Desinformation muss ja aus Russland stammen – oder etwa nicht?

Unzulässige Beeinflussung aus dem Bundeshaus

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Auf ein Postulat des Nationalrates vom 9. März 2022 legte der Bundesrat am 19. Juni 2024 in einem Bericht dar, «inwiefern die Schweiz von Beeinflussungsaktivitäten bzw. Desinformationskampagnen betroffen ist» und welche Massnahmen dagegen erforderlich sind.1
  Der Bericht ist kein Musterbeispiel für neutrale und sachgerechte Information, ist er doch durchdrungen vom röhrenförmigen Denken, für die Schweiz bedrohliche Desinformationen stammten in erster Linie aus Russland oder aus China: «Aus Schweizer Sicht staats- und sicherheitspolitisch besonders relevant sind Akteure, welche offensiv andere Werte, Normen und politische Systeme vertreten und demokratische Institutionen untergraben wollen. Die Aktivitäten Russlands, aber auch Chinas, dürften mittel- und langfristig die grösste Relevanz für die Sicherheit der Schweiz behalten.» Zwar seien auch «westliche Staaten und Bündnisse […] im Informationsraum aktiv», aber diese seien in der Regel «für die Schweiz sicherheitspolitisch nicht als Bedrohung einzustufen […].» (Bericht, S. 3/4)
  Informationen aus russischen Medien zum Ukraine-Krieg werden prinzipiell als Desinformationen diskreditiert: «Einem globalen Publikum bieten russische Kanäle in Sozialen und Online-Medien eine alternative Interpretation, Desinformation und die gezielte Verfälschung der Realität in der Ukraine.» (S. 4) Demgegenüber versucht der Bericht uns einzureden, unsere Mainstream-Medien würden uns wahre und sorgfältig recherchierte Informationen liefern: «Qualitätsmedien mit hohen journalistischen Standards und ein interessiertes, kritisches Publikum, wie es in der Schweiz grundsätzlich zutrifft, tragen zur Eindämmung der Wirkung von Beeinflussungsaktivitäten bei.» (S. 21) Die reale Medienwelt sieht anders aus: Wenn es nicht andere, unabhängige Medien geben würde, wäre es oft glatt zum Verzweifeln, was da an Desinformation und negativer Beeinflussung aus unseren «Qualitätsmedien» über uns hereinbricht.

Zwei Beispiele für russische
 «Beeinflussungsaktivitäten»

Beispiel 1: «Seit Russland die Schweiz nach der Verhängung von Sanktionen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine auf seine Liste ‹unfreundlicher Staaten› gesetzt hat, nahmen auf sie zugeschnittene russische Desinformationsaktivitäten zu, zuletzt etwa im Kontext der Hochrangigen Konferenz zum Frieden in der Ukraine durch die Schweiz im Sommer 2024.» (S. 14) Das isch de Gipfel! Unsere «Volksvertreter» schreien seit Jahren im Chor des «Wertewestens» gegen Russland mit, verhängen Sanktionen, sperren russische Vermögen, ohne den Rechtsweg einzuhalten, fassen Waffenlieferungen über Nato-Staaten an die Kriegspartei Ukraine ins Auge und veranstalten eine Show der vereinigten Kriegstreiber im Luxusresort in der Nähe des Rütli – und wenn die russische Regierung das nicht besonders lustig findet, gibt man sich empört … Übrigens haben sich auch zahlreiche westliche Autoren im In- und Ausland mit scharfer Kritik an der Verschleuderung der Schweizer Neutralität und von Steuergeldern zu Wort gemeldet. Der Bundesrat wäre gut beraten, diese Stimmen in Ost und West ernstzunehmen und rechtsumkehrt zu machen.
  Beispiel 2: Erinnern Sie sich an die von Behörden und Medien produzierte Aufregung im Herbst 2022? Weil der Bundesrat im Schlepptau der EU kein russisches Gas mehr bezog und damit die Versorgung der eigenen Bevölkerung aufs Spiel setzte, wurden wir von den Behörden bedrängt, weniger zu duschen und zu heizen. Laut Bericht des Bundesrates publizierte eine Schweizer Tageszeitung Gesetzesvorschläge, wonach Einwohner, die ihre Wohnungen auf über 19 Grad heizten, mit Geld- oder Freiheitsstrafen belegt werden sollten. In dieser Gemengelage kursierte auf X/Twitter und Telegram ein gefälschtes Werbeplakat des Bundes, in dem behauptet wurde, wer seine Nachbarn denunziere, die zu viel heizen, erhalte eine Belohnung von 200 Franken (Bericht, S. 15). Keine russischen Erfindungen, sondern lauter Meldungen aus inländischer Produktion.
  Nun wirft der Bundesrat den russischen Medien doch tatsächlich vor, dass sie diese Schweizer Medienerzeugnisse weiterverbreiteten: «Noch gleichentags replizierten internationale Medien, darunter die deutschsprachige RT, diese Meldung.» Die Fotomontage wurde «über verschiedene Soziale Medien und Online-Plattformen, einschliesslich mittels nicht-authentischer Konten, die dem russischen Beeinflussungsnetzwerk zugerechnet werden», verbreitet. «Das darin transportierte Narrativ unterstellte, dass das demokratische System und die Rechtsstaatlichkeit in der Schweiz dysfunktional seien und hierzulande autokratische Zustände herrschten. Die Bevölkerung sollte verunsichert und gespalten werden.» (Bericht, S. 15, Hervorhebung mw).
  Wenn das keine geballte Ladung von Desinformationen ist, und zwar eine vom Bundesrat verfasste! Erstens wertet er es als Desinformation, wenn russische Medien die Peinlichkeiten weiterverbreiten, die in den Schweizer Medien stehen. Zweitens dürfen sie laut Bericht nicht einmal das publizieren, was auch andere internationale Medien bringen. Drittens ist es offenbar nicht klar, ob die Weitergabe des gefälschten Plakats überhaupt auf russischen Plattformen erfolgte, und viertens hat das vom Bundesrat kritisierte Narrativ so unrecht leider nicht: Der Vorschlag aus Schweizer Quellen, Bürger für ihr Verhalten hinter der eigenen Haustür, also in ihrer Privatsphäre, strafrechtlich zu verfolgen, ist selbstverständlich menschenrechtswidrig und undemokratisch. Fünftens war die Bevölkerung im Herbst 2022 tatsächlich verunsichert, aber nicht wegen der russischen Medien, sondern weil der Bundesrat seiner Verpflichtung, für genügend Gas zu sorgen, nicht nachgekommen ist.

Wenigstens …

  • Kein Verbot von RT und Sputnik: Trotz seiner Übernahme fast aller EU-Sanktionen gegen Russland hat der Bundesrat wenigstens das Verbot von Russia Today und Sputnik nicht übernommen, und er hat dies auch nicht vor, denn er halte es für «wirksamer […], unwahren und schädlichen Äusserungen mit Fakten zu begegnen, anstatt sie zu verbieten.» (Bericht, S. 21/22) Dem ist im Prinzip zuzustimmen. Nur: Wer soll entscheiden, was Fakten sind, wenn nicht wir Bürger?
  • Freie Meinungsbildung gemäss Bundesverfassung und Bundesgericht: Auch wenn es in den Wirrnissen und Rechtsbrüchen des «Zeitenwandels» unterzugehen droht: Die Bundesverfassung schützt die Meinungs- und Informationsfreiheit und damit die freie Willensbildung (siehe Kasten).

Auch der Bundesrat muss zugeben: «Die Verbreitung von Falschinformationen fällt grundsätzlich unter den Schutz der Meinungsfreiheit im Sinne von [es folgt die Aufzählung der im Kasten zitierten BV-Artikel].» Ganz klar auf dem Boden der Verfassung steht das Bundesgericht: «Das Bundesgericht vertritt in seiner Rechtsprechung die Grundannahme, dass die Individuen jede Meinung und Information sollen hören können, um sich im freien Austausch aller Äusserungen selbst eine Meinung bilden zu können.» (Bericht, S. 18)

Wer betreibt hier
 Desinformations-Politik?

Schlagzeile im «Tages-Anzeiger» vom 22. Juni 2024: «Fake News auf Russia Today: ‹Schweiz will Russland angreifen›». Priska Seiler Graf, SP-Nationalrätin und Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates (SiK-N) sei «Opfer eines Propaganda-Artikels» in RT DE geworden, so die Zeitung. 
  Das sind die Fakten:

SiK-N peilt Weiterlieferung von
Schweizer Waffen in den Ukraine-Krieg an

Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates SiK-N hat am 18. Juni 2024 eine Änderung des Kriegsmaterialgesetzes KMG vorgeschlagen. Danach soll die Weiterlieferung von in der Schweiz gekauftem Kriegsmaterial durch im wesentlichen westliche Staaten2 an einen Drittstaat erlaubt sein, falls dieser «von seinem völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrecht Gebrauch» macht. Die Nichtwiederausfuhr-Erklärung, die der Käuferstaat vor fünf oder mehr Jahren unterzeichnet hat, soll unter bestimmten Bedingungen «als aufgehoben» gelten.3 Die Abstimmung in der Kommission ergab 10 zu 10 Stimmen bei 4 Enthaltungen, mit Stichentscheid der Präsidentin, Priska Seiler Graf (SP), für die Aufweichung des Ausfuhrverbots in einen Kriegsstaat, aktuell in die Ukraine.
  Es ist kaum zu fassen: Dieselben Parlamentarier, vor allem aus der SP, die sich vor wenigen Jahren erfolgreich für ein faktisches Verbot der Weitergabe von Waffen aus Schweizer Produktion in Kriegsgebiete eingesetzt haben, wollen heute die Tore öffnen für Waffenlieferungen in einen heissen Krieg.

O-Ton Priska Seiler Graf
 nach der Kommissionssitzung

«Wir haben das Kriegsmaterialgesetz dahingehend geändert, dass Wiederausfuhren von Kriegsmaterial, also indirekte Waffenlieferungen, möglich sind, in ganz bestimmten Fällen. Und es geht da natürlich um die Ukraine, dass Waffenlieferungen in die Ukraine, Waffen, die Länder wie Deutschland, Frankreich oder Dänemark von der Schweiz gekauft haben, in Zukunft möglich sein sollten.» Frage des Journalisten: «Und was ist mit der Neutralität? Ist sie in Gefahr?» Seiler Graf: «Wir hatten Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler in der Kommission, wir haben sie angehört. Sie sagten nicht, es sei auf keinen Fall und überhaupt gar nicht möglich. Man war sich dann nicht so ganz einig, wie weit das Neutralitätsrecht überhaupt geht. Die Kommission kam zum Schluss: Es braucht wohl einen politischen Entscheid, wenn es völkerrechtlich nicht wirklich klar ist. Diesen haben wir jetzt gefällt. Und die Neutralität ist gar nicht in Gefahr mit dieser Lösung.»4
  Eine schwindelerregende Achterbahnfahrt: Die Völkerrechtler und die anwesenden Parlamentarier waren sich zwar «nicht so ganz einig», ob die geplante Regelung die Neutralität verletzt oder nicht, aber «ghaue oder gschtoche» (koste es was es wolle) zogen die Hälfte der Kommissionsmitglieder plus die Präsidentin die Sache durch. Und am Schluss beruhigt man sich selbst und die betrogenen Bürger mit dem Spruch, die Neutralität sei gar nicht in Gefahr.

Neutralitäts- und völkerrechtswidriger
Gesetzesentwurf: Vernehmlassung läuft

Übrigens hat die Kommission am 18. Juni nicht «das Kriegsmaterialgesetz geändert», wie Priska Seiler Graf behauptet, dazu ist sie gar nicht befugt. Vielmehr schickt die SiK-N ihren Entwurf «in Vernehmlassung»5, was auch nicht dem Schweizer Gesetzgebungsprozedere entspricht. Denn über Vorstösse von Parlamentariern entscheiden der National- und der Ständerat und in letzter Instanz das Volk mit einem fakultativen Referendum – das gilt auch im vorliegenden Fall, ausserordentliche Vernehmlassung hin oder her.
  Der Entwurf ist wie gesagt neutralitätswidrig. Die Aussage in der Medienmitteilung: «Der Entwurf bewegt sich im vom Neutralitätsrecht vorgegebenen Rahmen» ist eine bewusste Irreführung der Bürger. Der Entwurf ist zudem völkerrechtswidrig, denn er beinhaltet die explizite Umgehung des Uno-Sicherheitsrates: «In den Augen der SiK-N würde die vorgeschlagene Änderung der Schweiz ermöglichen, die Ukraine in einer Situation zu unterstützen, in welcher der Uno-Sicherheitsrat nicht in der Lage ist, eine massive Verletzung des Völkerrechts festzustellen.» Dies ist ein Verstoss gegen die Uno-Charta.
  Hier ist Handeln angesagt: Die Vernehmlassung der SiK-N zu ihrem Entwurf dauert bis zum 21. Oktober 2024. Bürger und Bürgergruppen, die ihre Kräfte gegen das Verscherbeln des einzigartigen Schweizer Modells einsetzen wollen, können ihre Stellungnahmen als PDF- oder Word-Dokument an armscontrolseco.admin.ch senden und auch in der Bevölkerung weiterverbreiten.

Kommentar von RT DE

Nach diesen hanebüchenen Vorgängen im Schweizer Parlament ist der deutliche Kommentar von Russia Today unter dem Titel «Schweiz will russische Städte bombardieren lassen» vom 19. Juni 20246 leider verdient und inhaltlich weitgehend korrekt. Dass die Schweizer Politik nach dem «Bürgenflop» einmal mehr Anlass dazu gibt, unser einst weltweit hochgeschätztes Land dem Spott preiszugeben, tut einem in der Seele weh. Auch dafür können wir die Verantwortung nicht den Russen zuschieben. Einzig die allzu starke Fokussierung auf die Person der Sicherheitskommissionspräsidentin und die Sprüche über ihre Schminke oder ihre Kinderträume sind geschmacklos und tragen nichts zur sachlichen Diskussion bei. Was die sogenannten Fake-Bilder betrifft, sind sie für jedermann leicht als Bildmontagen zu erkennen: Portrait Priska Seiler Graf, im Hintergrund zerstörte Häuser oder Abschuss einer Rakete. Legende zum zerstörten Haus: «Weder die Tatsache, dass sie selbst Mutter von drei Kindern ist, noch die traditionelle Neutralität der Schweiz scheinen sie zu beeinflussen. Sie fordert kompromisslos mehr Waffenlieferungen an die Ukraine. Mehr Tod für die Russen.» Legende zur fliegenden Rakete: «SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf: ‹Die Neutralität ist überhaupt nicht in Gefahr.›»
  Die Schlussbemerkung von RT DE muss uns Schweizern durch Mark und Bein gehen: «Sollte es tatsächlich zu einem Krieg zwischen der Schweiz und Russland kommen, wie von Seiler Graf angestiftet, würde eine ICBM-Rakete von Russland nach Zürich-Kloten [Wohnort der Nationalrätin] gemütliche 13 Minuten brauchen.» Ja, es ist hart, mit der unangenehmen Realität konfrontiert zu werden. Mit Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet würde die Schweiz nicht zum Frieden, sondern zum Tod von Männern, Frauen und Kindern beitragen und gleichzeitig unsere eigene Sicherheit gefährden. Wir sollten uns bei jedem Journalisten bedanken, der uns mit der Nase darauf stösst. Weiterhin leichtsinnig unsere Neutralität verlochen – oder kräftig Gegensteuer geben?  •



1 «Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation». Bericht des Bundesrates vom 19.6.2024. https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/88281.pdf
2 aufgelistet in Anhang 2 zur Kriegsmaterialverordnung
3 Wortlaut des Vorstosses unter https://www.parlament.ch/centers/documents/de/SIK-N%20Presserohstoff%20D.pdf
4 https://www.blick.ch/politik/priska-seiler-graf-die-neutralitaet-ist-ueberhaupt-nicht-in-gefahr-id19858324.html
5 Medienmitteilung vom 28. Juni 2024. https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-sik-n-2024-06-28.aspx
6 https://de.rt.com/schweiz/209632-schweiz-will-russische-staedte-bombardieren/

Freie Meinungs- und Willensbildung in der Schweizerischen Bundesverfassung

mw. Zur Stärkung des Schweizer Fundaments in unseren Köpfen und Herzen seien die entsprechenden Verfassungsbestimmungen zitiert.

Art. 16 Meinungs- und Informationsfreiheit

1 Die Meinungs- und Informationsfreiheit ist gewährleistet.
2 Jede Person hat das Recht, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten.
3 Jede Person hat das Recht, Informationen frei zu empfangen, aus allgemein zugänglichen Quellen zu beschaffen und zu verbreiten.

Art. 17 Medienfreiheit

1 Die Freiheit von Presse, Radio und Fernsehen sowie anderer Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen ist gewährleistet.
2 Zensur ist verboten.
3 Das Redaktionsgeheimnis ist gewährleistet.

Art. 34 Politische Rechte

[…] Abs. 2 Die Garantie der politischen Rechte schützt die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe.

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