Schweizerische Friedenspolitik – eine weitere Chance vertan

von Peter Küpfer

Das beunruhigend unernsthafte Gebaren der westlichen «Eliten» auf dem Bürgenstock hat gezeigt, wie weit sie sich inzwischen von den Realitäten entfernt haben. Verliert die Schweiz ihre lange Tradition, die ganze Welt im Auge zu haben?

Die Schweizer Standard-Medien übernahmen im Nachfeld des glamourös inszenierten Ereignisses auf dem Bürgenstock getreu die Kernsätze der Medienmitteilung des Schweizer Bundesrates vom 16. Juni 2023. Sie lieferten am Montag danach prompt und unisono die entsprechenden Schlagzeilen. Das Treffen sei «ein erster Schritt zum Frieden» gewesen, hiess es dort in Verkennung wahrer Sachverhalte.
  Die Realität sieht anders aus. Mit der bisher nahezu bedingungslosen Unterstützung einer kriegführenden Partei hat sich die offizielle Schweiz in diesem Weltkonflikt entschieden auf nur eine Seite gestellt und damit einmal mehr ihrer internationalen Glaubwürdigkeit schweren Schaden zugefügt. Indem sie seit Beginn des Krieges in der Ukraine die Sicht einer de facto kriegführenden Partei (USA) in Wort und Tat beflissen übernommen hat, steht sie mit ihrem Anspruch zu vermitteln schief im brandgefährlichen Konflikt.
  Gefährlich ist die internationale Lage aber nicht, weil Putin nach der Ukraine die übrige Welt erobern will, wie uns das westliche Narrativ täglich einhämmert. Gefährlich ist die Lage, weil kriegstreiberische Interessengruppen im Westen den aussichtslosen Krieg in der Ukraine möglichst lange andauern lassen wollen, aus Motiven, die nicht klar kommuniziert werden. Experten, auch amerikanische, weisen immer wieder auf den durch nichts legitimierten Anspruch der USA hin, ihre bisherige wirtschaftlich dominante Vorherrschaft zu behaupten, auch mit illegalen Interventionen, auch bewaffneten, im Prinzip überall auf der Welt. Dies vor allem gegen vermeintliche Hauptkonkurrenten im weltweiten Wirtschaftskrieg, Russland und China.
  Brandgefährlich ist die Lage vor allem auch deshalb, weil unverantwortlich handelnde führende Kreise im Westen die Eskalation täglich weitertreiben. Bereits haben aus der Ukraine abgefeuerte Langstreckenraketen westlicher Machart Einrichtungen des russischen atomaren Frühwarnsystems angegriffen, zum Teil auch weit innerhalb russischen Territoriums. Zum Glück für die westliche Welt (oder für die Welt überhaupt!) hat Putin bisher besonnen reagiert.
  Angesichts der Tatsache, dass die USA aus allen Abrüstungs- und nuklearen gegenseitigen Kontroll-Abkommen ausgestiegen sind und seither die Beunruhigung Moskaus darüber (sie ging einher mit der wortbrüchigen Ausweitung der Nato nach Osten) spöttisch als Hirngespinste abtun, ist die internationale Lage mehr als brenzlig. Der Westen betreibt weiter seine unverantwortlichen Provokationen und hat wenige Tage vor der Bürgenstock-Konferenz seine Einwilligung dazu gegeben, der Ukraine in Zukunft auch strategisch einsetzbare Waffen zu liefern (Cruise missiles und Langstrecken-Kampfflugzeuge), während Nato-Mitgliedsstaaten wie Frankreich sich bereit erklären, in Zukunft auch Truppen zu stellen (amerikanische, französische und deutsche «Berater» sind schon lange vor Ort). Damit wächst die Gefahr eines vom Westen provozierten «präventiven» Atomschlags oder auch eines, der aus reinem «Versehen» ausgelöst werden könnte. In jedem Fall würde Europa zum nuklearen Kriegsschauplatz.

  In dieser Situation hätten Länder wie die Schweiz, auch Österreich, deren Unparteilichkeit während Jahrzehnten immer wieder nützliche Konfliktlösungen ermöglicht hat, alle Hände voll zu tun, mitzuhelfen, dass wieder mehr Besinnung einkehrt. Statt dessen tut die offizielle Schweiz alles, was den Säbelrasslern in EU und Nato nützt.

Die Welt brennt
 «und der Kongress tanzt»

Das ist leider mehr als beunruhigend. Es sind heute alle Bestandteile da, welche den Anfang vom Ende ankündigen, das, wovor alle einsichtigen Menschen seit Jahrzehnten warnen, unter anderem auch schon früh und umfassend der in Basel lehrende Philosoph Karl Jaspers, der Deutschland wegen dessen einseitiger Ausrichtung auf die Siegermacht USA nach dem Zweiten Weltkrieg und aus Enttäuschung über seine widerspruchslose Eingliederung in den Kalten Krieg verlassen hat. Er hat in seinem Buch «Die Atombombe und die Zukunft des Menschen» (1958) alles gesagt, was man schon damals denken und voraussehen konnte.
  Angesichts dieser realen Probleme wirkt das Selbstlob und die sachliche Dürftigkeit der Veranstaltung auf dem Bürgenstock peinlich. «Der Kongress tanzt» wurde zum geflügelten Wort über den Wiener Kongress, der die Welt zwischen den Festivitäten allerdings neu ordnete. Auf dem Bürgenstock verdeckte die Eleganz der «hochrangigen» Gesellschaft, wie der Bundesrat in seinem Pressecommuniqué stolz hervorhebt, nur schlecht den lamentablen tatsächlichen Zustand unserer immer noch und immer wieder neu kriegsversehrten Welt. Westliche «Eliten» tanzen weiter unbeirrt auf dem Vulkan, ohne die Eruptionen richtig einzuschätzen.
  Wer sich die Karte Europas ansieht, stellt fest, dass seine Ostgrenze nicht östlich von Kiew endet. Der vom offiziellen Europa bestgehasste Präsident eines sich bisher als europäisch verstehenden Landes hat einen Tag vor der Konferenz auf dem Bürgenstock mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass Russland und Europa schon rein geographisch zur Nachbarschaft verurteilt sind. Wir müssten uns früher oder später einigen. Was er nicht gesagt hat, aber wovor zahlreiche vorurteilslos urteilende Experten seit Beginn des Krieges immer wieder warnten: Sonst bewegen wir uns weiter auf den Abgrund zu. Seit Hiroshima wissen wir, wie der etwa aussehen wird.
  Es gibt für die Schweiz gar keinen anderen Weg als den sofortigen entschiedenen Einsatz für Waffenstillstand und ehrliches Verhandeln mit allen Beteiligten. Vor diesem Hintergrund hat die Schweiz mit ihrem kurzsichtigen Schielen, wie sie «bei den westlichen Grossen» ankommt, einmal mehr eine Chance vertan, statt still und bescheiden, möglichst hinter den Kulissen, dafür aber effizient, für den Frieden zu wirken. Die offiziell begangene Sabotage an diesen in der Vergangenheit in verschiedenen internationalen Konflikten wirksamen «Guten Diensten» der Schweiz durch ihre eigene Führungsetage wirkt immer deutlicher zielgerichtet. Auch wenn unsere gängigen Medien unkritisch mitspielen, müssen wir bei Verstand bleiben. In der Schweiz sind es die Stimmbürger selbst, kein Verfassungsgericht, welche die Einhaltung ihrer Verfassung mit wachem Geist verfolgen und beurteilen müssen. Das setzt Unvoreingenommenheit voraus. Sie scheint bei hohen Verantwortungsträgern unserer höchsten Behörden Mangelware zu werden.

Unweit vom Bürgenstock liegt
 die Rütliwiese – und dazwischen Welten

Der nun innerhalb einer Woche auf der ganzen Welt bekannte Bürgenstock war schon früher ein Highlight der Schweizer Hotellerie. Der Fernblick von dort ist überwältigend, wenn man ihn, geblendet von lauter Medien-Blitzen, überhaupt zu sehen bekommt. Nur wenige Kilometer Luftlinie weiter unten am geschichtsträchtigen Vierwaldstättersee, immer noch im Herzen der Urschweiz, liegt die früher jedem Schweizer Schulkind bekannte Rütliwiese. Wenn man zu Fuss von einer anderen Aussichtsterrasse am Vierwaldstättersee, von Seelisberg, hinunter zu ihr gelangen will, muss man gute Schuhe tragen und etwas fit sein. Der historische Ort wird seit dem 1291 erfolgten Beistands- und Treueschwur der Urschweizer Talschaften gegen ungerechtfertigte Habsburger Ansprüche als Ursprung der schweizerischen «Eid-Genossenschaft» angesehen. Zu dieser Zuordnung trug Schillers weltbekanntes letztes grosses Historiengemälde vor seinem Tod, sein Theaterstück «Wilhelm Tell», entscheidend bei. Dort schwuren sich die Abgesandten der drei Talschaften ewige Treue und Waffenbrüderschaft gegen ungerechtfertigte Machtansprüche (damals des Herrscherhauses Habsburg). Bei Schiller sind die durch frühere Rechtsschriften verbürgten Freiheitsansprüche der Urschweizer und ihr Wille, sie einzufordern, in die, vom Chor feierlich gemeinsam gesprochenen, unsterblichen Worte gefasst: «Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, […] und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.» Den historischen überlieferten Chroniken gemäss lässt der in Jena Geschichte lehrende Historiker Schiller den ursprünglichen Treueschwur der Urschweizer auf eben diesem Rütli stattfinden.1
  In späteren Zeiten, als ähnlich wie heute schleichende Bedrohungen der Schweiz wieder einmal übermächtig erschienen, als ganz Europa rund um die weiterhin noch freie Schweiz Hitler, Mussolini und ihren Strohmännern gehorchen musste, hielt hier auf der Rütliwiese, am 25. Juli 1940, der bei Kriegsausbruch vom Parlament gewählte General der Schweizer Armee, Henri Guisan, seinen entscheidenden «Rütli-Rapport» ab; dies mitten in einer Zeit, als nach dem Zusammenbruch Frankreichs auch in der Schweiz sich Stimmen mehrten, man solle sich geistig stärker der «angebrochenen neuen Zeit» anschliessen. Auch im Schweizer Bundesrat gab es vernehmlich solche Ansichten. In einer kurzen mündlichen Ansprache an die von ihm an diesen bedeutungsvollen Ort kommandierten sämtlichen höheren Offiziere der Schweizer Miliz-Armee verpflichtete Guisan sie zur innerlichen Absage an jedes Anpassertum an die nationalsozialistische deutsche Regierung, zur Bestrafung entsprechender Auswüchse in ihrem Kommandobereich und den unbedingten Gehorsam gegenüber dem schweizerischen Hauptartikel in der Verfassung. Er besagt klipp und klar: Die schweizerische Armee hat die Unabhängigkeit der Schweiz zu schützen. Da ist das Anpassertum an eine seit Jahrzehnten weltweit illegale Kriege führende Noch-Weltmacht ein schlechter Kompass. 
  Der Bürgenstock liegt zwar einige Höhenkurven oberhalb der Rütliwiese und einige Kilometer Luftlinie von ihr getrennt, aber immer noch in der gleichen Landschaft. Man atmet auf dieser freiheitsträchtigen historischen Wiese unten am Urnersee ganz ähnliche Luft wie auf der Bürgenstocker Hotelterrasse. Heute stehen Welten dazwischen.
  Die erfolgreich eingereichte Volksinitiative zur Verankerung der schweizerischen Neutralität in der Verfassung wird Gelegenheit geben, die Debatte über Gründe dafür grundsätzlich zu führen. Sie muss die in den Schweizer Führungsetagen verbreitete Anschluss-Doktrin und ihre wirklichen Motive durchleuchten sowie das, was ihr entgegensteht: dass wir uns reinem Machtdenken nicht anschliessen und unsere bürgerlichen demokratischen Rechte gewahrt und verstärkt sehen wollen – ganz sicher nicht noch mehr geschwächt durch Anpassung an Ansprüche von EU und Nato. Dass bei uns nicht ein Präsident, der sein Parlament nach Lust und Laune nach Hause schicken kann, sondern der Bürger der Souverän ist, wurde durch Jahrhunderte erkämpft. Unsere Volkssouveränität ist dadurch nationales Gut und Erbe, das unser Land prägt. Das ist etwas ganz anderes als je nach Mode ändernde Bauchgefühle.  •



1 Der von gewissen Kreisen immer wieder ins Feld geführte «Gelehrtenstreit» darüber, ob der «Rütlischwur» 1291 so auf der Rütliwiese stattgefunden hat, wie Schiller ihn darstellt, ist müssig. Die materielle Existenz des Bundesbriefes von 1291 und die darin formulierte Ethik solidarischer Beistandspflicht gegen äussere Bedrohung und angemasstes Unrecht stehen ausser Zweifel. Auch dass die Talschaften sich geschlossen an ihre Beistandspflicht hielten, dies ist eine zentrale Grundlage für das Bestehen und Entwickeln der «Eid-Genossenschaft» aus diesen schriftlichen beeidigten Anfängen. Das Original des Bundesbriefs von 1291, fünfhundert Jahre vor der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, liegt neben anderen wichtigen historischen Dokumenten im Schweizerischen Bundesbriefarchiv in Schwyz, wo sie öffentlich zugänglich sind.

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