unter Missachtung US-amerikanischer Bedingungen eine rote Linie überschritten: «Kürzlich hat die Ukraine zwei Radarsysteme des russischen Frühwarnsystems angegriffen. Eine verantwortungslose Handlung eines politischen Hasardeurs. Denn diese Systeme dienen dazu, einen interkontinental-strategischen Angriff auf Russland zu erkennen und notwendige Massnahmen einzuleiten. Aber wenn wir dieses System blenden, kann Russland einen solchen Angriff nicht erkennen und könnte zu einer Überreaktion neigen, um einen bevorstehenden (oder auch nicht bevorstehenden!) Angriff abzuwehren. […] Ab Juli sollen die Ukrainer F-16-Kampfflugzeuge bekommen, die in der Lage sind, mit ihren weitreichenden Luft-Luft-Raketen weit in den russischen Luftraum hinein zu intervenieren. Wenn Sie das alles zusammen betrachten, ist es verständlich, dass die ukrainische Führung versucht, nach jedem Strohhalm zu greifen. Wir müssen überlegen: Was bedeutet das?»
Panik ist ein schlechter Ratgeber
«Die Parole war immer: Die Ukraine darf nicht verlieren, Russland darf nicht gewinnen. Jetzt ist das Gegenteil eingetreten. Trotz all der Unterstützungsmassnahmen, die ja auch den europäischen Bürgern tief in die Tasche gegriffen haben, ist die Situation heute wesentlich schwieriger als am Anfang. Daher versucht man, auch in einer gewissen Panikstimmung, zu retten, was zu retten ist. Biden hat übrigens seine Ablehnung des Einsatzes von US-Waffen auf russischem Territorium damit begründet, dass er den dritten Weltkrieg vermeiden will. Das heisst, er war sich über die Tragweite im klaren. […] Allerdings besteht das Risiko, nicht zu erkennen, wann der Gegner die Toleranzschwelle erreicht. Konkret: Die Freigabe ihrer Waffen ist regional auf ein kleines Gebiet beschränkt. Es können nur Waffen mit kurzer Reichweite eingesetzt werden. Die Amerikaner haben vorerst, ich betone: vorerst, vorsichtig reagiert. Aber in Europa gehen die Forderungen weit darüber hinaus. Die Tatsache, dass ein französischer Präsident und andere europäische Regierungschefs bereit sind, in Russland zu intervenieren, halte ich für unverantwortlich. Jetzt höre ich schon die erste Stimme in Deutschland, die sagt, nun solle der Bundeskanzler den Taurus freigeben. Das sind aber zwei verschiedene Dinge. Was Biden genehmigt hat, betrifft eine regional begrenzte taktische Lage. Der Taurus aber ist ein strategisches System.[…] Damit kann die Ukraine den Kreml in Schutt und Asche verwandeln. […] Man könnte auch, wie die Ukraine das schon einmal versucht hat, den Flugplatz einer interkontinentalen Bomberflotte angreifen. Hätte das Sy-stem damals nicht direkt auf dem Flugplatz eingeschlagen, sondern einige Kilometer weiter auf dem Nuklearwaffenlager, dann würden wir beide heute nicht mehr miteinander sprechen.» […]
«Man muss fragen: Was sind die Alternativen? Eine nukleare Eskalation ist möglich, aber wenig wahrscheinlich. Putin hat selbst gesagt: Wir sind nicht verrückt. Wir wissen, was ein Nuklearkrieg bedeutet. Aber Russland verfügt auch über konventionelle Waffen, die grosse Zerstörung anrichten und über viele tausend Kilometer eingesetzt werden können. Das muss man immer berücksichtigen und die Frage beantworten: Was können und was wollen wir erreichen? Nicht mehr erreichbar sind die strategischen Ziele der Ukraine – den Donbass erobern, Russen aus dem Land treiben, die Krim erobern. Das ist ausgeschlossen.»
Der Westen hat drei Optionen
Was also tun?
«Ich sehe drei Optionen: Die erste Option ist die, dass dieser Krieg einfach weitergeführt wird. Auch von den Russen, die ja nicht an einem Durchbruch und an einer Besetzung der gesamten Ukraine interessiert sind, so dass innerhalb der Ukraine eine Zone entsteht, in der laufend Kampfhandlungen fortgeführt werden, aber in der es im Grunde zu keiner Entscheidung kommt. Es könnte sogar sein, dass die Russen, wenn sie den Donbass vollständig erobert haben, sagen: Wir haben unsere Ziele erreicht, und wir stellen die Kämpfe ein. […] Die zweite Option wäre eine konventionelle Eskalation, dass der Westen einen russischen Durchbruch verhindern will und Nato-Staaten nationale Truppen in den Kampf schicken. Wenn die dann in den Grössenordnungen vernichtet werden, von denen wir gesprochen haben, dann wird die Nato insgesamt eingreifen müssen, und es kommt zu einem grossen europäischen Krieg. Er wird allerdings nicht auf die Ukraine beschränkt sein. […] Auch europäische Staaten würden in diesen Konflikt mit hineingezogen werden. Das ist eine Option, die ich für völlig ausgeschlossen halte für einen rational denkenden Politiker, völlig ausgeschlossen für einen verantwortungsbewussten Politiker.»
Am Verhandeln führt kein Weg vorbei,
ausser der in die Katastrophe
Und die dritte Option?
«Dass man sagt: Leute, die Ukraine kann ihre Ziele nicht mehr erreichen. Wir, der Westen, haben alles getan, was wir tun konnten. Irgendwann muss dann auch einmal Schluss sein, damit wir nicht alle in diesen Strudel hineingezogen werden – und aus dem Krieg in der Ukraine dann ein Krieg um die Ukraine wird. Das können wir nicht wollen. Und das bedeutet, dass man sich mit den Russen an einen Tisch setzen muss. Und man muss versuchen, einen Waffenstillstand zu erreichen, auf den dann möglichst schnell Friedensverhandlungen folgen.»
«Sehen Sie da eine Chance?»
«Es gibt eine ganz interessante Entwicklung. Putin hat vor seinem Besuch vor kurzem in China sinngemäss gesagt, Pekings Vorschlag vom 24. Februar des vergangenen Jahres mache Sinn, der überzeuge. Und der chinesische Staatspräsident hat dann beim Besuch des Bundeskanzlers noch bestimmte Prinzipien hinzugefügt und ausgeführt. Letzte Woche ist er von Putin abermals als vernünftiger Ansatz gewertet worden. Er hat das jedoch mit zwei Bedingungen verknüpft. Erstens: Die entstandenen Realitäten müssen anerkannt werden. Das heisst, was die Russen erobert haben, steht nicht mehr zur Disposition. Zweitens: Es müssen die Sicherheitsinteressen beider Seiten berücksichtigt werden. Das ist aber eine durchaus vernünftige Ausgangsbasis für Verhandlungen.» […]
«Sie haben zu Recht gesagt, der Erste Weltkrieg war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Den Zweiten Weltkrieg hätte es nicht gegeben, wenn es den Ersten Weltkrieg nicht gegeben hätte, und den Kalten Krieg hätte es auch nicht gegeben, auch die Teilung Europas hätte es dann nicht gegeben, viele Millionen Menschen hätten nicht ihr Leben verloren. Den Zweiten Weltkrieg wollten die Völker eigentlich nicht, die Herrschenden wollten ihn. Das ist die Situation, in der wir heute sind. Die ukrainische Bevölkerung will Frieden, sie will Verhandlungen. Die Zustimmungswerte für den ukrainischen Präsidenten sind auf 17 Prozent heruntergefallen. Es gibt erheblichen Widerstand in der Ukraine. Die Leute sehen doch, wie Personen auf der Strasse gewaltsam eingefangen und an die Front geschickt werden. In den meisten Familien hat der Vater, der Sohn, der Schwager, irgendein Familienmitglied sein Leben gelassen oder ist schwer verwundet worden. Hier wird ein Krieg geführt über die Köpfe der ukrainischen Bevölkerung hinweg.»
«Und im Westen?»
«Ich habe den Eindruck, dass das auch im Westen der Fall ist. Ich kann nur von Deutschland sprechen. Aber wir haben eine grosse schweigende Mehrheit … Ich merke das auch an den Reaktionen auf das, was ich öffentlich sage. Dass es viele Menschen umtreibt, wie wir uns mit diesem Krieg befassen. Die Aggressivität der Sprache, dass man Putin zum Dämon macht. […] Es kann nicht sein, dass wir gegen den Willen der ukrainischen Bevölkerung weiter einen Krieg unterstützen, der sich irgendwann auch gegen uns richtet.» […]
«Trauen Sie den heutigen Regierungen in Deutschland, in Frankreich, in den USA zu, dass sie von diesem Schlachtross noch einmal herabsteigen können?»
«Ich bin da sehr skeptisch. Und ich habe die ganz grosse Befürchtung, dass der Ukraine-Krieg wirklich zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts wird.»
Quellen: Weltwoche-daily Spezial vom3.6.2024;
«Ur-Katastrophe des 21. Jahrhunderts», in: Weltwoche vom 6. Juni 2024
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