Durch eine Reihe von Zufällen, die nichts mit dem Zufall zu tun haben – ich glaube nicht an den Zufall –, wurde ich von einem zypriotischen Bekannten in den Kongress des «International Council of Directors of the World Youth Festival (WYF)» eingespannt, dessen Premiere im Mai dieses Jahres in Sotschi mit 25 000 Teilnehmern aus der ganzen Welt stattgefunden hat.
Zweieinhalb Tage lang begleitete ich also gut 100 Vertreter aus ebenso vielen Ländern bei Teambuilding- und Jugendführungsseminaren, unterbrochen von Besuchen an High-Tech-Standorten in der russischen Hauptstadt wie dem aufsehenerregenden Atom-Pavillon des Weltraummuseums Wedankhino und dem Cyberdom-Zentrum, in dem das Beste aus den Bereichen Künstliche Intelligenz und Cybersecurity zusammengeführt wird. Ein Programm, das dem jährlichen Kuratorentreffen der Youth Leaders des WEF, das zur gleichen Zeit in Genf stattfand, in nichts nachstand, wie mir mein junger indischer Nachbar aus Gujarat mitteilte.
Am Tag nach unserem Besuch führte Wladimir Putin, der seinen indischen Amtskollegen Narendra Modi mit grossem Pomp empfing, seinen Gast durch dieselben Räumlichkeiten.
Warum erzählen ich Ihnen von diesen Ereignissen, die auf den ersten Blick nichts Aussergewöhnliches sind?
Weil ich dort eine der schönsten Lektionen der letzten Jahre in Pragmatismus erhielt, während man unserer schrecklich ideologischen Art, die Welt zu sehen, eine fröhliche Nase drehte.
Was unterscheidet das WYF vom WEF?
Was unterscheidet das WYF vom WEF und generell die BRICS-Staaten und den Globalen Süden von den G7 und der OECD? Oberflächlich betrachtet fast nichts, aber im Grunde fast alles.
Mit typisch russischem Timing und Sinn für historische Kontinuität wurde das Cyberdom-Zentrum in einer ehemaligen Fabrik für Wachs- und Postsiegel eingerichtet, die zur Zarenzeit zum Versiegeln von Briefen verwendet wurden. Die roten Backsteinwände sind mit Anthologien sowjetischer Literatur und Videobildschirmen tapeziert, auf denen futuristische Visionen der Cyberbedrohungen gezeigt werden, die gerade dabei sind, den Planeten zu überschwemmen. Das Ganze wirkt wie ein kalifornischer High-Tech-Campus, der von Marx und Dostojewski inspiriert wurde. Ein junger Computerfreak mit langen Haaren und Bart erklärt uns, dass seine Firma Sicherheitslösungen herstellt. Und zwar alle Arten von Lösungen. Offensive und defensive, da ein gutes Schild nicht ohne eine gute Beherrschung des Schwertes denkbar ist, wie Sun Tzu gesagt hätte. Für 500 000 US-Dollar könne er sich in weniger als 15 Minuten in das Handy jeder beliebigen Person auf der Welt hacken, versichert er. Sein Spezialgebiet ist jedoch die Abwehr von Cybereinbrüchen. Alles kann gehackt werden: Fabriken, Krankenhäuser, Skigebiete, Satelliten, Flugzeuge, U-Boote, Schulen, selbstfahrende Autos.
Je nach Bedarf bietet er garantierte, getestete Dienstleistungen für eine Million Dollar und für die sensibelsten für zehn Millionen Dollar an. Das heisst, bevor die Lösung geliefert wird, wird sie einer Prüfung durch die Hackergemeinschaft im Darknet unterzogen, der eine Million bzw. zehn Millionen geboten werden, wenn sie es schaffen, die Lösung zu hacken. Wenn die Lösung den Test besteht, wird sie an den Kunden verkauft, bestätigt der Direktor, der seine Erfahrungen in den Niederlanden und den USA gesammelt hat, bevor er nach Russland zurückkehrte.
Ich schliesse daraus, dass diese Generation von Unternehmern, die mit der Welt verbunden sind und über die Hindernisse auf ihrem Weg lachen, ihre persönlichen Interessen über alles andere stellen. Nicht aus Egoismus, sondern weil sie gelernt haben, der Moral zu misstrauen und dass sich hinter den im vorherrschenden Narrativ so verbreiteten Appellen an das Zusammenleben und das Gemeinwohl Interessen verbergen, die alles andere als altruistisch sind.
Mit anderen Worten: In ihrer Weltsicht muss ein Individuum, eine Nation oder ein Staat in erster Linie für sich selbst handeln und nicht, um die Ambitionen eines Dritten zu befriedigen – sei es eine Person, ein multinationaler Konzern, eine Ideologie oder eine Regierung.
Ablehnung jeder Ideologie
Das Fehlen einer Ideologie war übrigens das, was mir an diesem Treffen am meisten auffiel. Zwar versuchten die russischen Organisatoren, sich in den günstigsten Farben zu präsentieren, da sie sich bewusst waren, dass sie ihre «soft power» zur Geltung bringen mussten. Aber zu keinem Zeitpunkt versuchten sie, eine bestimmte Ideologie oder Weltanschauung zu verkaufen. Ganz im Gegenteil. Jeder wurde aufgefordert, das Beste aus seinem Heimatland oder seiner Heimatregion zu präsentieren.
Ich konnte mich nicht mit jedem der 100Teilnehmer unterhalten, aber unter anderem mit einem philippinischen Serienproduzenten, einem Zentralafrikaner, der sich Sorgen um die Zukunft seines Kontinents macht, einer Seychelloise mit dem Gesicht einer ägyptischen Stele, einer aufgeweckten Psychologin aus Botswana, einer unauffälligen Aserbaidschanerin mit scharfem Blick, einem begeisterten mexikanischen Aktivisten und meinem neuen Freund aus Gujarati.
Keiner von ihnen denkt daran, die Welt zu verändern. Sie zu transformieren. Sie ihren Launen oder den Überzeugungen ihrer Auftraggeber zu unterwerfen. Ganz im Gegensatz zu den jungen Führungskräften des Davoser Forums, die sich in ihrem Jargon «Global Shapers» nennen, d.h. Ausbilder, Gestalter, Transformatoren einer Welt, die sie nach ihren Regeln regieren wollen.
Diese Ablehnung jeder transformativen Ideologie ist in unserer westlichen Vorstellungswelt völlig ungewöhnlich. Wir können uns unser Handeln auf dieser Erde nicht anders vorstellen als eine Umwandlung des Bestehenden in etwas anderes, das ihm vorzuziehen oder überlegen ist. Deshalb ist alles, was wir tun, von einer ständigen Atmosphäre der Bekehrung und des Beitritts zu einer Religion geprägt – der Religion des Liberalismus, des Progressivismus, der Demokratie, des Globalismus –, die ihrem Wesen nach überlegen ist und die man daher anderen uneingeschränkt aufzwingen kann, durch moralischen Zwang und notfalls auch durch Bombengewalt.
Wir akzeptieren den Unterschied nicht als solchen, sondern unter der Bedingung, dass er uns unterworfen wird. Der andere ist uns daher nie gleichgestellt und kann es auch nicht sein. Auf geopolitischer Ebene ist es George Bushs berühmtes «Wenn ihr nicht für uns seid, seid ihr gegen uns», das alle Gewalt, alle Diskriminierungen und alle Inquisitionsprozesse zulässt. Sie müssen nicht nur handeln, sondern auch beweisen, dass Ihre Absicht rein und Ihr Glaube absolut ist.
Je nachdem, ob Sie von der Seite des Guten aufgenommen werden oder nicht, werden Sie gelobt oder gesteinigt. Eine Bombe, die am selben Tag in einem Krankenhaus in Kiew zwei Menschen tötet, wird als unerträglich angesehen, während eine andere, die in Palästina 27 Menschen tötet, unbemerkt bleibt (9. Juli 2024).
Ausserhalb des Westens findet man nichts von diesem Geist. Man wird von Ihnen nicht verlangen, dass Sie ständig Ihren Glauben an Demokratie, Menschenrechte, Multikulti und falsche Inklusion bezeugen. Jeder ist frei zu denken, was er will, wie er will. Deshalb können die Menschen im Westen so schlecht verstehen, warum die Länder des Südens zusammenarbeiten können, obwohl sie scheinbar alles trennt, und warum ein Viktor Orbán gleichzeitig den Konservatismus zu Hause hochhalten und seine Beziehungen zum Kommunisten Xi Jinping pflegen kann. Warum ein Narendra Modi sowohl Wladimir Putin als auch Joe Biden schätzen kann. Warum ein Lula sich mit dem autoritären China wohlfühlt, aber die israelische Demokratie boykottiert, die er als Komplizen einer neuen Apartheid in Palästina ansieht. Und warum ein Mohamed bin Salman sowohl die USA für seine Sicherheit als auch China und den Petro-Yuan für den Verkauf seines Öls umwirbt, während er Putin und Lula auf dem BRICS-Gipfel die Hand schüttelt.
In Moskau fühlte ich mich, so seltsam es Ihnen auch vorkommen mag, nicht im Entweder-Oder, sondern im Und-und. Ich hüte mich davor, den Rest der Welt als Vorbild darzustellen. Aber von Zeit zu Zeit tut dieses Gefühl einfach gut. •
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Guy Mettan ist Journalist und Abgeordneter im Grossen Rat des Kantons Genf, den er 2010 präsi- dierte. Er arbeitete für das «Journal de Genève», Le Temps stratégique, Bilan, «Le Nouveau Quotidien» und später als Direktor und Chefredaktor der «Tribune de Genève». 1996 gründete er den Club Suisse de la Presse, dessen Präsident und späterer Direktor er von 1998 bis 2019 war.
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