Der Freistaat der Drei Bünde und sein Beitrag für die direkte Demokratie in der Schweiz

von Dr. phil. René Roca, Forschungsinstitut direkte Demokratie (www.fidd.ch)

Im «Freistaat der Drei Bünde», das heisst im Gebiet des heutigen Kantons Graubünden einschliesslich der heute italienischen Talschaften Veltlin, Chiavenna und Bormio fand seit dem Spätmittelalter eine Sonderentwicklung im Alpenraum statt. Diese war durch eine komplexe demokratische Struktur geprägt. Sämtliche wichtigen politischen Entscheide wurden durch den Volkswillen in den Gemeinden legitimiert. Damit nahm der Freistaat im damaligen Europa eine Ausnahmestellung ein und leistete – wie andere Kantone auch – einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung und zur Ausbildung der direkten Demokratie in der Schweiz. 2024 wird im Kanton Graubünden unter dem Motto «Drei Bünde fürs Leben» 500 Jahre «Freistaat der Drei Bünde» gefeiert. Vor genau 500 Jahren gab sich der Freistaat erstmals mit einem Bundesbrief eine Verfassung.

Vormoderne
 Demokratie im Bündnerland

Der Freistaat besitzt eine starke naturräumliche Gliederung seines Gebirgs- und Hochlandes. Die rund 150 Täler bewirkten die Aufteilung der Siedlungsgebiete in Talschaften. So vermochten sich seit dem Frühmittelalter regionale Traditionen auszubilden, aber auch Einflüsse von aussen prägten die mittelalterliche Gesellschaft. In einer solchen von der Natur vorgegebenen Kleinräumigkeit waren die Bewohner darauf angewiesen, die anfallenden Probleme im Verband kleiner und kleinster Dorfschaften und Gemeinden selbst zu lösen. Überragend war deshalb die Bedeutung der Genossenschaften, ob im Talboden oder auf den Alpen.
  Die Allmende als Gemeingut war allgegenwärtig und sorgte dafür, dass Alpen, Wälder, Wasser und die Weiden im Eigentum der Gemeinden verblieben. In der Regel war es ein Dorfmeister, der die Arbeiten überwachte und sich dabei auf eine Dorfordnung stützte, die von jeder Nachbarschaft (Gemeinde) selbst festgelegt werden konnte. Auf dieser genossenschaftlichen Grundlage bildeten sich auch Kirchgemeinden, weshalb vom 14. Jahrhundert an von einer Entwicklung von den «Pfarreruntertanen zu den Kirchgenossen» gesprochen werden kann. Diese Tendenz zur Herausbildung von autonomen Kirchgemeinden führte bald zur Eindämmung der bischöflichen Herrschaft. Mit der Zeit erstritten sich die nachbarschaftlich organisierten Kirchgemeinden mehr Mitsprache und wirkten bei der Priesterwahl mit.
  Allgemein kann festgehalten werden, dass im Zuge solcher Entwicklungen die Territorialbildung im Spätmittelalter von kommunalen Bewegungen bestimmt war, welche das Fundament für die politischen Gemeinden und die spätere Demokratisierung legten. In diesem Zusammenhang fand ab dem 13./14. Jahrhundert ein wichtiger soziopolitischer Strukturwandel statt: Da es den Gemeinden gelang, immer mehr grundherrliche Rechte an sich zu ziehen, wurde die feudale Herrschaft über Land und Leute gebrochen. Die hochadeligen Territorialherren mussten vermehrt weichen.
  Die Grundzüge der folgenden Entwicklung waren die rasche Übernahme der adligen Territorialherrschaft durch neue soziale und politische Führungsschichten sowie das selbständige Handeln von (Gerichts-) Gemeinden und deren Zusammenschluss zu frühstaatlichen Gebilden. Die Gemeinden und Gerichtsgemeinden bildeten mit der Zeit ein Bündnissystem, das von einer starken Dezentralisierung geprägt war. Im 14./15. Jahrhundert bildeten sich so drei Bündnisse, deren Basis gemeinsame Werte wie Unabhängigkeit und demokratische Strukturen darstellten und die nicht genealogisch definiert waren. Der einheimische Adel wurde in vielen Fällen nicht vollständig verdrängt, sondern schloss sich mit den freien Bauern und Bürgern zu Bündnissen zusammen.
  Auf diese Weise entstand auf dem heutigen Territorium Graubündens der «Freistaat der Drei Bünde». 1367 wurde der «Gotteshausbund» gegründet. Der Bund war gegen den amtierenden Bischof gerichtet, um drohende Gefahren wie den Ausverkauf von Grundrechten an Österreich abzuwenden. Das Domkapitel, die Talgemeinden, die Churer Bürger und die Dienstleute schlossen sich so gewissermassen zu einer Notgemeinschaft zusammen und erlangten namhaften Einfluss auf die Verwaltung des Bistums Chur. Der Bund beinhaltete ausdrücklich das Mitspracherecht der Talgemeinden, die dann in der Folge immer deutlicher als Träger der politischen Macht hervortraten und die bischöfliche Macht zunehmend aushöhlten. Im «Oberen» oder «Grauen Bund» von 1395, der 1424, also vor 600 Jahren, neu organisiert wurde, schlossen sich der Abt von Disentis, der Freiherr von Rhäzüns sowie der Graf von Sax-Misox mit den Talgemeinden zusammen, um den Landfrieden, die Verkehrswege und damit die wirtschaftliche Prosperität zu sichern. Die Gemeinden des Grauen Bundes erlangten so gegenüber den drei genannten Hauptherren eine erhebliche Mitsprache. Der «Zehngerichtenbund», 1436 gegründet, fusste auf dem Zusammenschluss von zehn Gerichtsgemeinden (das sind Gemeinden, die sich selbst aus mehreren Nachbarschaften/Gemeinden zusammensetzten). Der Bund vereinigte die rätischen Landschaften aus der Toggenburger Erbschaft, die einander Beistand gelobten, um so willkürlicher Behandlung durch verschiedene Erben besser begegnen zu können.
  Der Freistaat war somit in sich ein sehr lockeres Staatsgebilde, und jeder der drei Bünde, die sich, wie gezeigt, in der Entstehung, aber auch in der Sprache und der Religion unterschieden, war ein ebenso loser Staatenbund wie der ganze Freistaat. In jedem der drei Bünde gaben andere Familien den Ton an. Dadurch kam es immer wieder vor, dass nicht alle am gleichen Strick zogen, insbesondere während der «Bündner Wirren» im 17. Jahrhundert. Aber wie in der übrigen Eidgenossenschaft seit dem ersten Bundesbrief von 1291 sorgte man auch im Freistaat immer wieder für den nötigen Ausgleich. In diesem Sinne definierte man Hilfspflichten, und es entstanden Schiedsgerichte sowie Satzungen für die Kriegsführung. Die Staatsorganisation, die so entstand, kann man als vormoderne Demokratie bezeichnen. Obwohl aristokratische Tendenzen bestanden, kam es zu keiner Clanbildung mit Abschottungstendenzen.
  Um den Zusammenhalt im Freistaat zu stärken, führte man sogenannte «Bundstage» (Bundestage) ein, die vergleichbar mit den Tagsatzungen auf eidgenössischer Ebene waren. Von 1524 bis 1797 war der Freistaat ein Zugewandter Ort der Eidgenossenschaft, ausgestattet mit einem Soldvertrag mit Frankreich. Von 1512 bis 1797 gehörten zudem das Veltlin und die Grafschaften Chiavenna und Bormio als Untertanengebiete zum Dreibündestaat.

Gerichtsgemeinden und Bundstag –
 Freistaat statt Feudalherrschaft

Die «Gerichtsgemeinden» waren im Freistaat der Drei Bünde vom 16. bis 18. Jahrhundert souveräne Staatsgebilde. Sie entstanden aus den ursprünglich grundherrlichen Gerichtsbezirken der niederen Gerichtsbarkeit. Das hiess konkret, dass die Rechte des Feudaladels und später auch die hohe Gerichtsbarkeit im Rahmen der Kommunalisierung auf das gemeine Volk übergingen, will heissen, es fand ein Umbau der feudalen Gesellschaft von unten nach oben statt.
  Die Gerichtsgemeinden selbst bestanden aus mehreren Nachbarschaften (Gemeinden), die ihrerseits autonome Wirtschaftsgenossenschaften darstellten und häufig mit den Kirchgemeinden identisch waren. Die Gerichtsgemeinden tagten in der Regel als Landsgemeinde. Die grosse räumliche Ausdehnung des Freistaates verhinderte eine gemeinsame Landsgemeinde. Die seit dem 13./14. Jahrhundert bestehende Institution der Landsgemeinde in den Urkantonen Zug, Glarus und den beiden Appenzell war Vorbild, wurde zwar angepasst, das Prinzip war für die Gerichtsgemeinden aber dasselbe: Eine souveräne Versammlung der stimmfähigen Männer nahm alle Wahlen vor und fasste die wichtigsten Beschlüsse. Die Gesetzgebung war im Freistaat zum weitaus grössten Teil den Gerichtsgemeinden überlassen. Alle Versuche, das Zivil- und Strafrecht zu vereinheitlichen, scheiterten.
  Die moderne Gewaltenteilung existierte noch nicht. Im Freistaat des 16. Jahrhunderts existierten rund 50 Gerichtsgemeinden. Die Zahl der Gerichtsgemeinden blieb während der Jahrhunderte, in denen der Dreibündestaat Bestand hatte, allerdings nicht stabil. Wenn zwei oder mehr Gerichtsgemeinden untereinander Streit bekamen, hatten sie sich an eine andere am Streit nicht beteiligte Gerichtsgemeinde zu wenden, die dann als Schiedsrichter auftrat.
  Der lose Staatenbund des Freistaates als Ganzes kannte keine gemeinsamen Behörden, keine gemeinsame Rechtsprechung und keine gemeinsame Kasse. Nur Krieg und Frieden, Aussenpolitik und die Verwaltung der Untertanenlande überliess man dem Bundstag, der obersten Behörde des Freistaates. Die Gerichtsgemeinden wirkten aber bei diesen Fragen durch das Referendum immer mit, also über Beginn und Ende eines Krieges, über das Mannschaftsaufgebot zur Bewachung der Grenzen sowie über die Zahl der aufzubietenden Truppen. Die Gerichtsgemeinden beteiligten sich auch am Abschluss von Staatsverträgen.
  Die Bezeichnung «Bundstag» taucht erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf. Einerseits gab es Bundstage der einzelnen Bünde, andererseits den allgemeinen Bundstag aller drei Bünde. Träger der Souveränität war dabei nicht das Staatsvolk an sich, sondern die Gesamtheit der Gerichtsgemeinden. Die Mehrheit der Gemeindestimmen entschied. Bundstage fanden jährlich ein- bis zweimal statt. Die Tagungsorte waren nach einem bestimmten Turnus Ilanz, Chur und Davos als «Hauptorte» der drei Bünde.

Ilanz als politisch-religiöser Brennpunkt

In Ilanz wurden von 1524 bis 1526 wichtige Entscheide des Freistaates gefällt. Am 4. April 1524 beschloss ein Bundstag der Drei Bünde die «Ersten Ilanzer Artikel», das heisst das erste von allen drei Bünden beschlossene Landesrecht. Die politische Entmachtung von weltlichen und geistlichen Feudalherren wurde so fortgesetzt und demokratische Strukturen wurden gestärkt. Diese Entwicklung wurde noch radikaler mit den «Zweiten Ilanzer Artikeln» von 1526 unterstrichen.
  Der Erlass der Ersten Ilanzer Artikel hatte zur Folge, dass sich am 23. September 1524, also vor 500 Jahren, die Drei Bünde anlässlich eines Bundstages in Ilanz mit einem Bundsbrief die erste gemeinsame Verfassung gaben. Dieser erste Bundesbrief stellt heute den eigentlichen Jubiläumsanlass dar. Ziel und Zweck des Bundesbriefes war der von allen abverlangte Eid, dass man im Freistaat «Frieden, Schutz und Ruhe» bewahren wolle. Der Prozess des inneren Zusammenhalts und der Eigenstaatlichkeit als souveränes republikanisches Staatswesen wurde damit entscheidend gestärkt. Mit diesen radikalen Eingriffen in die bisherige Ordnung erhielt der Dreibündestaat eine Form, die er bis zur Helvetik 1798 beibehielt (und darüber hinaus in modifizierter Form bis 1854).

Gemeindereferendum
 («altbündnerisches Referendum»)

Jeder Beschluss des Bundstags, der über die Ausführung bestehender Normen und Weisungen der Gemeinden hinausging, unterlag dem Gemeindereferendum. Das «altbündnerische Referendum» war ein föderatives, obligatorisches Gemeindereferendum, bei dem die einzelnen Gliedstaaten, also die Gerichtsgemeinden, bei der Meinungsbildung des Gesamt-staates mitwirkten. Dabei zählten, wie gesagt, die Stimmen der Gemeinden und nicht die Stimmen der einzelnen Personen. Im Grundsatz war jeder männliche Bürger ab 14 oder 16 Jahren wahlberechtigt und stimmfähig. Gesetzliche Vorrechte von Familien gab es nicht, allerdings reichere und angesehene Familien, die sich Einfluss auf die Wahlen verschaffen konnten. Von einer Aristokratisierung oder Oligarchisierung wie in anderen Teilen der Eidgenossenschaft kann aber nicht gesprochen werden.
  Inhaltlich behandelten die Referenden neben wichtigen staatlichen Grundlagen durchaus auch Bagatellen. Zentral war aber, dass die auswärtige Politik des Freistaates grundsätzlich Sache des Gesamtstaates und deshalb dem Referendum, also der Teilnahme der Gerichtsgemeinden, unterstellt war. Die inneren Staatsangelegenheiten, etwa die allgemeine Gesetzgebung, erledigten die Gerichtsgemeinden meistens im Rahmen einer Landsgemeinde selbst, entsprechend die einzelnen Nachbarschaften (Gemeinden) ihre Geschäfte mittels Gemeindeversammlung.
  Das Resultat eines Gemeindereferendums wurde im Rahmen einer Gerichtsgemeinde oder eines Bundstages jeweils geschätzt, also nicht einzeln ausgezählt. Die Behörde, die das Resultat schätzte oder «mehrte», waren für die einzelnen Gerichtsgemeinden der Landammann und für einen Bundstag die «Drei Häupter» der Drei Bünde. Dies geschah eventuell mit Zuzug von weiteren Personen. Das sogenannte «Mehren» der Drei Häupter war ein schwieriger Akt, denn schon das Gemeindevotum war ja oft eine «geschätzte Mehrheit». Ein Grundsatzproblem war – eine zusätzliche Besonderheit in diesem politischen Prozess –, dass bezüglich der Antworten der Gerichtsgemeinden viele nicht bloss ja oder nein sagten, sondern längere oder kürzere «Gutachten» verfassten. Es bestand nämlich die Möglichkeit, einer Vorlage nur bedingt zuzustimmen oder diese nur bedingt abzulehnen, zum Beispiel, indem man einzelne Artikel abänderte. Ein solches Vorschlagsrecht zur Abänderung der Vorlage bestand explizit, also kann man hier bereits von einer Art Initiativrecht der Gerichts-gemeinden sprechen. Es oblag schliesslich den «Häuptern», in einem Akt des Mehrens diese vielfältigen Meinungsäusserungen zu sortieren und auf dieser Grundlage einen «Mehrheitswillen» zu eruieren. Der Vollzug der Entscheide oblag jeweils den Gerichtsgemeinden, der Freistaat selbst besass keine Handhabe zur Durchsetzung der Beschlüsse.
  Das altbündnerische Referendum übertrug den Gerichtsgemeinden und deren Bevölkerung eine Mitverantwortung für das Gemeinwohl. Diese ausgedehnte Beteiligung des Volkes an allen öffentlichen Dingen stellte ein politisches Erziehungsmittel ersten Ranges dar. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Entscheide von grosser Tragweite und Komplexität an Gemeindeversammlungen und anlässlich von Landsgemeinden diskutiert wurden. Die Menschen eigneten sich so auf der Grundlage gemeinsamer Werte politisch-rechtliches Grundwissen an, trotz Lücken in der Schulbildung. Die noch erhaltenen Antworten der Gemeinden auf erfolgte Anfragen zeugen denn auch von einer überraschenden Sicherheit und Reife des Urteils.

Impulse für die
 direkte Demokratie in der Schweiz

Das altbündnerische Gemeindereferendum war zweifellos ein Vorläufer des modernen Referendums in der Schweiz. Es wird ab 1830 in diversen zeitgenössischen Quellen immer wieder als Vorbild und Inspiration für direktdemokratische Instrumente auf Kantonsebene genannt. In diesem Sinne kann festgehalten werden, dass der Kanton Graubünden seit dem Spätmittelalter respektive der Frühen Neuzeit ein «Labor» zur Förderung der politischen Partizipation und zur Entwicklung der Demokratie in der Schweiz war. Dabei war das «altbündnerische Referendum» als föderatives Referendum ein zentraler Bezugspunkt und Vorbild zur Konstituierung des Gesetzesvetos und des Referendums im 19. Jahrhundert, also der modernen direkten Demokratie in der Schweiz.
  Der Kanton Graubünden zeigt mit seiner Geschichte eindrücklich, wie es gelang, das genossenschaftliche Prinzip auszugestalten. Die Helvetische Republik machte von 1799 bis 1803 aus dem Freistaat den Kanton Rätien, der schliesslich 1803 zu einem gleichberechtigten Kanton der Eidgenossenschaft wurde, der viel demokratisches Wissen einbringen konnte.  •

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