Freiheit für Julian Assange … und ihr Preis

von Eva-Maria Föllmer-Müller

Seit dem 24. Juni ist Julian Assange frei. Wer hätte das erwartet, nach 14 Jahren unglaublicher Torturen. Zunächst muss er noch die Kröte schlucken, sich zu etwas schuldig zu bekennen, was einmal mehr den Scheinwerfer vom Täter auf das Opfer lenken soll. Er muss, wie einst Galileo Galilei, «widerrufen» – um sein Leben zu retten. In der Pressemitteilung des US-Justizdepartements zum Urteil des US-Gerichts auf der Insel Saipan, die 1944 von den USA besetzt wurde und bis heute zu ihrem Aussengebiet gehört, klingt das dann so: «Der Gründer von WikiLeaks bekennt sich schuldig und wird wegen Verschwörung zur Beschaffung und Weitergabe von Verschlusssachen der Landesverteidigung verurteilt. Julian Assange, der Gründer von WikiLeaks, hat sich schuldig bekannt, zusammen mit Chelsea Manning, die damals als Geheimdienstanalystin für die US-Armee tätig war, geheime Dokumente über die nationale Verteidigung illegal beschafft und weitergegeben zu haben.» Das stimmt vorne und hinten nicht. Aber das ist die Kröte, die er schlucken musste. Jeder, der sich nur ein bisschen mit der 14 lange Jahre dauernden Odyssee dieses mutigen Journalisten befasst hat, kann das selbst einordnen. Der Kampf um die Meinungs- und Pressefreiheit geht sowieso weiter.
  Die Bilder beim Verlassen des Gerichtsgebäudes und bei seiner Ankunft in Australien zeigen einen sichtlich erschöpften, aber nicht gebrochenen Julian Assange.
  Grotesk ist auch, dass Assange für seine Flugkosten – 520
 000 US-Dollar – selbst aufkommen musste. Dank des sofortigen Aufrufs seiner Frau Stella hat die Gemeinschaft der Unterstützer diese Kosten übernommen.
  Vor meinem geistigen Auge drängen sich mir einige Eindrücke und Bilder aus diesen quälenden Jahren auf:
  Die Jahre seines ersten Fluchtortes in der ecuadorianischen Botschaft in London. Nach dem Regierungswechsel in Ecuador der Lauschangriff der CIA. Die Diskussion seiner Entführung und sogar seiner Ermordung innerhalb der CIA. Der inszenierte Sex-Skandal, den man ihm anhängen wollte. Seine unwürdige, willkürliche Verhaftung und der Abtransport ins Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Mehr als fünf Jahre Isolationshaft. Der Aufschrei von Ärzten, dass Assange in schlechter gesundheitlicher Verfassung ist und ihm eine angemessene medizinische Behandlung verweigert wird. Der UN-Sonderberichterstatter für Folter Nils Melzer, der unermüdlich die psychische Folter von Julian Assange im Gefängnis anprangerte, der zugleich aber auch immer wieder auf den «Elefanten im Raum» hingewiesen hat (s. Kasten). Die unsäglichen Prozesse. Assanges Vater, John Shipton, Assanges Frau Stella, die ihn im Gefängnis geheiratet hat. Die Bilder vor dem Gefängnis: Stella im weissen Brautkleid, ohne ihren Ehemann – erbärmliches Zeugnis für seine Peiniger. Immer wieder aber auch die vielen, vielen Menschen, die ihn unterstützt haben und nicht aufgehört haben damit.
  Ich denke an die Freude und Erleichterung von hundertausenden Menschen weltweit, die ihn in diesen langen Jahren unermüdlich unterstützt und begleitet haben – menschlich, juristisch, politisch. Weil sie das unübersehbare himmelschreiende Unrecht nicht hinnehmen wollten. Mit seiner schonungslosen Dokumentation von Kriegsverbrechen, der Offenlegung gewaltiger politischer Skandale (Hillary Clintons E-Mails) und damit der Dokumentation US-amerikanischer Hybris, hat er der Weltöffentlichkeit einen grossen Dienst erwiesen. Und wir vergessen es nicht: Bis heute sind die Verantwortlichen für die aufgedeckten Kriegsverbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen worden.
  Er hat das getan, was jeder Journalist tun müsste – viele tun es auch. Und viele müssen mit ihrem Leben dafür bezahlen. Im Jahr 2023 wurden laut Reporter ohne Grenzen weltweit 100 Journalisten getötet, die meisten davon im Gaza-Streifen. In diesem Jahr sind es bereits 53, und 553 Journalisten befinden sich in Gefangenschaft.

  Jennifer Robinson, die langjährige Rechtsberaterin von Julian Assange, hat es kurz nach dem Gerichtsentscheid gegenüber dem australischen «Guardian» mit ihren Worten gesagt:

«[…] Julian Assange hat mehr als 14 Jahre lang unter dem Risiko einer Auslieferung an die Vereinigten Staaten gelitten. Ihm drohten 175 Jahre Gefängnis, weil er Beweise für Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und das Fehlverhalten der USA in der ganzen Welt veröffentlicht hatte. Er bekannte sich eines Vergehens schuldig, weil er Informationen im öffentlichen Interesse veröffentlicht hatte, für die er in den letzten zehn Jahren weltweit mit Journalistenpreisen ausgezeichnet und jedes Jahr für den Friedensnobelpreis nominiert worden war. Diese strafrechtliche Verfolgung stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar, der für Journalisten in aller Welt Anlass zur Sorge sein sollte. Die USA versuchen, exterritoriale Gerichtsbarkeit über euch alle auszuüben, ohne euch den verfassungsmässigen Schutz der freien Meinungsäusserung zu gewähren, und jeder, dem die freie Meinungsäusserung und die demokratische Rechenschaftspflicht am Herzen liegen, sollte sich dagegen wehren. Ich möchte jedoch alle, die sich für Julian eingesetzt und gekämpft haben, ermutigen, auch weiterhin aufzustehen und gegen diesen gefährlichen Präzedenzfall zu kämpfen. Ich hoffe, dass die Tatsache, dass wir Julian Assange heute trotz aller Widrigkeiten und gegen eine der mächtigsten Regierungen der Welt befreien konnten, allen Journalisten und Verlegern, die auf der ganzen Welt inhaftiert sind, Hoffnung geben wird, und wir ermutigen alle, die für Julian gekämpft haben, diesen Kampf für ihn und all die anderen fortzusetzen, in der Hoffnung, dass wir auch ihre Freiheit sichern können.»

Assange muss sich jetzt zuallererst im Kreise seiner Familie und Freunde erholen. Das wünschen wir ihm sehr. Er hat aber auch bereits angekündigt, dass er weitermachen wird.  •

Pressefreiheit oder Nationale Sicherheit?

«Am 15. Oktober 2019 nahm ich an einer Podiumsdiskussion an der Columbia University in New York teil. Sie stand unter dem Motto ‹Press Freedom, National Security and Whistleblowers: From Julian Assange to the White House›. […] James Goodale war unter den Zuhörern. Goodale hatte zu Beginn der 1970er Jahre die ‹New York Times› beim Rechtsstreit um die ‹Pentagon Papers› vertreten, dem grossen Leak zum Vietnam-Krieg, das unter anderem die vorsätzliche Täuschung der amerikanischen Öffentlichkeit durch die eigene Regierung enthüllte. […] Während der Diskussion stand der 86jährige auf und ergriff das Wort. ‹Hat Assange ein Anrecht auf den vollen Schutz der Pressefreiheit?› Goodale bejahte das leidenschaftlich. Wolle die US-Regierung Assange für seine Veröffentlichungen strafrechtlich verfolgen, dann müsse sie zuerst beweisen, dass er dadurch die nationale Sicherheit in eindeutiger und unmittelbarer Weise gefährdet habe. ‹Das Erfordernis dieses Beweises stellt für die Regierung eine hohe Hürde dar, zumal sie nie bewiesen hat, dass infolge von Assanges Veröffentlichungen tatsächlich jemand zu Schaden gekommen ist. […] Die Regierung hatte zehn Jahre Zeit, Beweise für die Gefährdung der nationalen Sicherheit vorzulegen, aber sie hat es nicht getan.›»
[…]
«Tatsächlich steckt hinter der aggressiven Verfolgung von Assange immer derselbe Beweggrund: Angst. Angst vor der Methode WikiLeaks. Angst vor Transparenz. Angst vor demokratischer Kontrolle. Angst vor Verantwortlichkeit. Angst vor Machtverlust. Angst vor neuen Enthüllungen. Angst vor Nachahmern. In den Worten von Leon Panetta, ehemaliger CIA-Chef und US-Verteidigungsminister, in einem Interview mit der ARD: ‹Alles, was man tun kann, ist, zu hoffen, dass man letztendlich gegen diejenigen vorzugehen in der Lage ist, die an der Enthüllung dieser Informationen beteiligt waren, so dass man anderen eine Botschaft senden kann: Tut nicht dasselbe.›»

Nils Melzer «Der Fall Julian Assange.
 Geschichte einer Verfolgung»
 Piper, München 2021, S 239 und 241

Der Elefant im Raum

«Stellen Sie sich einen dunklen Raum vor. Plötzlich richtet einer das Licht auf den Elefanten im Raum, auf Kriegsverbrecher, auf Korruption. Assange ist der Mann mit dem Scheinwerfer. Die Regierungen sind einen Moment lang schockiert. Dann drehen sie mit den Vergewaltigungsvorwürfen den Lichtkegel um. Ein Klassiker in der Manipulation der öffentlichen Meinung. Der Elefant steht wieder im Dunkeln, hinter dem Spotlight. Statt dessen steht jetzt Assange im Fokus, und wir sprechen darüber, ob er in der Botschaft Rollbrett fährt, ob er seine Katze richtig füttert. Wir wissen plötzlich alle, dass er ein Vergewaltiger ist, ein Hacker, Spion und Narzisst. Und die von ihm enthüllten Missstände und Kriegsverbrechen verblassen im dunkeln.» (Nils Melzer in Republik vom 31.1.2020)

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