Mit Blick auf die ukrainisch-schweizerische Konferenz am 15. und 16. Juni hat der ehemalige Schweizer Botschafter Jean-Daniel Ruch davon gesprochen, auf dem Bürgenstock könne der Westen «seine Haltung [zum Fortgang des Ukraine-Krieges] definieren».1 Ruch spricht von zwei Wegen, die der Westen einschlagen kann: Weg eins ist die Eskalation, Weg zwei die Deeskalation. Für Weg eins plädiert der amtierende Generalsekretär der Nato, stehen die Regierungen der USA, Grossbritanniens, Frankreichs, Deutschlands und anderer westlicher Staaten2 – aber nicht alle Nato- und EU-Staaten: Aus Italien, Ungarn und der Slowakei hört man andere Stimmen. Weg zwei würde an die Bemühungen Chinas, Brasiliens und einiger afrikanischer Staaten anknüpfen – ein Weg, den nach wie vor auch die überwiegende Mehrzahl der Menschen in allen Staaten der Welt, auch in denen des Westens, gehen würde.
Wohin eine weitere Eskalation führen wird, kann heute noch niemand sicher sagen. Unrealistisch ist die Vorstellung, mit einer Eskalation ein schnelleres Ende des Krieges herbeiführen zu können. Alle Eskalationen in den zahlreichen US-amerikanischen Kriegen nach 1945 haben dies gezeigt: von Korea bis hin zu Afghanistan. Und Russland hat auch jetzt wieder deutlich signalisiert, dass es den Weg der Eskalation – wenn es dazu genötigt wird – mitgehen kann und mitgehen wird und auch selbst noch enormes Eskalationspotential hat.
Was treibt die westlichen
Eskalationsbefürworter an?
Um so mehr stellt sich die Frage, was sich die westlichen Regierungen, die eine weitere Eskalation vorantreiben, davon versprechen – jenseits ihrer unerträglichen propagandistischen Rhetorik.
Da gibt es die Ideologen, zum Beispiel die US-amerikanischen und europäischen Neokonservativen, die Russland fanatisch hassen. Sie hängen der Vorstellung an, Russland militärisch, wirtschaftlich und politisch besiegen zu wollen und das Land auf Dauer auf die Knie zu zwingen oder gar gänzlich in Stücke zu reissen. Das ist zwar eine ausgemachte Wahnvorstellung, trotzdem hat sie grossen Anklang bei einer Reihe derzeit politisch Mächtiger in den Staaten des Westens gefunden – und findet sich auch in den meisten westlichen – auch Schweizer – Mainstream-Medien wieder.
Andere Teile der Regierung in den USA – und nicht nur dort – blicken auf die US-Wahlen im November. Sie fürchten, dass eine Kapitulation der Ukraine vor dem November die Wahlchancen der amtierenden Regierung erheblich beeinträchtigen würde. Es kann sein, dass auch sie wissen: Ein militärischer Sieg gegen Russland ist nicht realistisch. Aber sie wollen das Kriegsende bis nach den Wahlen hinauszwingen und bis dahin den Wählern vormachen, mit mehr westlicher «Hilfe» könne das Blatt in der Ukraine doch noch «zum Guten» (sprich: im Sinne der westlichen Politik) gewendet werden. Dass dies zu einer Ausweitung des Krieges führen wird und dabei mit Sicherheit weitere zigtausend Menschen ihr Leben lassen (Ukrainer und Russen, aber auch mehr und mehr Soldaten aus den europäischen Nato-Staaten – ganz zu schweigen von den Folgen möglicher russischer Gegenschläge auf die eskalierenden Staaten selbst), wird unterschlagen. Oder man beschwichtigt.
Profiteure des Krieges
Für den militärisch-industriellen Komplex ist eine Eskalation des Krieges – solange er nicht selbst getroffen wird – immer noch profitabel. Wer sich die Aktienkurse der westlichen Rüstungskonzerne anschaut, findet allein dort schon ausreichend Belege dafür. Auch die US-amerikanische Öl- und Gasindustrie gehört zu den Profiteuren eines anhaltenden Krieges – auf Kosten Europas. Nicht weniger die Finanzindustrie, die immer von Kriegen profitiert, wenn der Staat immer mehr Schulden machen muss und die Börse boomt.
Was ist mit Europa los?
Die europäischen Verbündeten der USA sollten eigentlich wissen, dass eine Eskalation des Krieges auf sie selbst zurückfallen wird. Das haben die letzten beiden Jahre gezeigt. Trotzdem haben sie sich ebenfalls für den Weg der Eskalation entschieden. Frankreich zum Beispiel ganz offen – wohl auch, weil es glaubt, in Westafrika in direkter Konkurrenz zur wachsenden Bedeutung Russlands zu stehen. Verklausuliert macht es die deutsche Regierung. Öffentlich gebärdet sie sich – wie im Wahlkampf für die Sitze im Europäischen Parlament – als Kraft des «Friedens». In Tat und Wahrheit dreht sie mit an der Eskalationsschraube – und betreibt für jeden weiteren deutschen Eskalationsschritt eine waghalsige Wortakrobatik. Immer will man der «Gute» sein. Man lese dazu die Pressemitteilung der Bundesregierung vom 31. Mai «Zum Einsatz gelieferter Waffen an die Ukraine».3 Dass Deutschland unter den westlichen Ländern das Land ist, das den höchsten Preis für die Eskalation zahlt, wird dabei seit mehr als zwei Jahren verdrängt. Und doch fragen sich viele Bürger, warum ihre Regierung wie ein Vasall dem angelsächsischen Kriegskurs folgt.
Diese Aufzählung der Motive ist nicht abschliessend. Aber wohin man auch schaut bei den westlichen Eskalationsbefürwortern, nach wie vor wird nirgendwo vom Ende her gedacht.4
Legitime russische Anliegen
Solch ein «vom Ende her Denken» würde voraussetzen, rational zu handeln, sich dabei auch ernsthaft mit der Position Russlands zu befassen und mit der propagandistischen Dämonisierung des Landes und seiner Politiker aufzuhören. Dann würde sich herausstellen, dass Russland legitime Anliegen hat:
– ein Sicherheitsinteresse, das durch das Vorrücken der Nato bis an die russische Grenze massiv beeinträchtigt wurde und wird – nicht nur, weil damit zahlreiche westliche Zusagen gebrochen wurden, sondern vor allem, weil die Nato russlandfeindlich geblieben und ein aggressives Angriffsbündnis im Dienst westlicher, vor allem US-amerikanischer Hegemonialinteressen geworden ist;
Mit westlicher Einsicht
ist noch nicht zu rechnen
Die Regierungsvertreter der westlichen Staaten, die auf dem Bürgenstock zusammenkommen, wären gut beraten, Russlands Anliegen ernst zunehmen – um so, und mit Sicherheit auch nur so, zu gleichberechtigten Verhandlungen zu kommen. Aber noch fehlen Hinweise dafür, dass der von Jean-Daniel Ruch genannte zweite Weg und die Voraussetzungen dafür von den «grossen» westlichen Mächten ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Bis heute herrschen: sich an die Macht und an die Profite klammern, Hochmut und Realitätsverweigerung. Auch wenn dabei über kurz oder lang eigene Interessen übergangen werden. Zum Beispiel: Was wird passieren, wenn bei einer weiteren Eskalation auch die eigenen Länder zu Kriegsschauplätzen werden? Was, wenn am Ende sogar eine verklausulierte oder ausdrückliche bedingungslose westliche Kapitulation stehen sollte? Europäische Staaten haben dies 1918 und 1945 erlebt. Muss es wieder so weit kommen – oder sogar noch schlimmer?
Betrachte ich alle bekannten Fakten, so komme ich zum Schluss: Ohne einen «harten Schlag» (Bashar al-Assad)5 werden diejenigen, die sich auf dem Bürgenstock treffen, so bald wohl keinen Kurswechsel einleiten. Mit diesem Personal ist (noch) nicht mit Einsicht zu rechnen. Wäre es da nicht besser, wenn sich viel mehr Menschen als bislang für eine «Revolte der Bevölkerung gegen den Krieg» (Karl Jaspers)6 entscheiden? •
1 «Selbständig bleiben», Interview mit Jean-Daniel Ruch; in: Weltwoche Nr. 22.24
2 Schon vor geraumer Zeit haben die Regierungen von Grossbritannien, Frankreich sowie anderer Nato-Staaten und Ende Mai 2024 auch die Regierungen der USA und Deutschlands öffentlich erklärt, der Ukraine künftig zu erlauben, die gelieferten Waffensysteme – wenn auch mit gewissen Einschränkungen – für direkte Angriffe auf das russische Stammgebiet einzusetzen. Tatsächlich gibt es solche Angriffe mit Nato-Waffen schon seit geraumer Zeit, und zwar mit ziemlicher Sicherheit nicht nur mit «Erlaubnis» der Nato-Staaten, sondern auch mit deren wesentlicher Steuerung. In Russland wird dies auf jeden Fall so wahrgenommen (vgl. https://anti-spiegel.ru/2024/russisches-fernsehen-die-nato-nicht-kiew-beschiesst-ziele-in-russland/ vom 3.6.2024).
3 https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/zum-einsatz-gelieferter-waffen-an-die-ukraine-2289868
4 Darauf hatte schon im Frühjahr 2022 ein Beitrag in der Zeitschrift Wirtschaftsdienst hingewiesen: https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2022/heft/5/beitrag/ukrainekrieg-alles-vom-ende-her-denken.html
5 vgl.Zeit-Fragen Nr. 10 vom 14.5.2024
6 vgl. auch: «Wohin treibt die Bundesrepublik?»; in: Zeit-Fragen Nr. 11 vom 28.5.2024
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