Im nachhinein wird deutlich, dass die «kommunistische Bedrohung» des Kalten Krieges nur ein Vorwand für das Streben der Grossmächte nach mehr Macht war.
Am 6. Juni fanden Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag der Operation Overlord statt, der angloamerikanischen Landung an den Stränden der Normandie, die am 6. Juni 1944 stattfand und als D-Day bekannt ist. Zum ersten Mal wurden die Russen ostentativ nicht zur Teilnahme an den Feierlichkeiten eingeladen.1
Die Abwesenheit der Russen veränderte symbolisch die Bedeutung der Feierlichkeiten. Sicherlich war die Operation Overlord ein erster bedeutsamer Schritt zur Beherrschung Westeuropas durch die englischsprachige Welt. Aber ohne Russland wurde das Ereignis symbolisch aus dem ursprünglichen Kontext des Zweiten Weltkriegs herausgenommen.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski wurde eingeladen, zu diesem Anlass eine Videoansprache vor dem französischen Parlament zu halten. Selenski zog alle rhetorischen Register, um Wladimir Putin zu dämonisieren, und bezeichnete den russischen Präsidenten als den «gemeinsamen Feind» der Ukraine und Europas.
Russland sei «ein Gebiet, in dem das Leben keinen Wert mehr hat … Es ist das Gegenteil von Europa, es ist das Anti-Europa».
So feierte der D-Day nach 80 Jahren symbolisch ein anderes Bündnis und einen anderen Krieg – oder vielleicht denselben alten Krieg, aber mit dem Versuch, das Ende zu ändern.
Hier kam es zu einer Verschiebung der Allianzen, die einem grossen Teil der britischen Oberschicht vor dem Krieg gefallen hätte. Seit seiner Machtübernahme hatte Adolf Hitler viele Bewunderer in der britischen Aristokratie und sogar in der königlichen Familie. Viele sahen in Hitler das wirksame Gegenmittel gegen den russischen «Judentumsbolschewismus».
Am Ende des Krieges gab es einige, die dafür plädiert hätten, «die Sache zu Ende zu bringen» und sich gegen Russland zu wenden. Es hat 80 Jahre gedauert, bis es dazu gekommen ist. Aber die Saat der Umkehr war immer vorhanden.
D-Day und die Russen
Im Juni 1941 überfiel Nazi-Deutschland ohne Vorwand oder falsche Flagge massiv die Sowjetunion. Im Dezember wurden die Vereinigten Staaten durch den japanischen Angriff auf Pearl Harbor in den Krieg hineingezogen.
Während der Krieg an der Ostfront tobte, flehte Moskau seine westlichen Verbündeten, die USA und Grossbritannien, an, eine zweite Front zu eröffnen, um die deutschen Kräfte zu teilen. Als die westlichen Alliierten in der Normandie landeten, hatte die Rote Armee die Nazi-Invasoren in Russland bereits entscheidend besiegt und war dabei, im sowjetischen Weissrussland eine gigantische Front zu eröffnen, die die Schlacht in der Normandie in den Schatten stellte.
Die Rote Armee startete am 22. Juni 1944 die Operation Bagration und vernichtete bis zum 19. August 28 von 34 Divisionen, wodurch die deutsche Frontlinie vollständig zerschlagen wurde. Es war die grösste Niederlage in der deutschen Militärgeschichte, mit rund 450000 deutschen Opfern. Nach der Befreiung von Minsk errang die Rote Armee weitere Siege in Litauen, Polen und Rumänien.
Die Offensive der Roten Armee im Osten sicherte zweifellos den Erfolg der angloamerikanisch-kanadischen Alliierten gegen die viel schwächeren deutschen Streitkräfte in der Normandie.
D-Day und die Franzosen
Wie von den Angloamerikanern beschlossen, war die einzige Rolle der Franzosen bei der Operation Overlord die der zivilen Opfer. In Vorbereitung auf die Landung bombardierten britische und amerikanische Bomber französische Eisenbahnstädte und Seehäfen, was zu massiven Zerstörungen und Zehntausenden von Opfern unter der französischen Zivilbevölkerung führte.
Im Laufe der Operationen in der Normandie wurden zahlreiche Dörfer, die Stadt St. Lô und die Stadt Caen von der angloamerikanischen Luftwaffe zerstört.
Die freien französischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl von General Charles de Gaulle wurden bewusst von der Teilnahme an der Operation Overlord ausgeschlossen. De Gaulle erinnerte sich gegenüber seinem Biografen Alain Peyrefitte daran, wie er vom britischen Premierminister Winston Churchill informiert wurde:
«Churchill rief mich am 4. Juni nach London, so wie ein Gutsherr seinen Butler ruft. Und er erzählte mir von der Landung, ohne dass eine französische Einheit für die Teilnahme vorgesehen gewesen wäre. Ich kritisierte ihn dafür, dass er Befehle von Roosevelt entgegennahm, anstatt ihm einen europäischen Willen aufzuzwingen. Daraufhin schrie er mich mit aller Kraft an: ‹De Gaulle, Sie müssen verstehen, dass ich, wenn ich zwischen Ihnen und Roosevelt wählen muss, immer Roosevelt vorziehen werde. Wenn wir zwischen den Franzosen und den Amerikanern wählen müssen, werden wir immer die Amerikaner bevorzugen.›»
De Gaulle weigerte sich daher beharrlich, an den D-Day-Gedenkfeiern teilzunehmen:
«Die Landung vom 6. Juni war eine angelsächsische Angelegenheit, von der Frankreich ausgeschlossen war. Sie waren entschlossen, sich in Frankreich einzurichten, als wäre es Feindesland! So wie sie es gerade in Italien getan hatten und in Deutschland tun wollten! […] Und Sie wollen, dass ich ihrer Landung gedenke, obwohl sie der Auftakt zu einer zweiten Besetzung des Landes war? Nein, nein, rechnen Sie nicht mit mir!»
Von der Operation in der Normandie ausgeschlossen, beteiligte sich die Erste Freie Französische Armee im August an der alliierten Invasion in Südfrankreich.
Die Amerikaner planten, Frankreich über das AMGOT (Allied Military Government of Occupied Territories) eine Militärregierung aufzuerlegen. Dies wurde durch die Hartnäckigkeit von de Gaulle verhindert, der der Résistance befahl, unabhängige politische Strukturen in ganz Frankreich wiederherzustellen, und dem es gelang, den Oberbefehlshaber der Alliierten, General Dwight Eisenhower, davon zu überzeugen, den freien französischen Kräften und einem Aufstand der Résistance Ende August 1944 die Befreiung von Paris zu gestatten.
D-Day in Hollywood
Frankreich hat die Landung in der Normandie immer als Befreiung gefeiert. Umfragen zeigen jedoch, dass sich die Ansichten über ihre Bedeutung im Laufe der Jahrzehnte gewandelt haben. Kurz nach Kriegsende war die öffentliche Meinung den Angloamerikanern dankbar, schrieb aber den endgültigen Sieg im Zweiten Weltkrieg überwiegend der Roten Armee zu.
Zunehmend hat sich die Meinung durchgesetzt, dass der D-Day die entscheidende Schlacht war und dass der Krieg hauptsächlich von den Amerikanern mit Hilfe der Briten gewonnen wurde.2 Diese Entwicklung ist weitgehend Hollywood zu verdanken.
Der Marshallplan und die Verschuldung Frankreichs bildeten den Rahmen für Handelsgeschäfte der Nachkriegszeit, die sowohl finanzielle als auch politische Aspekte hatten.
Am 28. Mai 1946 unterzeichneten der US-Aussenminister James Byrnes und der französische Vertreter Léon Blum ein Abkommen über Kinofilme. Das Blum-Byrnes-Abkommen sah vor, dass französische Kinos von 13 Wochen nur vier Wochen lang Filme aus französischer Produktion zeigen durften, während die restlichen neun Wochen der ausländischen Konkurrenz offenstanden, die in der Praxis zumeist aus amerikanischen Produktionen bestand.
Hollywood hatte einen riesigen Nachholbedarf, der auf dem heimischen Markt bereits amortisiert und daher billig war. So wurden in der ersten Hälfte des Jahres 1947 340 amerikanische Filme gezeigt, gegenüber 40 französischen.
Frankreich profitierte von diesem Geschäft finanziell in Form von Krediten, aber die Flut von Hollywood-Produktionen trug in hohem Masse zu einer kulturellen Amerikanisierung bei und beeinflusste sowohl den «way of life» als auch die Wahrnehmung der historischen Gegebenheiten.
Die Landung in der Normandie war in der Tat eine dramatische Schlacht, die sich für viele Filme eignete. Der filmische Fokus auf den D-Day hat jedoch unweigerlich den weit verbreiteten Eindruck entstehen lassen, dass die Vereinigten Staaten und nicht die Sowjetunion Nazi-Deutschland besiegt haben.
Neuausrichtung der
Allianz Nr. 1 – die Briten
Im Juni 1944, als die Rote Armee auf dem besten Weg war, die Wehrmacht entscheidend zu besiegen, wurde die Operation Overlord von der sowjetischen Führung als hilfreiche Zweitfront begrüsst. Für die angloamerikanischen Strategen war sie auch eine Möglichkeit, den sowjetischen Vormarsch nach Westen zu blockieren. Die britische Führung, insbesondere Churchill, zog tatsächlich in Erwägung, gegen die Rote Armee nach Osten zu ziehen, sobald die Wehrmacht besiegt war.
Es sei daran erinnert, dass der britische Imperialismus im 19. Jahrhundert in Russland eine potentielle Bedrohung für seine Herrschaft über Indien und seine weitere Expansion in Zentralasien sah und eine strategische Planung entwickelte, die auf dem Konzept, Russland sei der Hauptfeind auf dem eurasischen Kontinent, beruhte. Diese Haltung hielt sich hartnäckig.
Im Moment der deutschen Niederlage im Mai 1945 wies Churchill den Gemeinsamen Planungsstab der britischen Streitkräfte an, Pläne für einen angloamerikanischen Überraschungsangriff auf die Streitkräfte des sowjetischen Verbündeten in Deutschland zu entwickeln. Die bis 1998 streng geheimen Pläne sahen sogar vor, besiegte Wehrmachts- und SS-Truppen für die Teilnahme zu bewaffnen. Diese Fantasie erhielt den Codenamen «Operation Unthinkable»3, was sich mit dem Urteil der britischen Generalstabschefs deckt, die sie als undenkbar ablehnten.
Nur drei Monate zuvor, auf der Konferenz von Jalta im Februar, hatte Churchill den sowjetischen Führer Joseph Stalin als «einen Freund, dem wir vertrauen können», gelobt. Das Umgekehrte war sicherlich nicht der Fall. Man könnte annehmen, dass Franklin D. Roosevelt derartige Pläne verworfen hätte, wäre er nicht im April gestorben. Roosevelt schien zuversichtlich zu sein, dass die vom Krieg erschöpfte Sowjetunion keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstellte, was auch tatsächlich der Fall war.
Er [Stalin] weigerte sich, die kommunistische Befreiungsbewegung in Griechenland zu unterstützen (was Josip Broz Tito verärgerte und zur Spaltung zwischen Moskau und Jugoslawien beitrug) und drängte die starken kommunistischen Parteien in Italien und Frankreich immer wieder, ihre politischen Forderungen zu lockern. Während diese Parteien von der Rechten als gefährliche Bedrohung betrachtet wurden, wurden sie von den Ultralinken heftig bekämpft, weil sie im System blieben, anstatt eine Revolution anzustreben.
Die sowjetische und die russische Führung wollten wirklich Frieden mit ihren ehemaligen westlichen Verbündeten und hatten nie die Absicht, den gesamten Kontinent zu kontrollieren. Sie verstanden das Abkommen von Jalta als Ermächtigung für ihr Beharren auf einer defensiven Pufferzone für die von der Roten Armee von der Naziherrschaft befreiten osteuropäischen Staaten.
Russland hatte mehr als eine verheerende Invasion aus dem Westen hinter sich. Es reagierte mit einer repressiven Abwehrhaltung, die von den atlantischen Mächten, die sich überall Zugang verschaffen wollten, als potentiell aggressiv angesehen wurde. Das sowjetische Vorgehen gegen ihre Satelliten wurde erst als Reaktion auf die von Winston Churchill zehn Monate nach Kriegsende wortgewaltig angekündigte Herausforderung des Westens verschärft. Der Funke wurde zu einer Dynamik endloser und sinnloser Feindseligkeit entfacht.
Churchill wurde im Juli 1945 durch einen Erdrutschsieg der Labour Party aus dem Amt gewählt. Doch sein Einfluss als Kriegsführer blieb in den Vereinigten Staaten überwältigend. Am 6. März 1946 hielt Churchill eine historische Rede an einem kleinen College in Missouri, dem Heimatstaat von Roosevelts unerfahrenem und einflussreichem Nachfolger Harry Truman.
Mit dieser Rede sollte das angloamerikanische Kriegsbündnis erneuert werden – dieses Mal gegen den dritten grossen Kriegsverbündeten, Sowjetrussland.
Churchill betitelte seine Rede mit «Sinews of Peace» (Kraft des Friedens). In Wirklichkeit kündigte sie den Kalten Krieg mit dem historischen Satz an: «Von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria hat sich ein eiserner Vorhang über den Kontinent gesenkt.»
Der Eiserne Vorhang bezeichnete die sowjetische Sphäre, die im wesentlichen defensiv und statisch war. Das Problem für Churchill war der Verlust an Einfluss in diesem Teil der Welt. Ein Vorhang, auch wenn er «eisern» ist, ist im wesentlichen defensiv, aber seine Worte wurden als Warnung vor einer Bedrohung aufgefasst.
«Niemand weiss, was Sowjetrussland und seine kommunistische internationale Organisation in nächster Zukunft zu tun gedenken, oder wo, wenn überhaupt, die Grenzen ihrer expansiven und missionierenden Tendenzen liegen.» (Und das, obwohl Stalin die Kommunistische Internationale am 15. Mai 1943 aufgelöst hatte.)
In Amerika wurde diese Unsicherheit bald in eine allgegenwärtige «kommunistische Bedrohung» verwandelt, die im Aussenministerium, in den Gewerkschaften und in Hollywood gejagt und ausgerottet werden musste.
Neuausrichtung der
Allianz Nr. 2 – die Amerikaner
Die angebliche Notwendigkeit, die sowjetische Bedrohung einzudämmen, lieferte den Planern der US-Regierung, insbesondere Paul Nitze im National Security Council Paper 68 (NSC-68)4, ein Argument für die Erneuerung und Ausweitung der US-Rüstungsindustrie, die den politischen Vorteil hatte, der wirtschaftlichen Depression der 1930er Jahre ein entscheidendes Ende zu setzen.
Nazi-Kollaborateure aus ganz Osteuropa konnten in den Vereinigten Staaten willkommen geheissen werden, wo Intellektuelle zu führenden «Russland-Experten» wurden. Auf diese Weise wurde die Russophobie institutionalisiert, da WASP*-Diplomaten, -Redakteure und -Wissenschaftler der alten Schule, die nichts Besonderes gegen Russen hatten, Neuankömmlingen mit altem Groll Platz machten.
Unter den alten Feindseligkeiten war keine heftiger und hartnäckiger als die der ukrainischen Nationalisten aus Galizien, dem äussersten Westen der Ukraine, deren Feindseligkeit gegenüber Russland während der Zeit, als ihr Gebiet vom Habsburger Reich regiert wurde, gefördert worden war. Die ukrainischen Ultranationalisten waren fanatisch darauf bedacht, die tiefe historische Verbindung ihres geteilten Landes mit Russland zu leugnen, und jahrzehntelang wurden ukrainische Ultranationalisten von der CIA in der Ukraine selbst und in der grossen nordamerikanischen Diaspora gefördert.5
Wir haben den Höhepunkt dieses Prozesses erlebt, als der talentierte Komiker WolodimirSelenski in seiner grössten Rolle als Tragödiendarsteller behauptete, «der Erbe der Invasion in der Normandie» zu sein, und den russischen Präsidenten Putin als Reinkarnation Adolf Hitlers bezeichnete, der darauf aus sei, die Welt zu erobern – bereits eine Übertreibung für Hitler, der hauptsächlich Russland erobern wollte. Das ist es, was die USA und Deutschland heute offenbar tun wollen.
Neuausrichtung der
Allianz Nr. 3 – Deutschland
Während die Russen und die Angloamerikaner bei den Nürnberger Prozessen gemeinsam die obersten Naziführer verurteilten, verlief die Entnazifizierung in den jeweiligen Besatzungszonen der Siegermächte sehr unterschiedlich.
In der in den Westzonen errichteten Bundesrepublik wurden nur sehr wenige Beamte, Offiziere oder Richter wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit entlassen. Ihre offizielle Reue konzentrierte sich auf die Verfolgung der Juden, die in Form von Geldentschädigungen an einzelne Opfer und insbesondere an Israel zum Ausdruck kam.
Während unmittelbar nach dem Krieg der Krieg selbst als das grösste Verbrechen der Nazis angesehen wurde, verbreitete sich im Laufe der Jahre im Westen der Eindruck, dass das schlimmste Verbrechen und sogar der Hauptzweck der Naziherrschaft die Verfolgung der Juden gewesen sei.
Der Holocaust, die Shoah waren Namen mit religiöser Konnotation, die ihn von der übrigen Geschichte abhoben. Der Holocaust war das unverzeihliche Verbrechen, das von der Bundesrepublik so nachdrücklich anerkannt wurde, dass es alle anderen auszulöschen drohte. Was den Krieg selbst betrifft, so konnten die Deutschen ihn leicht als ihr eigenes Unglück betrachten, da sie verloren hatten und ihr tiefstes Bedauern auf diesen Verlust beschränken.
Es waren nicht die Deutschen, sondern die amerikanischen Besatzer, die beschlossen, eine neue deutsche Armee, die Bundeswehr, zu schaffen, die sicher in einem Bündnis unter amerikanischer Kontrolle eingebettet war. Die Deutschen selbst hatten genug. Aber die Amerikaner waren entschlossen, ihre Kontrolle über Westeuropa durch die North Atlantic Treaty Organization (Nato) zu festigen.
Der erste Generalsekretär der Nato, Lord Ismay – der während des Zweiten Weltkriegs Churchills wichtigster militärischer Berater gewesen war – definierte den Auftrag der Nato kurz und bündig: «die Amerikaner drinnen, die Russen draussen und die Deutschen unten zu halten».
Die Regierung der Vereinigten Staaten begann unverzüglich, qualifizierte Deutsche für ihre eigene Bündnisumkehr auszuwählen. Deutsche Experten, die im Auftrag des Dritten Reiches nachrichtendienstliche Informationen gesammelt oder militärische Operationen gegen die Sowjetunion geplant hatten, waren willkommen, ihre berufliche Tätigkeit fortzusetzen, und zwar fortan im Auftrag der westlichen liberalen Demokratie.
Verkörpert wird dieser Wandel durch den Wehrmachtsgeneralmajor Reinhard Gehlen, der Leiter des militärischen Nachrichtendienstes an der Ostfront gewesen war. Im Juni 1946 richteten die US-Besatzungsbehörden in Pullach bei München einen neuen Nachrichtendienst ein, der ehemalige Angehörige des Generalstabs der deutschen Armee beschäftigte und von Gehlen geleitet wurde, um den Sowjetblock auszuspionieren.
Die Organisation Gehlen rekrutierte in enger Zusammenarbeit mit der CIA Agenten unter antikommunistischen osteuropäischen Emigrantenorganisationen und beschäftigte Hunderte ehemaliger Nazis. Sie beteiligte sich an der innenpolitischen Szene Westdeutschlands, indem sie Jagd auf Kommunisten machte (die Kommunistische Partei Deutschlands war verboten).
Die Aktivitäten der Organisation Gehlen wurden 1956 der bundesrepublikanischen Regierung unterstellt und gingen im Bundesnachrichtendienst (BND)6 auf, den Gehlen bis 1968 leitete.
Kurzum, jahrzehntelang hat die Bundesrepublik Deutschland unter amerikanischer Besatzung die Strukturen der gegen Russland gerichteten Bündnisumkehr gefördert. Der alte Vorwand war die Bedrohung durch den Kommunismus. Doch Russland ist nicht mehr kommunistisch. Die Sowjetunion hat sich überraschend aufgelöst und sich auf der Suche nach einem dauerhaften Frieden dem Westen zugewandt.
Im nachhinein wird schlagartig klar, dass die «kommunistische Bedrohung» in der Tat nur ein Vorwand für Grossmächte war, die nach mehr Macht strebten. Mehr Land, mehr Ressourcen.
Der Naziführer Adolf Hitler betrachtete Russland wie die angloamerikanischen Liberalen, so wie Bergsteiger sprichwörtlich auf Berge schauen. Warum muss man diesen Berg besteigen? Weil er da ist. Weil er zu gross ist, weil er so viel Platz und so viele Ressourcen hat. Und, ach ja, wir müssen «unsere Werte» verteidigen.
Das ist nichts Neues. Die Dynamik ist tief institutionalisiert. Es ist nur derselbe alte Krieg, der auf Illusionen, Lügen und erzeugtem Hass beruht und uns in eine noch grössere Katastrophe führt.
Ist es zu spät, um aufzuhören? •
* WASP: White Anglo-Saxon Protestants (Anm. d. Red.)
1 https://www.rfi.fr/en/france/20240531-russia-not-invited-to-d-day-80th-anniversary-commemorations-in-france
2 https://skeptics.stackexchange.com/questions/44150/did-57-of-people-in-france-believe-that-the-ussr-contributed-the-most-to-the-de
3 https://www.nationalarchives.gov.uk/education/resources/cold-war-on-file/operation-unthinkable/
4 https://history.state.gov/milestones/1945-1952/NSC68#:~:text=NSC%2D68%20outlined%20a%20variety,the%20United%20States%20to%20attain
5 https://consortiumnews.com/2024/06/10/using-ukraine-since-1948/
6 https://en.wikipedia.org/wiki/Federal_Intelligence_Service
* Diana Johnstone, Jahrgang 1934, studierte russische Regionalwissenschaft/Slawistik und promovierte in französischer Literatur. Sie lebt seit vielen Jahren in Paris und ist als freie Journalistin für verschiedene US- und internationale Medien tätig. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, unter anderem «The Politics of Euromissiles: Europe’s Role in America’s World», «Fool’s Crusade: Yugoslavia, Nato, and Western Delusions», «Queen of Chaos: The Misadventures of Hillary Clinton», in deutscher Übersetzung «Die Chaos-Königin: Hillary Clinton und die Aussenpolitik der selbsternannten Weltmacht». Zuletzt schrieb sie Vorwort und Kommentare zu den Memoiren ihres Vaters Dr. Paul H. Johnstone, ehemaliger leitender Analytiker der Strategic Weapons Evaluation Group (WSEG) im Pentagon, «From Mad to Madness».
Quelle: Consortium News vom 14. Juni 2024; mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
In jener Juni Früh nah bei Cherbourg
Stieg aus dem Meer der Mann aus Maine und trat
Laut Meldung gen den Mann an von der Ruhr
Doch war es gen den Mann von Stalingrad.
Bertolt Brecht (1954)
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