von Dr. iur. Marianne Wüthrich
Mitten in den Sommerferien erwacht die Schweiz aus dem Dämmerzustand des Informationslochs zur Neuauflage des Rahmenabkommens Schweiz-EU, das der damalige Bundesrat im Mai 2021 mit Recht gestoppt hatte. Seit dem November 2023 ist der Bundesrat wieder mit Brüssel «im Dialog». Was es konkret zu verhandeln gibt, steht allerdings in den Sternen, hat doch die EU mit ihrem «Common Understanding» längst den Tarif durchgegeben, den die Schweiz höchstens mit ein paar Pflästerchen dekorieren kann.1
Nun fühlt sich der neu gewählte SP-Bundesrat Beat Jans offenbar befugt, aus dem Kollegialprinzip des Siebnergremiums auszubrechen und seine Werbetrommel für die sogenannten «Bilateralen III» zu schlagen, bevor überhaupt der Vertragstext bekannt ist. Und die «Neue Zürcher Zeitung» breitet ihm doch tatsächlich den Teppich dafür aus.2 Erfreulicherweise stösst er auf einigen Gegenwind.
Wir ersparen unseren Lesern das Wiederkäuen von Jans’ verharmlosenden Gutenachtgeschichten über die Grundpflöcke des Rahmenabkommens (Rechtsübernahme, Gerichtsbarkeit, angebliche Rechtssicherheit), die durch häufige Wiederholung nicht wahrer werden. Lieber geben wir das Wort einigen Gegenrednern mit klarem Schweizer Standpunkt: alt Bundesrat Ueli Maurer, Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel und dem Demokratieaktivisten Daniel Graf.
Alt Bundesrat Ueli Maurer:
«In der Schweiz geht es immer
um die Souveränität des Volkes»
Ueli Maurers Warnung fährt einem in die Knochen: Jans’ Artikel lasse «sämtliche Alarmglokken läuten». Offenbar wolle der Bundesrat trotz unveränderter Ausgangslage und ungelösten Fragen im institutionellen Teil «die EU-Forderungen, die immer bestritten waren, übernehmen». Dieser Paradigmenwechsel «gefährdet auch die Unabhängigkeit der Schweiz».3
Peinlicherweise muss alt Bundesrat Maurer dem derzeitigen Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) staatsrechtliche Nachhilfestunden erteilen. Jans’ kühne Behauptung, durch das Rahmenabkommen mit Brüssel werde die Souveränität der Schweiz gestärkt, kontert Ueli Maurer mit den Worten: «Das ist schon fast eine bösartige Verzerrung der Fakten. Wie soll die Souveränität, die Selbstbestimmung der Schweizerinnen und Schweizer, gestärkt werden, wenn Entscheidungen statt bei uns in Brüssel gefällt werden? Mag sein, dass es für Beamte und Bundesräte einfacher ist, Brüsseler Entscheide durchzuwinken, statt Volksentscheide in der EU zu vertreten. Aber in der Schweiz geht es immer um die Souveränität des Volkes, nicht um die Bequemlichkeit und Souveränität der Behörden.»
Verträge auf Augenhöhe
Auch die ewig gleich idiotische Behauptung, die Gegner des Rahmenvertrags würden «den Alleingang preisen», erspart uns Beat Jans nicht. Jeder, der es ehrlich meint, weiss, dass von Alleingang nicht die Rede sein kann, liegt doch die Schweiz bekanntlich mitten in Europa und war als Land mit vier Sprachkulturen seit jeher mit ihren Nachbarn und weit darüber hinaus in regem Austausch. Klar brauchen wir Fachleute aus dem Ausland. Aber nicht in unbegrenzter Zahl, wie von Brüssel gefordert und von Jans und anderen Schweizer Politikern in unverantwortlicherweise unterstützt. Und klar profitiert die Schweiz vom EU-Binnenmarkt – und umgekehrt. Aber ein Vertrag der Schweiz mit der EU oder mit wem auch immer muss unsere vitalen Interessen wahren, sonst gehört er in den Papierkorb. Aufgabe des Bundesrates ist es, dies unserer Bundesverwaltung und den Bürokraten in Brüssel zu erklären.
Ueli Maurer, der leider 2022 zurückgetreten ist, war ein solcher Bundesrat. Vor dem 1. August mahnt er: «Unser Nationalfeiertag ist nicht der Tag der Selbstaufgabe, sondern der Anlass, die Freiheit und Unabhängigkeit zu stärken.» Maurer erinnert daran, wieviel die Schweiz der EU zu bieten hat, besonders bei der Zuwanderung und im Güterverkehr, und fordert Verhandlungen von gleich zu gleich: «Selbstverständlich braucht es mit der EU Regeln für den Austausch. Die Schweiz beweist das auch täglich. Hunderttausende EU-Bürgerinnen und -Bürger kommen täglich in die Schweiz und verdienen hier ihren Lebensunterhalt. Hunderttausende leben bei uns, fühlen sich wohl und bleiben. Dieser ungesteuerte Sog braucht Leitplanken. Der grosse Teil des Nord-Süd-Verkehrs, einer Lebensader der EU-Wirtschaft, läuft über Strassen und Schienen der Schweiz. Wir haben dafür Milliarden investiert. Was wir erwarten, sind Gespräche und Lösungen auf Augenhöhe, nicht eine Unterwerfung unter EU-Recht und EU-Richter.»
Damoklesschwert der Sanktionen
Daniel Graf ist ein sogenannter Schweizer «Politaktivist», der jahrelang über die Internetplattform «We collect» Unterschriftensammlungen für Initiativen und Referenden mit Rat und Tat unterstützt hat, bisher vor allem linksgefederte. Heute setzt er sein Engagement in der «Stiftung für direkte Demokratie» fort. Kürzlich hat sich Graf in der Tagespresse deutsch und deutlich zur Gefährdung der direkten Demokratie durch die Neuauflage des Rahmenabkommens mit Brüssel verlauten lassen. Das hat ihm einige Kritik eingebracht, aber Graf nimmt es gelassen: «Wer sich für die direkte Demokratie engagiert, darf keinen Applaus von den Parteien erwarten.» Eine wichtige Stimme, gerade weil sie von links kommt.4
Der innerstaatliche Entscheidungsprozess verändere sich angeblich mit der dynamischen Rechtsübernahme nicht, behaupten EU-Turbos wie Nationalrat Roger Nordmann (SP), Präsident der (neuen) europäischen Bewegung Schweiz (Nebs). Daniel Graf widerspricht: «Auf dem Papier mag das stimmen. In der Praxis ist das aber schlicht falsch. Natürlich können wir nach wie vor Referenden ergreifen und Initiativen starten. […] Es gibt aber das Damoklesschwert der Sanktionen beim Abkommen. Sie sind eine sehr grosse Hypothek, um ein Referendum zu gewinnen.» Als Beispiel nennt Graf das Referendum gegen die «Weiterentwicklung der europäischen Grenzwache Frontex»: «Beim Schengen-Abkommen gilt die dynamische Rechtsübernahme. Die Frontex-Befürworter argumentierten vor allem damit, die Schweiz verliere bei einem Ja [zum Referendum, das heisst einem Nein zu Frontex, mw] die Schengen-Mitgliedschaft. Das zeigt, wie sich die Diskussionen verändern werden: Es geht nicht mehr um Inhalt, sondern um Sanktionen.»
Für ein obligatorisches
Referendum mit Ständemehr
Auch in einem weiteren Punkt hebt sich Daniel Grafs Demokratie- und Föderalismusverständnis positiv von dem vieler linker Kollegen ab. Wie viele andere Bürger und auch einige selbstdenkende Staatsrechtler ist er der Meinung, bei der Frage, wie die Schweiz künftig mit der EU verbunden sei, mache eine hohe Hürde Sinn: «Es soll allen klar sein, dass dieser Entscheid die Schweiz und ihr föderales System beeinflusst. Wir sprechen uns deshalb klar für das obligatorische Referendum aus – mit Ständemehr.» Graf fügt hinzu: «Die Frage der direkten Demokratie wird aber sowohl beim obligatorischen wie beim fakultativen Referendum matchentscheidend sein.» Will heissen, dass das Schweizervolk auch mit dem fakultativen Referendum nein sagen wird zur eigenen Entmachtung als Souverän. Für dieses Nein gilt es sich einzusetzen.
Lobbying in Brüssel statt
Schweizer Vernehmlassung?
Daniel Graf: «Schweizer Demokratie […] beginnt nicht bei Referendum und Initiative. Sondern bei der Vernehmlassung. Sie ist das Herzstück: Alle Interessengruppen, welche eine Vorlage von Anfang an beeinflussen wollen, beteiligen sich daran.» Neben der schriftlichen Stellungnahme in der Vernehmlassung treten Verbände und Organisationen, aber auch Wirtschaftskonzerne ausserdem fleissig direkt im Bundeshaus mit den Parlamentariern in Kontakt. Offenbar bringt sich auch Daniel Grafs Organisation je nach Thema dort in die Diskussion ein.
Lobbying in Brüssel ist nicht nur wegen des Grössenunterschieds ganz anders gestrickt als der Wandelhallen-Lobbyismus im Bundeshaus: EU-Bürokratie und Schweizer Staatsgefüge sind nun einmal zwei Paar Schuhe.
Im Hinblick auf einen allfälligen Rahmenvertrag mit der EU wirft Graf mit Recht das Problem auf, dass viele Schweizer Organisationen ins Hintertreffen kämen, wenn sie sich in Brüssel Gehör verschaffen wollten: «Kleinere zivilgesellschaftliche Organisationen, die Themen wie Verkehr, Umweltschutz oder Fragen von Menschen mit Behinderungen bearbeiten, stossen finanziell an Grenzen. Lobbying in Brüssel ist noch viel aufwendiger als in Bern. Wer grosse Ressourcen hat, kann seine Interessen leichter schon auf europäischer Ebene durchsetzen. Das ist mit ein Grund, weshalb in Europa Wirtschafts- und Konzerninteressen sehr stark sind.»
Hier wird überdeutlich, warum Schweizer Wirtschaftsverbände wie economiesuisse und Swissmem «ums Verrode» einen für unser Land und unsere Bevölkerung in jeder Beziehung ungünstigen Rahmenvertrag mit der EU durchsetzen wollen, obwohl es der Schweizer Wirtschaft dank unserer relativen Unabhängigkeit bekanntermassen viel besser geht als den schwächelnden Unternehmen in der EU. Nur damit sie ein paar Formulare weniger ausfüllen müssen? Verzell du das em Fährimaa! Jetzt hat’s geschaltet: Die von economiesuisse vertretenen Schweizer Grosskonzerne, die ihre Filialen ohnehin längst in der EU untergebracht haben, könnten mit einer Schweiz als Quasi-Mitglied direkt am Brüsseler Kuchen andocken, aber gleichzeitig weiter am gut aufgestellten Schweizer Wirtschaftsplatz teilhaben. De Füfer und ’sWeggli. Schweizer Souveränität hin oder her. Es ist tröstlich, dass die Inhaber und Mitarbeiter der über neunzig Prozent Schweizer KMU in ihrer grossen Mehrheit anders ticken. Und es gibt Unternehmensverbände wie Kompass/Europa, deren Mitglieder das Herz noch am rechten Schweizer Fleck haben und ihren Mitbürgern erklären, «Warum wir keinen Rahmenvertrag 2.0 brauchen.»5 •
1 siehe «Verhandlungen Schweiz-EU – bekannte Inhalte in neuer Verpackung». In: Zeit-Fragen Nr. 24 vom 14.11.2023
2 Jans, Beat. «Warum wir die Bilateralen III brauchen». In: Neue Zürcher Zeitung vom 23.7.2024
3 Maurer, Ueli. «Ueli Maurer kritisiert Beat Jans: Berns EU-Kurs muss gestoppt werden». In: Neue Zürcher Zeitung vom 26.7.2024
4 von Matt, Othmar. «Niemand will die Katze im Sack kaufen». Interview mit Daniel Graf. In: Aargauer Zeitung vom 8.7.2024
5 Erni, Marcel/Erzinger, Philip. «Warum wir keinen Rahmenvertrag 2.0 brauchen.» https://kompasseuropa.ch/wp-content/uploads/2024/07/20240225-Replik-NZZ-BR-Jans.pdf
mw. Schon der Titel von Beat Jans Artikel in der NZZ, «Warum wir die Bilateralen III brauchen», sei ein Wortbetrug, so Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel. Was der EU vorschwebe, sei vielmehr ein Ende der Bilateralen. «Aber weil ‹die Bilateralen› im kollektiven Unterbewusstsein der Schweizer Bevölkerung positiv behaftet sind, reiten unsere Politiker auf diesem Begriff herum, obwohl er gar nicht mehr passend ist. Bilateral heisst zweiseitig, auf Augenhöhe.» Die EU dagegen wolle etwas ganz anderes: «Wir erlassen die Gesetze, wir stellen die Richter, wir können sanktionieren. Herr und Knecht, EU und Schweiz. Das ist nicht bilateral, das ist kolonial. Von oben nach unten, nicht mehr gleichberechtigt.»
Mehr Souveränität
mit dem Rahmenvertrag?
«Nein, die Schweiz wird nicht souveräner, sie wird weniger souverän. Vor allem der Souverän wird weniger souverän, Sie, meine Damen und Herren. Ihnen werden die Stimmrechte abgezwackt, nach Brüssel verschoben, zu ungewählten Funktionären, zu den von der Leyens dieser Welt. Möchten Sie das? Glauben Sie im Ernst, dass eine Frau von der Leyen besser weiss, was der Schweiz frommt, als die Schweizerinnen und Schweizer selbst?»
Quelle: Köppel, Roger.
Weltwoche daily vom 23.7.2024
mw. Die Vernehmlassung ist eine Besonderheit des Gesetzgebungsverfahrens in der direktdemokratischen Schweiz. Bevor der Bundesrat einen Verfassungs- oder Gesetzesentwurf an den National- und Ständerat schickt, holt er die Meinungen aller interessierten Organisationen ein. Die Kantone, die politischen Parteien, die Verbände der Gemeinden, Städte und Berggebiete, die Wirtschaftsverbände sowie weitere, im Einzelfall interessierte Kreise werden vom Bundesrat eingeladen, schriftlich zur Vorlage Stellung zu nehmen. «Auch wer nicht zum Vernehmlassungsverfahren eingeladen wird, kann sich zu einer Vorlage äussern.»1 Die Vernehmlassung ist übrigens auch eine Möglichkeit für Einzelpersonen und Bürgergruppen, sich einzubringen.
Wie gross die Akzeptanz einer Vorlage in weiten Bevölkerungskreisen ist, kommt in den Vernehmlassungsantworten (die jeweils einzeln und als zusammenfassender Bericht im Internet abrufbar sind) schon vor der Parlamentsdebatte zum Ausdruck. Um nicht Verfassungsänderungen oder Gesetze zu verabschieden, die in einer Volksabstimmung chancenlos wären, werden sie im Parlament oft entsprechend abgeändert oder manchmal als Ganzes abgelehnt.
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