km. Am 14. Juni 2024, einen Tag vor Beginn der Bürgenstock-Konferenz in der Schweiz, hat der russische Präsident Putin vor den Beamten des russischen Aussenministeriums eine aussenpolitische Grundsatzrede gehalten.1 In unseren Medien wurde vor allem thematisiert, dass der russische Präsident Bedingungen für einen sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Ukraine formuliert hat. Im zweiten Teil seiner Rede hat er dies tatsächlich getan. Er nannte zwei Bedingungen: den Rückzug aller ukrainischen Truppen aus den (ehemaligen) vier südostukrainischen Verwaltungsgebieten Donezk, Lugansk, Cherson und Saporoschje – Gebiete, die sich mit einem Referendum im September 2022 zu Teilen der Russischen Föderation erklärten – und eine offizielle Erklärung der Ukraine, «dass sie ihre Pläne, der Nato beizutreten, aufgegeben hat». Russlands «prinzipielle Position» sei der «neutrale, blockfreie, nicht-nukleare Status der Ukraine, ihre Entmilitarisierung und Entnazifizierung» (so, wie sehr konkret auch schon im März 2022 in Istanbul vereinbart). Die «Rechte, Freiheiten und Interessen der russischsprachigen Bürger in der Ukraine» müssten «in vollem Umfang gewährleistet werden». All dies solle «in Form von grundlegenden internationalen Abkommen festgelegt werden» und schliesse «die Aufhebung aller westlichen Sanktionen gegen Russland» mit ein. Verhandlungen mit Wolodimir Selenski schloss der russische Präsident aus. Selenskis Amtszeit sei am 20. Mai 2024 abgelaufen. Der russische Präsident bettete seine Forderungen in eine nochmalige Analyse der Geschichte des Konfliktes und der Rolle der Beteiligten ein. Er machte aber auch klar, dass die Grundlage der heutigen Forderungen die heutige Situation ist und die Forderungen neue sein werden, wenn der Westen und die Ukraine das russische Angebot ablehnen und sich statt dessen für eine Fortsetzung des Krieges entscheiden – was die westliche Seite und auch Wolodimir Selenski nach der Rede auch sogleich getan haben.
Wir haben uns entschieden, nicht diesen etwas umfangreicheren zweiten Teil der Rede zu dokumentieren, sondern den ersten Teil, der die grundsätzlichen Überlegungen zu den Zielen russischer Aussenpolitik deutlich macht. Was nicht davon abhalten soll, auch den zweiten Teil der Rede gründlich zu studieren. Die Zwischentitel hat die Redaktion gesetzt.
Sehr geehrte Kollegen, guten Tag!
Ich freue mich, Sie alle begrüssen zu dürfen, und möchte Ihnen zu Beginn unseres Treffens und Gesprächs für Ihre harte Arbeit im Interesse Russlands und unseres Volkes danken.
Wir haben uns Ende 2021, im November, in so grosser Runde getroffen. Seitdem ereignete sich im Land und in der Welt ohne Übertreibung viel Entscheidendes und Folgenschweres. Daher halte ich es für wichtig, die aktuelle Situation in globalen und regionalen Angelegenheiten zu bewerten und die entsprechenden Aufgaben für das Aussenministerium festzulegen. Alle diese Aufgaben sind dem Hauptziel untergeordnet: die Bedingungen für eine nachhaltige Entwicklung des Landes zu schaffen, seine Sicherheit zu gewährleisten und das Wohlergehen der russischen Familien zu verbessern.
Eine sich schnell verändernde Welt
Die Arbeit in diesem Bereich erfordert in der heutigen komplexen und sich schnell verändernden Realität von uns allen eine noch stärkere Konzentration der Anstrengungen, Initiative, Ausdauer und die Fähigkeit, nicht nur auf aktuelle Herausforderungen zu reagieren, sondern auch unsere eigene – und langfristige – Agenda zu gestalten, gemeinsam mit unseren Partnern Vorschläge zu unterbreiten und in einer offenen und konstruktiven Diskussion Lösungsmöglichkeiten für die grundlegenden Fragen zu erörtern, die nicht nur uns, sondern die gesamte Weltgemeinschaft betreffen.
Ich wiederhole: Die Welt verändert sich schnell. Sie wird in der globalen Politik, in der Wirtschaft und im technologischen Wettbewerb nicht mehr wie früher sein. Immer mehr Staaten sind bestrebt, ihre Souveränität, ihre Autarkie, ihre nationale und kulturelle Identität zu stärken. Die Länder des globalen Südens und Ostens rücken in den Vordergrund, und die Rolle Afrikas und Lateinamerikas wächst. Seit den Zeiten der Sowjetunion haben wir immer von der Bedeutung dieser Regionen der Welt gesprochen, aber heute ist die Dynamik eine ganz andere, und das merkt man. Auch in Eurasien, wo eine Reihe von gross angelegten Integrationsprojekten aktiv umgesetzt wird, hat sich das Tempo der Transformation deutlich beschleunigt.
Eine multipolare Welt spiegelt die
kulturelle und zivilisatorische Vielfalt wider
Auf der Grundlage eben dieser neuen politischen und wirtschaftlichen Realität bilden sich heute die Konturen einer multipolaren und multilateralen Weltordnung heraus, und das ist ein objektiver Prozess. Er spiegelt die kulturelle und zivilisatorische Vielfalt wider, die dem Menschen trotz aller Versuche einer künstlichen Vereinheitlichung organisch innewohnt.
Diese tiefgreifenden systemischen Veränderungen geben zweifellos Anlass zu Optimismus und Hoffnung, denn die Durchsetzung der Grundsätze der Multipolarität und des Multilateralismus in den internationalen Angelegenheiten, einschliesslich der Achtung des Völkerrechts und einer breiten Repräsentativität, ermöglicht es, die komplexesten Probleme zum gemeinsamen Nutzen zu lösen und im Interesse des Wohlergehens und der Sicherheit der Völker Beziehungen und eine Zusammenarbeit zwischen souveränen Staaten zum gegenseitigen Nutzen aufzubauen.
Wachsendes Interesse an BRICS
Diese Vorstellung von der Zukunft entspricht den Bestrebungen der grossen Mehrheit der Länder der Welt. Wir sehen das unter anderem am wachsenden Interesse an der Arbeit einer so universellen Vereinigung wie den BRICS, die auf einer besonderen Kultur des vertrauensvollen Dialogs, der souveränen Gleichheit der Teilnehmer und des gegenseitigen Respekts beruht. Im Rahmen des russischen Vorsitzes in diesem Jahr werden wir die reibungslose Aufnahme der neuen BRICS-Mitglieder in die Arbeitsstrukturen des Verbandes erleichtern.
Ich fordere die Regierung und das Aussenministerium auf, die inhaltliche Arbeit und den Dialog mit unseren Partnern fortzusetzen, damit wir auf dem BRICS-Gipfel im Oktober in Kasan eine Reihe von Beschlüssen fassen können, die die Richtung für unsere Zusammenarbeit in den Bereichen Politik und Sicherheit, Wirtschaft und Finanzen, Wissenschaft, Kultur, Sport und humanitäre Beziehungen vorgeben werden.
Generell glaube ich, dass die BRICS auf Grund ihres Potentials in der Lage sein werden, zu einer der zentralen Regulierungsinstitutionen der multipolaren Weltordnung zu werden.
Demokratisierung des gesamten Systems
der internationalen Beziehungen
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass die internationale Diskussion über die Parameter der Zusammenarbeit zwischen den Staaten in einer multipolaren Welt und über die Demokratisierung des gesamten Systems der internationalen Beziehungen natürlich bereits läuft. So haben wir mit unseren Kollegen in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ein gemeinsames Dokument über internationale Beziehungen in einer multipolaren Welt vereinbart und verabschiedet. Wir haben unsere Partner eingeladen, über dieses Thema auf anderen internationalen Plattformen zu sprechen, vor allem im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und der BRICS.
Schaffung eines Systems
der unteilbaren Sicherheit
Wir sind daran interessiert, dass dieser Dialog innerhalb der Vereinten Nationen ernsthaft geführt wird, auch über ein so grundlegendes Thema, das für alle von entscheidender Bedeutung ist, wie die Schaffung eines Systems der unteilbaren Sicherheit. Mit anderen Worten, die Verankerung des Grundsatzes im internationalen Umgang, dass die Sicherheit der einen nicht auf Kosten der Sicherheit der anderen gewährleistet werden darf.
Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Weltgemeinschaft am Ende des 20. Jahrhunderts, nach dem Ende der akuten militärisch-ideologischen Konfrontation, die einmalige Chance hatte, eine verlässliche und gerechte Ordnung im Bereich der Sicherheit zu schaffen. Dazu bedurfte es nicht viel – lediglich der Fähigkeit, die Meinungen aller interessierten Parteien anzuhören, und der gegenseitigen Bereitschaft, sie zu berücksichtigen. Unser Land war entschlossen, genau diese Art von konstruktiver Arbeit zu leisten.
Die Sichtweise der USA:
unbegrenzte Ausdehnung
des nordatlanischen Blocks
Es herrschte jedoch ein anderer Ansatz vor. Die westlichen Mächte, allen voran die USA, meinten, den Kalten Krieg gewonnen und das Recht zu haben, selbst zu bestimmen, wie die Welt organisiert werden sollte. Praktischer Ausdruck dieser Sichtweise war das Projekt der unbegrenzten räumlichen und zeitlichen Ausdehnung des nordatlantischen Blocks, obwohl es natürlich auch andere Ideen gab, wie die Sicherheit in Europa gewährleistet werden könnte.
Unsere berechtigten Fragen wurden mit Ausreden in dem Geiste beantwortet, dass niemand Russland angreifen werde und dass die Nato-Erweiterung nicht gegen Russland gerichtet sei. Die Versprechungen, die Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre gegenüber der Sowjetunion und dann gegenüber Russland gemacht wurden, keine neuen Mitglieder in den Block aufzunehmen, wurden einfach vergessen. Und selbst wenn sie sich daran erinnerten, verwiesen sie höhnisch darauf, dass diese Zusicherungen mündlich gegeben wurden und daher nicht bindend waren.
Russland hat stets auf den
westlichen Irrweg hingewiesen
Sowohl in den 1990er Jahren als auch später haben wir stets auf den von den westlichen Eliten gewählten Irrweg hingewiesen; wir haben nicht nur kritisiert und gewarnt, sondern Optionen und konstruktive Lösungen angeboten und betont, wie wichtig es ist, einen Mechanismus für die Sicherheit in Europa und in der Welt zu entwickeln, der allen – ich möchte das betonen, allen – gerecht wird. Eine einfache Aufzählung der Initiativen, die Russland im Laufe der Jahre vorgebracht hat, würde mehr als einen Absatz erfordern.
Erinnern wir uns zumindest an die Idee des Vertrages über die europäische Sicherheit, die wir bereits 2008 vorgeschlagen haben. Die gleichen Themen wurden in dem Memorandum des russischen Aussenministeriums angesprochen, das den USA und der Nato im Dezember 2021 übergeben wurde.
Aber alle unsere Versuche – und wir haben zahlreiche Versuche unternommen, die ich hier nicht alle aufzählen kann –, unsere Gesprächspartner zur Vernunft zu bringen, Erklärungen, Ermahnungen, Warnungen und Bitten unsererseits, sind auf keinerlei Resonanz gestossen. Die westlichen Länder, die nicht nur davon überzeugt sind, im Recht zu sein, sondern auch von ihrer Macht, von ihrer Fähigkeit, dem Rest der Welt alles aufzuzwingen, haben andere Meinungen einfach ignoriert. Bestenfalls haben sie vorgeschlagen, über Nebensächlichkeiten zu diskutieren, die eigentlich nichts gelöst hätten, oder über Themen, die nur für den Westen vorteilhaft waren.
Die Folgen westlichen
Sündenbock-Denkens: zahlreiche Kriege
In der Zwischenzeit wurde schnell klar, dass das westliche Schema, das als das einzig richtige zur Gewährleistung von Sicherheit und Wohlstand in Europa und der Welt verkündet wurde, nicht wirklich funktionierte. Erinnern wir uns an die Tragödie auf dem Balkan. Die inneren Probleme, die sich im ehemaligen Jugoslawien angehäuft hatten, wurden durch die grobe Einmischung von aussen noch deutlich verschärft. Schon damals zeigte sich das Hauptprinzip der Nato-Diplomatie, das bei der Lösung komplexer innerer Konflikte zutiefst fehlerhaft und erfolglos ist, in seiner ganzen Pracht, nämlich eine der Parteien, die man aus irgendeinem Grund nicht besonders mag, aller Sünden zu beschuldigen und alle politische, mediale und militärische Macht, Wirtschaftssanktionen und Beschränkungen auf sie loszulassen.
Wie wir sehr gut wissen, wurden gleiche Methoden danach in verschiedenen Teilen der Welt angewandt: Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan und so weiter, und sie brachten nichts anderes als eine Verschärfung der bestehenden Probleme, gebrochene Schicksale von Millionen von Menschen, die Zerstörung ganzer Staaten, die Ausweitung humanitärer und sozialer Katastrophen und terroristische Enklaven. Im Grunde ist kein Land der Welt davor gefeit, in diese traurige Liste aufgenommen zu werden.
Weltweite westliche Einmischungen
So versucht der Westen nun, sich dreist in die Angelegenheiten des Nahen Ostens einzumischen. Einst hatten sie ein Monopol in dieser Gegend, und das Ergebnis ist heute allen klar und offensichtlich.
Der Südkaukasus und Zentralasien: Vor zwei Jahren wurde auf dem Nato-Gipfel in Madrid angekündigt, dass sich das Bündnis nun nicht nur mit Sicherheitsfragen im euro-atlantischen, sondern auch im asiatisch-pazifischen Raum befassen wird. Nach dem Motto, auch dort könne man nicht ohne sie auskommen. Dahinter verbirgt sich offensichtlich der Versuch, den Druck auf die Länder in der Region zu erhöhen, deren Entwicklung sie eindämmen wollen. Wie wir wissen, steht unser Land, Russland, auf den oberen Plätzen dieser Liste.
Kündigung der Abrüstungsverträge
und westliches Abenteurertum
Ich erinnere auch daran, dass es Washington war, das die strategische Stabilität untergraben hat, indem es sich einseitig aus den Verträgen über die Raketenabwehr, über die Abschaffung von Kurz- und Mittelstreckenraketen und über den Offenen Himmel (Open-Sky-Abkommen) zurückgezogen und zusammen mit seinen Nato-Satelliten das jahrzehntelange System der vertrauensbildenden Massnahmen und der Rüstungskontrolle in Europa zerstört hat.
Letztlich haben der Egoismus und die Arroganz der westlichen Staaten zu der heutigen, äusserst gefährlichen Situation geführt. Wir sind dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, unannehmbar nahe gekommen. Der Ruf nach einer strategischen Niederlage Russlands, das über die grössten Atomwaffenarsenale verfügt, zeigt das extreme Abenteurertum der westlichen Politiker. Entweder begreifen sie nicht das Ausmass der Bedrohung, die sie selbst darstellen, oder sie sind einfach besessen von dem Glauben an ihre eigene Straffreiheit und ihre eigene Exklusivität. Beides kann sich als tragisch erweisen.
Zusammenbruch des
euro-atlantischen Sicherheitssystems
Offensichtlich erleben wir gerade den Zusammenbruch des euro-atlantischen Sicherheitssystems. Heute existiert es einfach nicht mehr. Es muss praktisch neu geschaffen werden. All dies erfordert, dass wir gemeinsam mit unseren Partnern, mit allen interessierten Ländern – und das sind viele – unsere Optionen für die Gewährleistung der Sicherheit in Eurasien erarbeiten und sie dann einer breiten internationalen Diskussion vorschlagen.
Dieser Auftrag wurde in der Rede vor der Bundesversammlung gegeben. Es geht darum, in absehbarer Zeit einen Rahmen für gleiche und unteilbare Sicherheit, für eine für alle Seiten vorteilhafte und gerechte Zusammenarbeit und Entwicklung auf dem eurasischen Kontinent zu formulieren.
Einen neuen Rahmen für gleiche
und unteilbare Sicherheit schaffen
Was muss dazu auf welchen Grundlagen getan werden?
Erstens: Es muss ein Dialog mit allen potentiellen Teilnehmern an diesem künftigen Sicherheitssystem aufgenommen werden. Und ich bitte Sie, die notwendigen Fragen zunächst mit den Staaten auszuarbeiten, die für eine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland offen sind.
Während unseres jüngsten Besuchs in China haben wir diese Fragen mit Präsident Xi Jinping erörtert. Wir stellten fest, dass der russische Vorschlag nicht im Widerspruch zu den Grundprinzipien der globalen Sicherheitsinitiative Chinas steht, sondern diese im Gegenteil ergänzt und mit ihnen voll und ganz in Einklang steht.
Zweitens ist es wichtig, von der Prämisse auszugehen, dass die künftige Sicherheitsarchitektur allen eurasischen Ländern offensteht, die sich an ihrem Aufbau beteiligen wollen. Mit «für alle» sind natürlich auch die europäischen und die Nato-Länder gemeint. Wir leben auf einem Kontinent, egal was passiert, wir können die Geographie nicht ändern, wir werden auf die eine oder andere Weise koexistieren und zusammenarbeiten müssen.
Ja, die Beziehungen Russlands zur EU und zu einer Reihe von europäischen Ländern haben sich verschlechtert, und ich habe das schon oft betont, nicht durch unsere Schuld. Eine antirussische Propagandakampagne, an der sehr hochrangige europäische Persönlichkeiten beteiligt sind, wird von Spekulationen begleitet, dass Russland angeblich Europa angreifen wird. Ich habe mich dazu schon oft geäussert, und es ist nicht nötig, das in diesem Saal noch einmal zu wiederholen: Wir alle wissen, dass das absoluter Unsinn ist und nur eine Rechtfertigung für ein Wettrüsten darstellt.
Die Hauptbedrohung für die Europäer ist
die fast totale Abhängigkeit von den USA
In diesem Zusammenhang erlaube ich mir eine kleine Abschweifung. Die Gefahr für Europa geht nicht von Russland aus. Die Hauptbedrohung für die Europäer ist die kritische und ständig wachsende, fast totale Abhängigkeit von den USA: im militärischen, politischen, technologischen, ideologischen und medialen Bereich. Europa wird zunehmend an den Rand der globalen wirtschaftlichen Entwicklung gedrängt, in das Chaos der Migration und anderer akuter Probleme gestürzt und seiner internationalen Handlungsfähigkeit und kulturellen Identität beraubt.
Manchmal hat man den Eindruck, dass die herrschenden europäischen Politiker und Vertreter der europäischen Bürokratie mehr Angst haben, in die Ungnade Washingtons zu fallen, als das Vertrauen der eigenen Bevölkerung, der eigenen Bürger, zu verlieren. Das zeigen auch die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament. Die europäischen Politiker schlucken Demütigungen, Grobheiten und Skandale mit der Überwachung der europäischen Staats- und Regierungschefs, während die USA sie einfach für ihre eigenen Interessen benutzen und sie zwingen, ihr teures Gas zu kaufen – übrigens ist Gas in Europa drei- oder viermal teurer als in den USA – oder sie fordern, wie jetzt zum Beispiel, von den europäischen Ländern, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu erhöhen. Übrigens werden diese Forderungen immer wieder gestellt. Und es werden Sanktionen gegen sie verhängt, gegen Wirtschaftsakteure in Europa. Sie verhängen sie, ohne sich dessen zu schämen.
Jetzt zwingen sie sie dazu, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu erhöhen und ihre Kapazitäten zur Herstellung von Artilleriegranaten zu erweitern. Wer wird diese Granaten brauchen, wenn der Konflikt in der Ukraine vorbei ist? Wie kann das die militärische Sicherheit Europas gewährleisten? Das ist unklar. Die USA selbst investieren in Militärtechnologien, und zwar in die Technologien von morgen: in den Weltraum, in moderne Drohnen, in Angriffssysteme, die auf neuen physikalischen Prinzipien beruhen, also in die Bereiche, die in Zukunft die Art des bewaffneten Kampfes und damit das militärische und politische Potential der Mächte, ihre Stellung in der Welt bestimmen werden. Und denen wird nun folgende Rolle zugewiesen: Geld dort zu investieren, wo die USA es brauchen. Aber das erhöht nicht das europäische Potential. Sollen sie es tun, Gott mit ihnen. Für uns ist das vielleicht sogar gut, im Grunde ist es so.
Europa braucht gute und
freundliche Beziehungen zu Russland
Wenn Europa eines der unabhängigen Zentren der Entwicklung der Welt und kultureller und zivilisatorischer Pol des Planeten bleiben will, braucht es auf jeden Fall gute und freundliche Beziehungen zu Russland, und das Wichtigste ist, dass sie dazu bereit sind.
Diese wirklich einfache und offensichtliche Sache haben Politiker von wirklich paneuropäischem und weltweitem Massstab gut verstanden, Patrioten ihrer Länder und Völker, die in historischen Kategorien dachten, nicht Statisten, die dem Willen und den Einflüsterungen anderer folgen. Charles de Gaulle hat in den Nachkriegsjahren viel darüber gesprochen. Ich erinnere mich auch gut daran, wie der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl 1991 in einem Gespräch, an dem ich persönlich teilnehmen durfte, die Bedeutung der Partnerschaft zwischen Europa und Russland hervorhob. Ich vertraue darauf, dass sich neue Generationen europäischer Politiker früher oder später auf dieses Erbe besinnen werden.
Was die USA selbst betrifft, so erschöpfen die andauernden Versuche der heute dort herrschenden liberal-globalistischen Eliten, ihre Ideologie mit allen Mitteln in der ganzen Welt zu verbreiten, um ihren imperialen Status und ihre Vorherrschaft auf die eine oder andere Weise zu bewahren, führen das Land immer mehr in den Niedergang und stehen in klarem Widerspruch zu den wahren Interessen des amerikanischen Volkes. Ohne diese Sackgasse, den aggressiven Messianismus, gemischt mit dem Glauben an die eigene Auserwähltheit und Exklusivität, hätten sich die internationalen Beziehungen längst stabilisiert.
Ein eurasisches Sicherheitssystem
Drittens: Um die Idee eines eurasischen Sicherheitssystems zu fördern, muss der Dialog zwischen den bereits in Eurasien tätigen multilateralen Organisationen erheblich intensiviert werden. Ich beziehe mich dabei in erster Linie auf den Unionsstaat, die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, die Eurasische Wirtschaftsunion, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.
Wir sehen die Möglichkeit, dass sich diesen Prozessen in Zukunft weitere einflussreiche eurasische Vereinigungen von Südostasien bis zum Nahen Osten anschliessen werden.
Eine breite Diskussion beginnen
Viertens: Wir glauben, dass es an der Zeit ist, eine breite Diskussion über ein neues System bilateraler und multilateraler Garantien für die kollektive Sicherheit in Eurasien zu beginnen. Gleichzeitig muss man langfristig die militärische Präsenz externer Mächte in der eurasischen Region schrittweise reduzieren.
Wir verstehen natürlich, dass diese These in der gegenwärtigen Situation unrealistisch erscheinen mag, aber das ist jetzt. Wenn wir jedoch in Zukunft ein zuverlässiges Sicherheitssystem aufbauen, wird die Präsenz nichtregionaler Militärkontingente einfach nicht mehr nötig sein. Um ehrlich zu sein, besteht dazu heute keine Notwendigkeit – es geht nur um Okkupation, mehr nicht.
Letztlich sind wir der Meinung, dass es den Staaten und regionalen Strukturen Eurasiens obliegt, im Bereich der gemeinsamen Sicherheit konkrete Bereiche der Zusammenarbeit zu bestimmen. Auf dieser Grundlage sollten sie auch selbst ein System von funktionierenden Institutionen, Mechanismen und Vereinbarungen aufbauen, das den gemeinsamen Zielen der Stabilität und Entwicklung wirklich dient.
Eine Charta über Multipolarität
und Vielfalt im 21. Jahrhundert
In diesem Zusammenhang unterstützen wir die Initiative unserer weissrussischen Freunde, ein Programmdokument, eine Charta über Multipolarität und Vielfalt im 21. Jahrhundert zu entwickeln. Darin können nicht nur die Rahmenprinzipien der eurasischen Architektur auf der Grundlage der grundlegenden Normen des Völkerrechts formuliert werden, sondern auch, im weiteren Sinne, eine strategische Vision des Wesens und der Natur der Multipolarität und des Multilateralismus als neues System der internationalen Beziehungen, das die westlich zentrierte Welt ablösen soll. Ich halte das für wichtig und fordere, dass so ein Dokument mit unseren Partnern und allen interessierten Staaten gründlich ausgearbeitet wird. Ich möchte hinzufügen, dass wir bei der Erörterung solch komplexer und vielschichtiger Fragen natürlich ein Höchstmass an umfassender Vertretung und Berücksichtigung unterschiedlicher Ansätze und Positionen benötigen.
Die grossen Probleme gemeinsam lösen
Fünftens: Ein wichtiger Teil des eurasischen Sicherheits- und Entwicklungssystems sollten zweifellos wirtschaftliche Fragen, soziales Wohlergehen, Integration und eine für alle Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit sein, die sich mit gemeinsamen Problemen wie der Überwindung von Armut, Ungleichheit, dem Klima, der Umwelt, der Entwicklung von Mechanismen zur Reaktion auf die Bedrohung durch Pandemien und Krisen in der Weltwirtschaft befasst – alles ist wichtig.
Der Westen hat die Entwicklung
des globalen Südens abgewürgt
Der Westen hat durch sein Handeln nicht nur die militärische und politische Stabilität in der Welt untergraben, sondern durch Sanktionen und Handelskriege auch die wichtigsten Marktinstitutionen diskreditiert und geschwächt. Indem er den IWF und die Weltbank benutzt und die Probleme des Klimawandels verdreht hat, hat er die Entwicklung des globalen Südens abgewürgt. Er verliert im Wettbewerb, selbst nach den Regeln, die der Westen für sich selbst aufgestellt hat, indem er prohibitive Schranken und alle Arten von Protektionismus einsetzt. So haben die USA beispielsweise die Welthandelsorganisation als Regulierungsbehörde für den internationalen Handel aufgegeben. Alles ist blockiert. Und sie üben nicht nur Druck auf ihre Konkurrenten aus, sondern auch auf ihre Satelliten. Man braucht sich nur anzusehen, wie sie die europäischen Volkswirtschaften, die am Rande der Rezession stehen, «aussaugen».
Die westlichen Länder haben einen Teil der russischen Vermögenswerte und Währungsreserven eingefroren. Jetzt denken sie darüber nach, wie sie eine Rechtsgrundlage für deren endgültige Aneignung schaffen können. Doch trotz aller Gaunereien wird Raub zweifellos Raub und nicht ungestraft bleiben.
Der Raub russischer Vermögenswerte
wird für den Westen zum Bumerang
Das Problem liegt sogar noch tiefer. Indem sie russische Vermögenswerte stehlen, machen sie einen weiteren Schritt zur Zerstörung des Systems, das sie selbst geschaffen haben und das ihnen jahrzehntelang ihren Wohlstand gesichert hat, ihnen erlaubt hat, mehr zu konsumieren, als sie erarbeiten, das durch Schulden und Verbindlichkeiten Geld aus der ganzen Welt angezogen hat. Jetzt wird allen Ländern, Unternehmen und Staatsfonds klar, dass ihre Vermögenswerte und Reserven alles andere als sicher sind – sowohl im rechtlichen als auch wirtschaftlichen Sinne des Wortes. Und jeder könnte der nächste sein, der von den USA und dem Westen enteignet werden könnte. Es könnten diese ausländischen Staatsfonds sein.
Es gibt schon jetzt ein wachsendes Misstrauen gegenüber dem auf westlichen Reservewährungen basierenden Finanzsystem. Es gibt einen Abfluss von Geldern aus den Wertpapieren und Schuldverschreibungen westlicher Länder sowie aus einigen europäischen Banken, die noch vor kurzem als absolut zuverlässige Orte für die Lagerung von Kapital galten. Jetzt ziehen sie Gold aus diesen Banken ab. Und sie tun das Richtige.
Sozioökonomische Grundlagen für
ein neues Sicherheitssystem schaffen
Ich glaube, dass wir die Bildung effektiver und sicherer bilateraler und multilateraler aussenwirtschaftlicher Mechanismen, die eine Alternative zu den vom Westen kontrollierten sind, ernsthaft intensivieren müssen. Dazu gehören die Ausweitung von Abrechnungen in nationalen Währungen, die Schaffung unabhängiger Zahlungssysteme und der Aufbau von Lieferketten, welche die vom Westen blockierten oder kompromittierten Kanäle umgehen.
Natürlich müssen die Bemühungen um die Entwicklung internationaler Verkehrskorridore in Eurasien, dem Kontinent, dessen natürlicher geographischer Kern Russland ist, fortgesetzt werden.
Ich weise das Aussenministerium an, die Entwicklung internationaler Abkommen in all diesen Bereichen bestmöglich zu unterstützen. Sie sind äusserst wichtig für die Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen unserem Land und unseren Partnern. Das sollte auch dem Aufbau einer grossen eurasischen Partnerschaft neuen Schwung verleihen, die im Grunde die sozioökonomische Grundlage für ein neues System der unteilbaren Sicherheit in Europa werden könnte. •
1 Autorisierte englische Übersetzung: http://en.kremlin.ru/events/president/news/74285 vom 14.6.2024;
deutsche Übersetzung: https://anti-spiegel.ru/2024/putins-komplette-grundsatzrede-zur-russischen-aussenpolitik/
«Ich erinnere auch daran, dass der Westen nach dem Beginn der Militäroperation [in der Ukraine] eine energische und sehr grobe Kampagne gestartet hat, um Russland auf der internationalen Bühne zu isolieren. Heute ist es für jeden klar und offensichtlich, dass dieser Versuch gescheitert ist, aber natürlich hat der Westen seinen Plan nicht aufgegeben, so etwas wie eine internationale antirussische Koalition aufzubauen und Druck auf Russland auszuüben. Auch das verstehen wir.
Wie Sie wissen, hat der Westen damit begonnen, aktiv die Initiative für die sogenannte hochrangige internationale Friedenskonferenz in der Ukraine in der Schweiz zu fördern. Diese Konferenz soll unmittelbar nach dem Gipfeltreffen der G7 stattfinden, also der Gruppe derer, die den Konflikt in der Ukraine mit ihrer Politik angeheizt haben. Was die Organisatoren des Treffens in der Schweiz vorschlagen, ist nur ein weiterer Trick, um die Aufmerksamkeit aller abzulenken, Ursache und Wirkung der Ukraine-Krise zu vertauschen, die Diskussion in eine falsche Richtung zu lenken und der derzeitigen Exekutive in der Ukraine in gewisser Weise wieder den Anschein von Legitimität zu verleihen.
Es ist daher nur natürlich, dass in der Schweiz trotz aller Versuche, die Tagesordnung der Konferenz mehr oder weniger anständig zu gestalten, keine wirklich grundlegenden Fragen diskutiert werden, die den Kern der aktuellen Krise der internationalen Sicherheit und Stabilität und die wahren Wurzeln des Ukraine-Konflikts betreffen.
Es ist schon jetzt abzusehen, dass sich alles auf allgemeines demagogisches Gerede und eine neue Reihe von Anschuldigungen gegen Russland reduzieren wird. Die Idee ist leicht zu erkennen: so viele Staaten wie möglich mit allen Mitteln einzubinden und so zu tun, als ob die westlichen Rezepte und Regeln von der gesamten internationalen Gemeinschaft geteilt würden, was bedeutet, dass unser Land sie bedingungslos akzeptieren solle.»
Quelle: Autorisierte englische Übersetzung: http://en.kremlin.ru/events/president/news/74285 vom 14.6.2024;
deutsche Übersetzung: https://anti-spiegel.ru/2024/putins-komplette-grundsatzrede-zur-russischen-aussenpolitik/
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