Menschen, die «nicht in zornige Aufwallung geraten, wo es geboten wäre», schreibt der grosse griechische Philosoph Aristoteles in seiner «Nikomachischen Ethik» vor 2500 Jahren, würden «verkehrt» leben. Das Verhalten eines angesichts von Ungerechtigkeit Unberührten sei, sagte er, «als habe er keine Empfindung und mache es ihm keinen Schmerz, und, da er nicht zürnt, als sei er auch nicht imstande sich zu wehren, während es doch Sklavensinn verrät, stillzuhalten, wenn man beschimpft wird, oder seine Angehörigen preiszugeben.»
Ich kann mich noch gut an jene «zornige Aufwallung» erinnern, als ich 17jähriger erstmals in meinem Leben die festgefügte Weltanschauung meines deutschnationalen Vaterhauses anzweifelte, Weihnachten 1968, als in unseren Kirchen wieder vom «Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen» gepredigt wurde. Diesmal klangen die Worte schal, und eine starke Erregung erfasste mich, denn es standen mir die Bilder des Vietnam-Krieges vor dem inneren Auge: Die Bomberströme, die Bombenteppiche und die schrecklichen grellen Napalm-Feuerbälle, mit denen «unsere amerikanischen Freunde» die vietnamesische Bevölkerung im Namen des gleichen Gottes abschlachteten, an den ich auch glaubte. Darüber hatte ich aber noch nie nachgedacht. Ein Jahr zuvor hatte der Erzbischof von New York, Kardinal Spellman, Militärvikar der US-Streitkräfte, die Vietnam-GIs als «Soldaten Christi» gerühmt und sie «zum Kampf bis zum totalen Sieg» aufgestachelt.1
Als ich das 2015 im Westend Verlag erschienene Buch «Die Weltbeherrscher» von Armin Wertz las, erinnerte ich mich wieder an jenes Weihnachten 1968. Wem es an «zorniger Aufwallung» fehlen sollte, dem sei das Buch dringend empfohlen. Es ist nichts weniger als die «erste vollständige Chronik aller US-amerikanischen Operationen in unabhängigen Staaten» – von 1794 (18 Jahre nach der Staatengründung 1776) bis 2014. Armin Wertz stützt sich als Quelle auf den Congressional Research Service Report RL 3017 des Foreign Affairs Department des Forschungsdienstes des amerikanischen Kongresses von 2004 und vervollständigte dessen Lücken mit eigenen Recherchen.2
Der 1945 in Friedrichshafen geborene Armin Wertz studierte Volkswirtschaft in Berlin und arbeitete über dreissig Jahre als Auslandskorrespondent: für den Spiegel in Mittelamerika, für die «Frankfurter Rundschau» und den «Tages-Anzeiger» in Israel und für den Freitag und die «Berliner Zeitung» in Südostasien. Er veröffentlichte als freier Journalist auch in der «taz», Zeit, im ARD, im «Tagesspiegel», «Standard» (Wien), bei mare, Lettre International, El Mundo (Medellin), TEMPO (Jakarta) und anderen Medien. Vier Bücher sind von ihm erschienen: «Tränen im Heiligen Land», «Die verdammte Presse», «Sie sind viele, sie sind eins. Eine Einführung in die Geschichte Indonesiens» und «Der Sieg der freien Welt. Militärische und geheimdienstliche Operationen der USA im Ausland». Armin Wertz schrieb auch für die Internetzeitung Journal21, ein Projekt des früheren Chefs der Tagesschau, Heiner Hug, der
«mit Herzblut und auch finanziellem Engagement eine Schar von zumeist altgedienten Journalisten um sich versammelt hat, die das Schreiben und Aufklären nicht lassen können, dafür aber zunehmend in den sich zu Tode sparenden Medien keinen Platz mehr finden».
Auf 320 der 400 Seiten skizziert Armin Wertz die schier unzähligen imperialistischen US-Aggressionen zwischen 1794 und heute – Kriege, militärische Interventionen, Morde im staatlichen Auftrag, grobe, aber auch subtile Einmischungen der USA in die Angelegenheiten anderer souveräner Staaten. Allein die Schilderungen der US-Drohnenmorde zwischen 2004 und 2011 füllen fünfzehn eng bedruckte Seiten, pro Mordaktion wenige Zeilen!
Das Gesamtbild, das die Chronik von Armin Wertz ermöglicht, die vollständige Sammlung aller Untaten dieses sich Demokratie nennenden Staates ist eine absolute Katastrophe: Nur ein paar wenige der 220 Jahre US-amerikanischer Geschichte vergingen ohne Kriege, militärische Interventionen, ohne staatliche Morde, grobe und ohne offene oder versteckte Einmischungen in die Angelegenheiten anderer souveräner Staaten … nur in fünf der unzähligen Angriffskriege hatten die USA es nötig, diesen überhaupt zu erklären! Alles geschah im missbrauchten und geschändeten Namen der Demokratie.
Vorangestellt ist den 400 Seiten des Buchs ein Zitat von George F. Kennan, der 1948 Chef des Planungsstabes im US-Aussenministerium war:
«Uns gehören 50 Prozent des Reichtums der Welt, wir machen aber nur 6,3 Prozent der Weltbevölkerung aus. […] Angesichts einer solchen Situation kommen wir nicht umhin, Neid und Missgunst auf uns zu lenken. Unsere eigentliche Aufgabe in der nächsten Zeit besteht darin, eine Form von Beziehungen zu finden, die es uns erlaubt, diese Wohlstandsunterschiede ohne ernsthafte Abstriche an unserer nationalen Sicherheit beizubehalten. Um das zu erreichen, werden wir auf alle Sentimentalitäten und Tagträumereien verzichten müssen; […]. Wir dürfen uns nicht vormachen, dass wir uns heute den Luxus von Altruismus und Weltbeglückung leisten können […]. Wir sollten aufhören, von vagen und unrealistischen Zielen wie Menschenrechten, Anhebung von Lebensstandards und Demokratisierung zu reden. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem unser Handeln von nüchternem Machtdenken geleitet sein muss. Je weniger wir dann von idealistischen Parolen behindert werden, desto besser.»
Kennan sagte dies drei Jahre nach Amerikas Abwurf der beiden ersten Atombomben der Weltgeschichte, dieser furchtbarsten aller Waffen. Er sagte es 1948, im gleichen Jahr, als die amerikanische First Lady Eleonore Roosevelt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit grossem Pomp verkündete, und spuckte als Chef des Planungsstabs im US-Aussenministerium auf Menschenrechte und Demokratie. Verspottete sie als «vage» und «unrealistische» «Sentimentalitäten und Tagträumereien». Wir haben nicht vergessen, wer nur ein paar Jahre zuvor die Menschenrechte als Humanitätsduselei verhöhnte! Klug wie die Schlange schlüpfte 1948 der Wolf in den Schafspelz der Menschenrechte. Als wären die USA die Hüter der Menschenrechte!
Was ist das für ein Staat, dessen Kommandozentrale auf die Menschenrechte spuckt und sie «Sentimentalitäten» und «Tagträumereien» nennt, während die Präsidenten-Frau die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet? Doch Kennan sagte das, was die USA schon immer taten: «auf alle Sentimentalitäten und Tagträumereien verzichten», «aufhören, von vagen und unrealistischen Zielen wie Menschenrechten, Anhebung von Lebensstandards und Demokratisierung zu reden», «von nüchternem Machtdenken geleitet sein».
Wertz dokumentiert die Geschichte der blutigen Aggressions-, Eroberungs- und Machtpolitik der USA, die von Anfang an nichts mit Demokratie zu tun hat: «Schon die Gründung der Vereinigten Staaten und die spätere Ausdehnung über den nordamerikanischen Kontinent», heisst es bei Wertz,
«wurden nur mit der Zerschlagung zahlreicher indianischer Nationen erreicht. […] Um sich ihr Land anzueignen, schlossen die USA 800 Verträge mit den verschiedenen indianischen Nationen. Rund 430 davon wurden vom Kongress nicht ratifiziert. Dennoch wurde von den Indianern erwartet, dass sie sich an die Bestimmungen dieser Verträge hielten. ‹Noch tragischer jedoch war, dass die USA von den 370 Verträgen, die ratifiziert wurden, nicht einen einzigen einhielten›, […]. Als die ersten Europäer an der Ostküste eintrafen, lebten zwischen zwanzig und fünfzig Millionen Indianer in dem Land, das heute die Vereinigten Staaten sind. Ende des 19. Jahrhunderts waren gerade noch 250 000 übrig.»
Die gedrängten Schilderungen in den «Weltbeherrschern» über diesen Völkermord weckten in mir wieder jene «zornige Aufwallung» des grossen Aristoteles’ und zugleich die Erinnerung an meine geliebte Jugendlektüre von Karl May, aus dessen bewegendem Vorwort im ersten Band der Winnetou-Trilogie ich hier zitieren muss:
«Es war nicht nur eine gastliche Aufnahme, sondern eine beinahe göttliche Verehrung, welche die ersten ‹Bleichgesichter› bei den Indsmen fanden. Welcher Lohn ist den Letzteren dafür geworden? Ganz unstreitig gehörte diesen das Land, welches sie bewohnten; es wurde ihnen genommen. Welche Ströme Blutes dabei geflossen und welche Grausamkeiten vorgekommen sind, das weiss ein Jeder, der die Geschichte der ‹berühmten› Conquistadores gelesen hat. Nach dem Vorbilde derselben ist dann später weiter verfahren worden. Der Weisse kam mit süssen Worten auf den Lippen, aber zugleich mit dem geschärften Messer im Gürtel und dem geladenen Gewehre in der Hand. Er versprach Liebe und Frieden und gab Hass und Blut. Der Rote musste weichen, Schritt um Schritt, immer weiter zurück. Von Zeit zu Zeit gewährleistete man ihm ‹ewige› Rechte auf ‹sein› Territorium, jagte ihn aber schon nach kurzer Zeit wieder aus demselben hinaus, weiter, immer weiter. Man ‹kaufte› ihm das Land ab, bezahlte ihn aber entweder gar nicht oder mit wertlosen Tauschwaren, welche er nicht gebrauchen konnte. Aber das schleichende Gift des ‹Feuerwassers› brachte man ihm desto sorgfältiger bei, dazu die Blattern und andere, noch viel schlimmere und ekelhaftere Krankheiten, welche ganze Stämme lichteten und ganze Dörfer entvölkerten. Wollte der Rote sein gutes Recht geltend machen, so antwortete man ihm mit Pulver und Blei, und er musste den überlegenen Waffen der Weissen wieder weichen. Darüber erbittert, rächte er sich nun an dem einzelnen Bleichgesichte, welches ihm begegnete, und die Folgen davon waren dann stets förmliche Massacres, welche unter den Roten angerichtet wurden. Dadurch ist er, ursprünglich ein stolzer, kühner, tapferer, wahrheitsliebender, aufrichtiger und seinen Freunden stets treuer Jägersmann, ein heimlich schleichender, misstrauischer, lügnerischer Mensch geworden, ohne dass er dafür kann, denn nicht er, sondern der Weisse ist schuld daran. […] Ja, er ist ein kranker Mann geworden, ein sterbender Mann, und wir stehen mitleidig an seinem elenden Lager, um ihm die Augen zuzudrücken. An einem Sterbebette zu stehen, ist eine ernste Sache, hundertfach ernst aber, wenn dieses Sterbebette dasjenige einer ganzen Rasse ist. Da steigen viele, viele Fragen auf, vor allem die: Was hätte diese Rasse leisten können, wenn man ihr Zeit und Raum gegönnt hätte, ihre inneren und äusseren Kräfte und Begabungen zu entwickeln? Welche eigenartigen Kulturformen werden der Menschheit durch den Untergang dieser Nation verloren gehen?»
Die Gründerväter der USA, wie zum Beispiel Benjamin Franklin, hielten die Indianer noch nicht für minderwertige «Wilden»: «Die Liga der Irokesen inspirierte Benjamin Franklin, sie zu kopieren, als er die Staatsföderation [der späteren USA] plante», schrieb John F. Kennedy im Vorwort zu Willam Brandoms «American Heritage Book of Indians». Doch bereits die Generationen nach dem Aufklärer Franklin «folgten wieder den Vorstellungen der bigotten Pilgrim Fathers», die sich als «auserwähltes Volk« und den Nordamerikanischen Kontinent für ihr «gelobtes Land» hielten: «1. Die Erde und alles darin ist Gottes. 2. Gott mag die Erde oder irgendeinen Teil davon seinem auserwählten Volk geben. 3. Wir sind sein auserwähltes Volk.»
Schon die «bescheidensten Unabhängigkeitskämpfer um George Washington» wollten die Eroberungen von den 13 Ostküstenstaaten aus bis zum Mississippi vorantreiben. Dreissig Jahre später träumte Thomas Jefferson schon von den Rocky Mountains als Westgrenze. Weitere vierzig Jahre später redete man im Kongress von der Eroberung des ganzen Kontinentes «vom Isthmus von Darien (Panama) bis zur Behringstrasse». Und 1912 bemerkte US-Präsident Taft: «Die ganze Hemisphäre wird uns gehören, tatsächlich gehört sie uns auf Grund unserer rassischen Überlegenheit moralisch heute schon.» Gemeint war der amerikanische Doppelkontinent vom Nordpol bis zum Südpol als gelobtes Land der «rassisch überlegenen» Amerikaner! Noch 1985 lebten in den USA über zwanzig indianische Stämme, deren Angehörige keine amerikanische Staatsbürgerschaft besassen. Das militärische Einflussgebiet der USA in Form von Vasallenstaaten dehnt sich weltweit aus.
Wer nicht abgeschlachtet oder kolonisiert werden wollte oder wer auf seiner staatlichen Souveränität beharrte, wurde von den aggressiven US-Imperialisten schon im 19. Jahrhundert als «Terrorist» entmenschlicht, häufiger aber noch als «Wilder», «Bandit», «islamischer Fanatiker», «Pirat».
Mit der Feststellung des Übels sei noch nichts getan, sagen manche. Warum muss die Macht dann Andersdenkende ausschalten?
Um nochmals auf den Anfang zurückzukommen: Aristoteles beklagte schon vor 2500 Jahren, wir lebten «verkehrt», wenn wir angesichts von Ungerechtigkeit nicht in «zornige Aufwallung» gerieten. Wo doch begangenes Unrecht diese Reaktion gebiete! Gar in dem schier unbegreiflichen Ausmass, wie in den «Weltbeherrschern» zusammengetragen! Wir würden unsere Vernunft erst gebrauchen, meinte er, wenn wir durch starke Gefühle des Erstaunens oder der Empörung erschüttert sind. Die Lektüre der «Weltbeherrscher» ist auf besondere Weise geeignet, diese «zornige Aufwallung» zu wecken, berührt zu werden und Schmerz und Zorn zu empfinden und sich nicht mehr zu verhalten, als sei man nicht imstande, sich zu wehren. Diese innere Wandlung ist auch eine Tat. Sie lässt einen den «Sklavensinn» verlieren und macht den Weg frei zum «äusseren Tun», den man nun aus freiem innerem Entschluss unter die Füsse nimmt. •
1 Francis Kardinal Spellman. In: Der Spiegel 51/1967 vom 10.12.1967
2 Grimmet, 5.10.2004. www.au.af.mil/au/awc/awcgate/crs/rl30172.htm (Wertz, S. 337, Einleitung, Anmerkung 2)
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