Ich weiss es schon: Wenn ich abends nach Hause komme, stehen sie auf dem Dorfplatz. Eine Gruppe von Jugendlichen, die sich dort treffen und unterhalten, meist über ihr Handy gebeugt – manchmal riecht es unangenehm nach Cannabis, Getränkedosen liegen herum. Andere kicken sich auf dem nahen Fussballfeld lässig den Ball zu. Ein Junge und ein Mädchen sitzen etwas abseits, nahe zusammen. Sie alle stecken mitten drin in einer herausfordernden Entwicklungsaufgabe – nicht mehr Kind, aber auch noch nicht erwachsen sein. Mit dem Wunsch, für gross genommen zu werden, aber auch mit einem Zögern, die Verantwortung für anstehende Aufgaben zu übernehmen. Die Grundlagen für diesen Reifeschritt wurden bereits in ihren Kinderjahren gelegt.
Herausfordernde Jahre
Auch für die Eltern ist es keine einfache Aufgabe, ihre Kinder ins Erwachsenenalter zu begleiten. Sie lieben und schätzen ihre Heranwachsenden und wollen das Beste – ein Anspruch, oft verbunden mit der Angst und der Unsicherheit, etwas falsch zu machen. Die Eltern kennen die Situationen (und mögen sie eigentlich nicht), wo sich an kleinen Alltagsproblemen Konflikte entzünden: zu spät nach Hause gekommen, das Zimmer gleicht einem Dschungel, die Frisur oder die Kleidung stört, die Musik zu laut und schliesslich noch das Handy – ein Dauerbrenner. Wo ist das kleine Mädchen, das sich für Pferde interessierte, und der Bub, der den Fussball am liebsten mit ins Bett genommen hätte? Diese Meinungsverschiedenheiten können auch stellvertretend sein für gewichtigere Themen wie Probleme in Schule und Ausbildung, Drogen, erste Liebesbeziehungen und Fragen zur Sexualität, Konflikte mit dem Gesetz usw., die lieber erst dann besprochen werden, wenn es unumgänglich ist. Und heute natürlich in manchen Familien Reizthemen und Anlass zu Diskussionen: Klimakrise, Anliegen von Minderheiten, spezielle Ernährungsvorstellungen, Rassismus und anderes. Doch dazu später!
Ein gemeinsamer Lernprozess
Die Auffassung, das Familienleben mit Jugendlichen bestehe im wesentlichen aus schmerzlichen Spannungen und Streit, lässt sich nach wissenschaftlichen Untersuchungen nicht aufrechterhalten. Wenn Erwachsene aus der Beobachtung auffälliger Jugendlicher auf alle schliessen, machen sie nicht nur eine unzulässige Verallgemeinerung, sondern kreieren neue Probleme. Zwar gibt es in unserer Gesellschaft eine leider wachsende Gruppe von Jugendlichen, die nur schwer mit den Anforderungen des Lebens zurechtkommen und sich in einer Parallelwelt digitaler Medien und unrealistischer Lebensvorstellungen bewegen. Das übergeht jedoch jene vielen Jugendlichen, die sich ihren Aufgaben in Beruf, Familie und Gesellschaft stellen.
Zutreffend ist jedoch, dass in der frühen Adoleszenz die Konflikthäufigkeit mit den Eltern meist zunimmt, sich dann aber wieder reduziert. Entscheidend ist deren Häufigkeit und wie man sie austrägt, denn Reibungsflächen können Wärme erzeugen, aber auch überhitzen …
Beide Seiten, Eltern und Jugendliche, müssen sich also in neue Aufgaben und Lebenszusammenhänge einfinden, Meinungsverschiedenheiten (er)klären und Konflikte lösen lernen, im Bewusstsein dessen, dass sich zwei unterschiedliche Menschen gegenüberstehen: der eine mit viel Lebenserfahrung und dementsprechend einem weiteren Horizont und der andere auf der Suche nach seiner Identität und seinem künftigen Lebensentwurf.
So sind Eltern gefordert, sich mit der nötigen inneren Ruhe und Gelassenheit in die spezielle Gefühls- und Lebenssituation ihrer Kinder einzufühlen. Jugendliche hingegen müssen lernen, Verantwortung zu übernehmen und ihre Vorstellungen und Wünsche gegenüber den Eltern und anderen Erwachsenen fair und unter Berücksichtigung der vereinbarten Regeln auszudiskutieren. Es lohnt sich deshalb, Zeit für die Klärung kleiner alltäglicher Aufregungen aufzuwenden, Diskutierbares wirklich zu diskutieren und klare Spielregeln des Zusammenlebens zu vereinbaren (und mit der nötigen Grosszügigkeit auch einzufordern). So lernen beide Seiten, sich in gegenseitigem Respekt zu begegnen.
Eltern bleiben wichtig
Oft wird den Eltern nahegelegt, in dieser Lebensphase vermehrt Distanz zu ihren Heranwachsenden zu halten, um sie nicht in ihrer Entwicklung einzuengen. Eine falsche Theorie, die sich leider hartnäckig hält. Sie führt dazu, dass Eltern dazu neigen, ihre eigene Bedeutung zu unterschätzen, und es für richtig halten, die Jugendlichen zu früh zu «entlassen». Doch sind Eltern und Familie gerade an der Schwelle zum Erwachsenenleben für die Jugendlichen in besonderem Masse bedeutsam. Sie brauchen auf ihrem Weg der Identitätsfindung und der Beziehung zu den Gleichaltrigen reife Gesprächspartner, die ihnen zur Seite stehen. Bei persönlichen Problemen sind die Eltern nach wie vor die wichtigsten Ansprechpersonen (wenn dies nicht, wie heute leider immer wieder zu beobachten ist, von aussen gestört wird), zum Beispiel, wenn sie ihren Söhnen und Töchtern die Informationen und das Wissen über die Gestaltung von Liebesbeziehungen und Sexualität vermitteln und ihnen auch als Rollenvorbilder dienen, so dass sie nicht vorwiegend auf ihre Peers und fragwürdige Medien zurückgreifen (müssen). Untersuchungen zeigen zudem, dass die Eltern vor allem in politischen Fragen nach wie vor die primären Bezugspersonen sind genauso wie die Lehrer.
Das fordert Mütter oder Väter und andere wichtige Beziehungspersonen in ihrer eigenen Einstellung zum Leben. Nebst falschen Erziehungstheorien kann es auch sein, dass sie bedauern, dass ihre eigene Jugend vorbei ist. Sie identifizieren sich mit ihren heranwachsenden Kindern und träumen davon, ungebunden und in einer Zeit, die freier scheint als die selbst erlebte Jugend, Verpasstes nachzuholen und auf diese Weise einer eigenen vielleicht von Enttäuschung, Leere und Einsamkeit geprägten Lebensstimmung entgegenzuwirken. Es liegt auf der Hand, dass ihnen damit die Ruhe und der Weitblick fehlen, der heranwachsenden Tochter oder dem Sohn die nötigen Leitplanken für die Identitätsbildung zu geben. Für Jugendliche bedeutet das, mit einer Rollenumkehr konfrontiert zu sein, aus der sie nicht das Gefühl entwickeln können, für anstehende Herausforderungen gerüstet zu sein.
Erwachsenwerden –
eine Aufgabe mit Stolpersteinen
Es ist im Alltag kaum zu übersehen, dass Jugendliche (mindestens in unserem westlichen Kulturkreis) einen grossen Teil ihrer Freizeit mit Gleichaltrigen und weniger mit den Eltern verbringen. Oft geht es um gleiche Interessen bei Themen, in denen die Eltern wenig zu Hause sind: Musik, Sport, Mode und die Bestätigung des eigenen Geschmacks. Sie suchen nach Zugehörigkeit zu Peergroups, die ihnen bedeutsam erscheinen und die sich oft durch bestimmte Kleider, Sprachcodes und Verhaltensstile profilieren. Welche Gruppe die Sympathie und das Interesse eines Jugendlichen auf sich zieht, ist kein Zufall, sondern es braucht eine bestimmte Affinität, sich gerade dort anschliessen zu wollen. Diese Suche ist für die Entwicklung eines eigenen Selbstbildes wichtig. Leider verbreiten heute die (Un-)Sozialen Medien geschönte Fotos von Protagonisten, die von der Werbeindustrie als Ikonen eines hedonistischen Lebensstils aufgebaut werden, aber unrealistische Lebensentwürfe vorgaukeln, denen verunsicherte Jugendliche nacheifern und ihre eigenen Stärken nicht mehr sehen und schätzen. So kann ein Gruppendruck entstehen, der problematisch werden kann, wenn bewunderte Zirkel einen gemeinschaftswidrigen, unwürdigen Umgang pflegen oder gar in kriminelle Aktivitäten abgleiten.
Sich in Würde begegnen lernen
Die Erweiterung des sozialen Umfelds und die Gestaltung der Beziehung mit den Gleichaltrigen gehören zu den Entwicklungsaufgaben von jungen Menschen. Peer-Beziehungen sind freiwillig, und wenn man eine solche aufrechterhalten will, braucht es entsprechende soziale Fertigkeiten. Zwar bringen die Jugendlichen Vorerfahrungen aus der Familie und Modelle der Beziehungsgestaltung aus den ersten Schuljahren mit, aber nun müssen sie lernen, sich in einem neuen Kontext zurechtzufinden. Dazu gehört es, die Perspektive des anderen zu übernehmen, zu erkennen, was man auslöst und wie weit man gehen kann, ohne den anderen zu verletzen. Aber auch die eigenen Grenzen klar abzustecken ist wichtig. Darum ist der Weg zu neuen und reiferen Beziehungen zu den gleichaltrigen Jugendlichen beiderlei Geschlechts nicht immer einfach, zumal neu die Intimität in der Beziehung dazu kommt. Diese Aufgaben gut zu bewältigen, ist wichtig für die späteren Lebensaufgaben in den Liebesbeziehungen, der Arbeitswelt und dem gesellschaftlichen Umfeld.
Ein Graben zwischen den Generationen
– ein herbeigeredeter Irrtum
In den Medien wird oft ein nicht überbrückbarer Graben zwischen den Generationen herbeigeredet. Diese irrige Meinung wird durch Sensationsmeldungen über schwerwiegende familiäre Vorkommnisse genährt. Eine Behauptung, die nur schon dadurch entkräftet wird, dass der Übergang vom Kind-Sein zum Erwachsenen in den Familien sehr unterschiedlich verläuft und Konflikt und Abwendung in der Pubertät keineswegs eine Gemeinsamkeit aller Volksgemeinschaften weltweit sind, wie die ethnologische Forschung zeigt.
Hier stehen die inzwischen zahlreichen Beratungsstellen und Lehrpersonen in der Verantwortung, ihre Tätigkeit so auszurichten, dass sie keinen Dissens zwischen Eltern und Jugendlichen herbeiführen oder vertiefen, wenn sich Heranwachsende im Vertrauen und in der Hoffnung auf Lösung von familiären Problemen und persönlichen Unsicherheiten an sie wenden. Sie haben viel in der Hand, umsichtig zu einer echten Klärung der offenen Fragen beizutragen.
Den Durchblick erhalten
Und die Jugendlichen auf dem Dorfplatz? Sind sie schwierig? Sie leben in einer Welt, in der andere Wertvorstellungen an sie herangetragen werden, die von den bisher gültigen stark abweichen. Diese Differenz in den Werthaltungen und Lebensvorstellungen ist in den letzten Jahren noch schärfer geworden. Und das liegt nicht an den Jugendlichen. Oft wird übersehen, dass sogenannt fortschrittliche und brennende Themen und manchmal auch utopische politische Forderungen, die sich auch in Jugendunruhen äussern können, nicht von Heranwachsenden unter 20 Jahren aufgebracht werden, sondern zum politischen oder auch ideologischen Kalkül anderer Kreise gehören, die politisch Einfluss nehmen wollen. Dazu werden Psychotechniken und Propagandamethoden eingesetzt, mit denen Jugendliche angegangen werden – im Wissen um deren entwicklungsbedingte Unsicherheiten. Für Jugendliche ist es anspruchsvoll, sich in unserer von Wertebeliebigkeit geprägten Gesellschaft zu orientieren und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Oft befällt sie ein Gefühl der Verwirrung, der inneren Leere oder Sinnlosigkeit, eine Stimmung, die von den (Un-)Sozialen Medien bewirtschaftet wird. Sie sehen sich in eine Welt hineinwachsen, die von Krieg bedroht ist und in der es schwer ist, menschliche Werte und Ideale zu verwirklichen.
Gerade deshalb ist das familiäre Gespräch um konfliktbeladene Themen wichtig, ohne Überheblichkeit, aber auch ohne den Versuch, sich anzubiedern. Jugendliche müssen und wollen wissen, wie sich ihre Eltern eine Meinung bilden, die sich möglicherweise von der lautstark und medienwirksam verkündeten stark unterscheidet. Damit wird bei ihnen der Boden gelegt, einen fundierten eigenen Standpunkt einzunehmen. Sie können lernen, auch zu durchschauen, wie heute Meinungen gemacht werden und dass die heute stets geforderte Toleranz und Beliebigkeit in Wirklichkeit eher mit Ideologie, Dogmatismus und Machtkalkül zu tun hat. Durch solche Gespräche fühlen sich Jugendliche ernst genommen und gestärkt, und sie sind froh, eine Perspektive zu bekommen, wie sie ihren gleichaltrigen Freunden auf Augenhöhe begegnen können.
Was schon alles da ist –
ein Nachdenken lohnt sich
Viele Eltern haben, vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein, bereits in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder die nötigen Grundsteine gelegt, um ihre Söhne und Töchter vor der Faszination gewisser Gruppierungen und der Beeinflussung durch Manipulation zu schützen. Sie haben ihnen vielerlei Möglichkeiten gezeigt, die Welt zu erforschen und Beziehungen zu gestalten – damit verbunden die Erfahrung, wie man im Gegenwind zu einer eigenen Meinung und einem als positiv erlebten Wertesystem stehen kann. Auch wenn die bisher geltenden familiären Werte bisweilen durch die heranwachsenden Jugendlichen kritisch und vielleicht sogar vehement hinterfragt werden – gerade wenn sie sich von einem aktuell üblichen Meinungsdogma abheben – , so wissen bzw. spüren sie doch und haben es erlebt, «was eigentlich gilt», auch wenn sie das selbstverständlich ihren Eltern gegenüber noch nicht eingestehen würden. •
Folgende Bücher haben mich begleitet:
Alsaker, Françoise und Flammer, August. (2011). Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Die Erschliessung innerer und äusserer Welten im Jugendalter. Bern: Verlag Hans Huber. ISBN 3-356-83572-8
Buchholz-Kaiser, Annemarie. Individualpsychologische Bildungsarbeit – Aspekte der analytischen Bearbeitung von Persönlichkeitsproblemen in Gruppen. Zürich: Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis.
Haidt, Jonathan. (2024). Generation Angst. Hamburg: Rowohlt. ISBN 978-3-498-02836-7
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