Ein anderer Weg als Rache …

Zu Colum McCanns Roman «Apeirogon»

von Diana Köhnen

Der 2020 erschienene Roman von Colum McCann «Apeirogon»1 schildert auf berührende Weise den Palästina-Konflikt. Der Roman ist in 1001 Abschnitte gegliedert und lehnt sich damit an Scheherazade an, die in 1001 Kapiteln ihre Geschichte wiedergibt. Jede Nacht eine neue, damit sie am Leben bleibt.2 Colum McCann ruft mit seinem Roman zur Versöhnung der Kriegsparteien auf.

Der Palästinenser Bassam Aramin und der Israeli Rami Elhanan treffen sich im Kreis der «Combatants for Peace»3 zum ersten Mal. Bassams Tochter war 2007 durch ein Gummigeschoss, das ein israelischer Soldat auf sie abgefeuert hatte, getötet worden. Im Krankenhaus, in das sie gebracht worden war, konnte man ihr nicht mehr helfen. Sie starb, ohne dass sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte: «Draussen Aufruhr. Ein Kind auf dem Gehweg. Blaues Kleid. Weisse Baumwollbluse. Ein fehlender Schuh. Niesha kniete sich hin. Sie kannte den Namen des Mädchens. Sie beugte sich vor und fühlte seinen Puls. – Wach auf Abir, wach auf. Schreie ertönten. Eine Menschenmenge drängte sich um Abir. Sie war bewusstlos.» (S. 296f.)
  Smadar, das israelische Mädchen, war bei einem Selbstmordattentat eines Palästinensers ums Leben gekommen. Smadar hatte Ärztin werden wollen. Ihre Eltern waren überzeugt gewesen, dass eine glückliche Zukunft vor ihr lag: «An jenem Tag 1997 sprengten sich drei Selbstmordattentäter in die Luft, mitten auf der Ben-Jehuda-Strasse im Zentrum Jerusalems. Sie töteten acht Menschen – sich selbst und fünf andere, darunter drei Mädchen. Eines dieser Mädchen war unsere Smadar. Es geschah an einem Donnerstag, um drei Uhr nachmittags. Sie wollte Schulbücher kaufen und sich später für einen Jazzdance-Kurs anmelden.» (S. 285)
  Bassams alltägliches Leben wird in der Form einer Ich-Erzählung geschildert. Er war als Jugendlicher verhaftet worden, weil er Steine geworfen hatte. Seine Erlebnisse im Gefängnis werden dem Leser in detaillierten Schilderungen nahegebracht, ebenso die täglichen Demütigungen und Erniedrigungen der Palästinenser durch die Israeli: «Sie zerstören unsere Häuser. Hingenommen. Sie treiben uns wie Vieh durch die Checkpoints. Hingenommen. Sie erklären uns, dass wir für Dinge, die sie kostenlos kriegen, Sondergenehmigungen brauchen. Hingenommen. Doch im Gefängnis fing ich an, über unser Leben nachzudenken, über unsere Identität, was es bedeutet, Araber zu sein, und das brachte mich dazu, mich auch mit den Juden auseinanderzusetzen. Inzwischen wusste ich, dass der Holocaust echt war – es hatte ihn gegeben. Ich dachte anfangs zögerlich darüber nach, dass das israelische Denken und Handeln vermutlich zu einem grossen Teil auf den Holocaust zurückzuführen war, und ich beschloss zu ergründen, wer diese Menschen wirklich waren und was sie erlitten hatten.» (S. 305) In einer Rückblende wird die Geschichte der Nakba, der gewaltsamen Vertreibung von 750 000 Palästinensern von 1948, geschildert und auch von Friedensaktivisten erzählt, die von der eigenen Seite umgebracht wurden.
  Statt den Weg der Rache zu gehen, haben sich die beiden Männer dem Frieden und der Versöhnung verschrieben. Sie halten Vorträge in Israel und in den palästinensischen Gebieten, in Europa, in den USA und in Australien über die Geschichte ihrer Töchter, halten die Erinnerung an sie so am Leben und zeigen gleichzeitig einen Ausweg aus der Spirale der Gewalt auf. Auch Rami Elhanan ist auf Grund seiner Erfahrungen überzeugt, dass es für Israel nur Sicherheit gibt, indem es den Palästinensern Freiheit gewährt und sie mit Respekt behandelt: «Aber ich bin Jude. Ich liebe meine Kultur und mein Volk sehr, und ich weiss, dass es nicht jüdisch ist, Länder zu besetzen, andere zu beherrschen und zu unterdrücken. Jüdisch sein bedeutet, Recht und Anstand zu achten. Kein Volk darf ein anderes unterdrücken und selbst in Sicherheit und Frieden leben. Die Besatzung ist weder gerecht noch tragbar. Und gegen die Besatzung zu sein, hat nichts mit Antisemitismus zu tun.» (S. 296f.)
  Bassam strengt einen Prozess an, in dem der Mörder von Abir angeklagt wird. Er gewinnt diesen Prozess und erhält eine Genugtuungssumme, doch er weiss, dass ihm dies Abir nicht wieder zurückbringt. Ihr Tod begleitet ihn wie ein dunkler Schatten.
  Der Roman hat einen offenen Schluss, er endet mit Bassams Arbeit in seinem Garten und dem Wässern der Klementinen und Pomeranzenbäume. Bassam ist überzeugt, wenn Deutsche und Juden einen Weg zur Versöhnung gefunden haben, so können es auch Palästinenser und Israeli, wenn sie nur wollen.
  Für jeden, der sich für die Hintergründe des Nachostkonflikts interessiert, ist die Lektüre lohnenswert.  •



1 McCann, Colum. Apeirogon, Hamburg 2023. Apeirogon bezeichnet auf Altgriechisch ein Polygon, das über unendlich viele Seiten verfügt. Dieser Begriff steht stellvertretend für die vielen Seiten des Konflikts, die im Buch anschaulich geschildert werden.
2 «Bringt es meine Tochter zurück, wenn ich jemanden töte? Nein». In: Aargauer Zeitung vom 21.10.2023
3 Combatants for Peace ist eine Graswurzelbewegung, die sich in Israel und in den Palästinensischen Gebieten in Form von gewaltlosem Widerstand für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts einsetzt.

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