von Eliane Perret
Menschenhandel, Sexsklaven, Prostitution – Themen, von denen man vielleicht lieber nichts wissen möchte. Möglich auch, dass wir uns zurechtlegen, dass sie in unseren Ländern nicht von Bedeutung sind. Manfred Paulus setzt diesen Denkfehlern in seinem neuen Buch «Verkaufte Menschen. Roma in der Prostitution» die Realität entgegen. Faktentreu, sorgfältig recherchiert und von einer zutiefst menschlichen Haltung der Gleichwertigkeit aller Menschen getragen, legt er dar, was er in jahrzehntelanger nationaler und internationaler Ermittlungstätigkeit im Bereich Sexualdelikte und Rotlichtkriminalität und der Präventionsarbeit in Ost- und Südeuropa erfahren hat. In diesem Buch ist der Blick speziell auf das Schicksal der zwölf Millionen Roma gerichtet, die 2011 vom Europarat in Ost- und Südeuropa gezählt wurden. Roma sind heute im Sexgeschäft und im Menschenhandel unserer Länder eine teuer gehandelte und viel gefragte «Ware». Manfred Paulus verleiht ihnen vor dem Hintergrund seiner jahrelangen Arbeit vor Ort eine sonst kaum gehörte Stimme.
Selbstbestimmt und freiwillig –
eine Realitätsverleugnung
Das dürfte jeder aufmerksame Leser schnell realisieren: Prostitution kann nicht schöngeredet werden. Es ist keine «Dienstleistung» oder ein «Beruf» wie jeder andere, wofür wir nur endlich die richtigen Arbeitsbedingungen schaffen müssen. Das ändert sich auch nicht mit neuen Sprachregelungen wie Sexarbeit, Sexgewerbe, Erotikhostessen usw. Denn es geht nach wie vor um Gewalt, Erpressung, Abhängigkeit und Menschenverachtung, das damit verbundene Elend und ein mittlerweile zu einem Milliardenmarkt angewachsenes Geschäft. Die «freiwillig und selbstbestimmt anschaffenden Frauen» werden in Wirklichkeit erbarmungslos ausgebeutet und ihrer Würde beraubt. Diese Worthülsen stammen oft aus Kreisen, die sich gerne als «offen» und «tolerant» geben und mit einer sogenannt liberaleren Gesetzgebung ein längst fälliges Tabu zu brechen meinen. Solche Wunschargumente – heute geschickt in die gesellschaftliche Diskussion eingespeist – sind ein wesentlicher Teil des Problems. Sie verleugnen die Realität und tragen nichts zum Schutz der Opfer des Sexmarktes bei. Im Gegenteil, der Organisierten Kriminalität wird damit der rote Teppich ausgerollt, und sie kann ihr Geschäft mit der «Ware Mensch», ungehindert durch gesetzliche und gesellschaftliche Hürden, betreiben. – Sollte sich eine junge Frau tatsächlich freiwillig, verführt durch obige Propagandafloskeln, auf der Suche nach vermeintlich schnellem Geld einer solchen Tätigkeit (möglicherweise in Nobelbordells und im Escortservice) zuwenden, wäre durchaus die Frage nach Fehlentwicklungen in ihrem seelischen Haushalt erlaubt.
Unwissen und Vorurteile
Das Schicksal der Roma, Romnija (weibliche Roma) und Roma-Kinder ist verbunden mit Vorurteilen gegenüber dieser Menschengruppe, die sich seit Jahrhunderten tradieren. «Faulenzen, Geige fiedeln und Hühner oder Kupfer klauen» – das sind gängige Klischees, mit denen Misstrauen, Ablehnung, Verachtung oder auch Hass erzeugt werden. Eine Stimmung, die diesen Menschen entgegenschlägt und sie an den Rand der Mehrheitsgesellschaften drängt. Viele Roma leben heute in Elendsquartieren am Rand von Dörfern und Städten. Abgeschlossen von einem grösseren Umfeld, führen sie ein von Armut und Elend geprägtes Leben im Schutz ihrer Familie, ihrer Sippe oder ihres Clans. Diesem sozialen Milieu, so Manfred Paulus, würden sie sich ein Leben lang verpflichtet fühlen. Der enge familiäre Verbund habe den Roma über Jahrhunderte hinweg das Überleben gesichert und sei auch heute noch wirksam und oft handlungsleitend. Das Pflichtgefühl gegenüber dem familiären Umfeld könne dazu führen, dass sie – weil grosse Not und Elend es befeuern – Opfer von kriminellen Ausbeutern werden, die durchaus aus familiären Strukturen stammen können. Es brauche deshalb eine echte und ehrliche Aufklärung der Ursachen dieser Missstände, nur dann könnten die richtigen Konsequenzen gezogen werden, wie der Ausbeutung dieser seit Jahrhunderten benachteiligten Menschengruppe mit wirksamen Massnahmen zu begegnen sei, fordert Manfred Paulus.
Das hässliche Gesicht des Antiziganismus
In einem einführenden Kapitel geht Manfred Paulus auf die Geschichte des Antiziganismus ein, die bis weit ins Mittelalter zurückgeht. Diese lang zurückreichende Geschichte ist der Nährboden für heutige Diskriminierungsstrukturen, an denen festgehalten wird von der Mehrheitsgesellschaft, die «nicht willens oder fähig [sei], diese endlich auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen» (S. 10). Natürlich gebe es, wie bei allen Volksgruppen und Gesellschaften, Fälle, welche die diskriminierenden Klischees zu bestätigen scheinen, schreibt Manfred Paulus. Nur müssten dann auch die Gründe vermeintlichen und tatsächlichen Fehlverhaltens offengelegt werden. «Diese antiziganistische Haltung wird vor allem aber auch an den vielen Romnija sichtbar, die in deutschen Puffs, auf deutschen Strassenstrichen oder in dafür bereitgestellten, schmutzigen ‹Verrichtungsboxen› für zehn oder auch fünf Euro skrupellos benutzt oder ausgebeutet werden. Ebenso an deren Kindern, von denen allein in Berlin Hunderte oder Tausende nicht zur Schule gehen – manche aber dazu gezwungen sind, sich auf dem Schwulen- oder ‹Babystrich› zu verkaufen.» (S. 13) Eine Tatsache, die im übrigen nicht nur für Deutschland, sondern auch für Österreich und die Schweiz zutreffe. Ohne Bildung und Ausbildung haben sie keine Chance und nehmen in unserem Wirtschaftsleben eine Randstellung ein. Hinzu kommt, dass ihre ursprünglichen Einkommensquellen als ausgezeichnete Pferdehändler, Kupferschmiede, Kesselhersteller und -flicker kaum noch gefragt sind, handgefertigtes Geschirr und Teppiche heute in Billigländern produziert und von Handelshäusern vertrieben werden. Sich über einen langen Zeitraum für einen festen Arbeitsplatz zu verpflichten sei zudem auch im Widerspruch zur Mentalität, zu ihrer Werteordnung und zu ihrer jahrhundertealten Tradition des Zusammenhalts der Familie und der Sippe, was die Vorurteile, sie seien arbeitsscheu, zusätzlich unterstütze.
Vergessen oder übersehen werden dabei die vielen Roma, die trotz aller ethnisch bedingten Erschwerungen ein Hochschulstudium abschliessen oder auch in verschiedensten Berufen Beachtliches leisten. Sie sind längst sesshaft geworden, in die Mehrheitsgesellschaft integriert und leisten qualifizierte Arbeit. Oft werden sie nicht als Roma wahrgenommen, weil die mit ihrer Zugehörigkeit zu einer diskriminierten Volksgruppe verbundenen Nachteile auch ein Grund sind, warum viele der 2011 vom Europarat in Ost- und Südeuropa gezählten zwölf Millionen Roma ihre Herkunft verschleiern.
Ihren traurigen Höhepunkt hatte die Verfolgung der Roma mit dem Völkermord zur Zeit des Nationalsozialismus. Insgesamt dürften 500000 Sinti oder Roma in Konzentrationslagern umgebracht worden sein, wobei in dieser Zahl diejenigen Roma, Romnija und Roma-Kinder fehlen, die von der SS und anderen Mordkommandos aufgespürt und erschossen wurden, ebenso wie die zusammengetriebenen Kontingente von Roma, die vor ausgehobene Gruben gestellt und erschossen wurden.
Sklavenhandel im 21. Jahrhundert
In den folgenden Kapiteln nimmt uns der Autor mit in osteuropäische Länder wie Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Albanien, Tschechien und die Slowakei, in denen die Roma am Rande der Gesellschaft hausen – nicht weit entfernt von Touristenstädten und reichen Einkaufsstrassen. Hier kann die Prostitution der Romnija und Roma-Kinder ohne Bildungs- und Ausbildungschancen eine der wenigen Möglichkeiten sein, die wirtschaftliche und finanzielle Not der Familie zu lindern. Das zwingt sie auf den «Markt» der Touristenstrände, oder sie werden als Opfer von «Loverboys» oder mit verlockenden Versprechungen einer lukrativen beruflichen Tätigkeit nach Westeuropa verschleppt und dort zum Verkauf ihres Körpers auf dem Sexmarkt gezwungen. Manfred Paulus kennt diese Vorgehensweisen und Mechanismen im Detail und beschreibt, wie die Opfer in Abhängigkeit gebracht werden, ihren Traum von einem besseren Leben gezielt ausnutzend, genauso wie den Wunsch oder die Verpflichtung, der eigenen Familie zu helfen, aus der Armut herauszukommen. Und es sind viele Menschen, Roma und andere, und die Dunkelziffer ist gross. Paulus thematisiert diesen Handel mit der «Ware Frau und Kind» als Geschäftsfeld des Organisierten Verbrechens, wo bis heute Jahr für Jahr Tausende von Frauen und Kindern an den (west-)europäischen Markt verkauft werden – Sklavenhandel im 21. Jahrhundert. Ein Handel, der heute durch Angebote im Internet und offene Grenzen befeuert wird – mit Deutschland, Österreich und der Schweiz als beliebten Zielländern.
Pädokriminalität –
der grausame Griff nach den Kleinsten
Besonders erschütternd sind Paulus’ Berichte über die Pädokriminalität. Zum Beispiel in der Ukraine, die schon vor Beginn des Krieges Produktionsstätte für kinderpornografische Erzeugnisse war. Nicht zufälligerweise war sie im Raum Donezk und Odessa angesiedelt, wo viele schutzlose Strassenkinder zu finden waren, nach denen niemand fragte, wenn sie verschwanden. Missbraucht und geschändet bei der Produktion von Filmen, die durchaus mit dem Tod der Kinder enden können. «Konsumiert» von kranken Gemütern, welche oft auch als (Kinder-)Prostitutionstouristen in diese Länder reisen, sich als Zuhälter betätigen oder sich als Pädokriminelle an den Kindern vergehen. Das Darknet bietet viele Möglichkeiten an. Es stellt sich die Frage, warum unsere Gesellschaft solchen Entwicklungen nicht mit aller Entschiedenheit eine Absage erteilt.
Gesetze mit Schlupflöchern
Doch es geht auch um die Bedingungen, die solche kriminellen und menschenverachtenden Handlungen ermöglichen. In den Herkunftsländern der Sexsklavinnen und verkauften Kinder sind es immer wieder die gleichen Vorgänge, begünstigt durch Armut, Diskriminierung, Gesetzlosigkeit und Korruption. Genauso dringend stellt sich jedoch die Frage nach dem «Markt», den Sexkäufern in unseren Ländern. Deren Gesetzgebung macht den Handel und die sexuelle Ausbeutung dieser Kinder und Frauen möglich. Manfred Paulus geht fundiert auf die aktuelle Gesetzgebung in Deutschland, Österreich, der Schweiz und in der Europäischen Union ein. Zusammengetragen, so dass sie jedem Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung leicht zugänglich sind. Es ist leider so, dass in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich gerade diese gesetzlichen Freiräume es verhindern, die mit der Prostitution verbundene Kriminalität wirksam zu bekämpfen. Das zeigt, wieviel Handlungsbedarf da ist, und es zeigt, dass bis jetzt die Entschlossenheit fehlt, das Problem zu lösen.
Das Nordische Modell
Dabei gäbe es durchaus Modelle von Ländern, die mutiger einen anderen Weg gegangen sind. Um die Jahrtausendwende wurde in Europa der Umgang mit der Prostitution vor allem im linken politischen Spektrum diskutiert. Bereits 1999 setzte Schweden ein Gesetzeswerk in Kraft – zunächst als Schwedisches Modell (heute als Nordisches Modell) bezeichnet. Nicht mehr die Prostituierten, sondern die Sexkäufer wurden kriminalisiert. Verbunden damit waren eine breite Aufklärung und Bildungsmassnahmen für die breite Öffentlichkeit, so dass die Prostitution gesellschaftlich geächtet wurde. Und es trat nicht ein, was die Prostitutionslobby gern als müdes Argument einbringt: Die Prostitution wurde nicht in versteckte Bereiche und die Prostituierten nicht in die Illegalität abgedrängt, das zeigt eine 2010 von der schwedischen Regierung publizierte Studie, die durch Nachfolgestudien bestätigt wurde. Menschenhandel und Sexsklaverei sind in Ländern, die seither dem Nordischen Modell gefolgt sind – Norwegen und Island, Kanada, Nordirland, Frankreich, Irland, Israel – markant zurückgegangen. Der «Markt» hat in diesen Ländern seine Attraktivität verloren und ist zudem besser kontrollierbar. Er hat sich deshalb in Länder verlagert, die dem kriminellen Treiben immer noch grosse Freiräume einräumen – zum Beispiel in die Schweiz, nach Deutschland und Österreich!
Nicht alle schauen zu –
aber viel zu viele tun es noch
Manfred Paulus verweist in seinem Buch auch auf das wertvolle Bemühen von engagierten Menschen oder Gruppen in den Herkunftsländern, aber auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die durch ihre Projekte den betroffenen Kindern und Frauen eine Perspektive geben und sie zum Beispiel durch Schutzhäuser vor dem Zugriff der Menschenhändler bewahren oder Rückkehrenden nach durchlittenem Leid zur Seite stehen.
Enttäuschend ist, dass in der Schweiz seit 2021 die Prostitution sogar durch ein Bundesgerichtsurteil vollständig entkriminalisiert wurde. Dagegen leistet die Schweizerische Kriminalprävention (SKP) nach wie vor sehr gute Arbeit. Ein hoffnungsvolles Projekt war auch die Kampagne «Menschenhandel ist grausam – Schweigen auch», der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration FIZ mit der die Menschen unseres Landes durch TV-Spots auf das Problem aufmerksam gemacht und der Handlungsbedarf sichtbar gemacht wurde. Im Juni 2022 wurde hingegen die von verschiedenen Organisationen und der Evangelischen Volkspartei (EVP) geforderte Einführung des Nordischen Modells nochmals (wie 2020) mit 172 zu 11 Stimmen abgelehnt. Das ist schwer fassbar! Die SKP bleibt jedoch dabei. Sie macht weiterhin auf die (Milieu-)Kriminalität aufmerksam und führt entsprechende Präventionsmassnahmen durch. Am 24. September 2022 versammelten sich mehrere Tausend Menschen von verschiedenen Organisationen auf dem Bundesplatz in Bern und bekräftigten ihre Entschlossenheit in ihrem Kampf gegen Sexsklaverei und Menschenhandel und verdunkelten den Himmel mit 3000 schwarzen Luftballonen. Sie hatten recht! Was würden die Ja-Sager, Ideologen und Verharmloser zu Rovena sagen, einer jungen Frau, die der Prostitution entrinnen und in den albanischen Bergen eine Zuflucht finden konnte, wenn sie mit Tränen in den Augen, doch zugleich mit Mut, Stolz und Verzweiflung vor ihnen steht und sie zur Rede stellt: «Ich bin Rovena und frage Sie: Warum gibt es so etwas in Ihrem Land, warum kann und darf es so etwas in Ihrem Land geben?» (S.78) •
Manfred Paulus, Erster Kriminalhauptkommissar a.D., wurde 1943 geboren und trat 1963 in den Polizeidienst ein. Er leitete lange Jahre das Dezernat Sexualdelikte bei der Kriminalpolizei Ulm. Seine jahrzehntelange Erfahrung im Bereich der Rotlichtkriminalität, des Frauen- und Kinderhandels und der Pädokriminalität macht ihn zu einem ausgewiesenen Fachmann auf diesem Gebiet. Im Auftrag der Europäischen Kommission folgte er den Spuren der Menschenhändler in die Herkunftsländer der verschleppten Frauen und Kinder nach Osteuropa. Seit 2000 lehrte er an verschiedenen Polizeihochschulen. Nunmehr im Ruhestand, nutzt er die Möglichkeit, als international anerkannter Fachmann im Bereich des Menschenhandels, der (Zwangs-)Prostitution und der Organisierten Kriminalität seine Expertise auch als Referent und Buchautor weiterzugeben. Dazu gehören auch Präventionsprojekte speziell in den osteuropäischen Ländern. Für sein Engagement gegen Menschenhandel erhielt Manfred Paulus 2020 das Deutsche Bundesverdienstkreuz.
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