Revision der Geschichte als Strategie zur Kriegsvorbereitung

von Ralph Bosshard*

Es gibt auf der ganzen Welt Leute, die gerne über Dinge sprechen und schreiben, von denen sie eigentlich keinerlei Ahnung haben. Solche Leute machen in der Regel Karriere in Politik und Journalismus. Aktuell schreiben sie am liebsten über den Krieg im Donbass. Sie kennen zwar weder Russland noch die Ukraine, noch Krieg, aber das hält sie nicht davon ab, ihre Überzeugungen dazu zu verbreiten. Fakten empfinden sie als Belästigung.
  Seit meiner Entlassung aus der Schweizer Armee befasse ich mich mit zwei Themen: militärische Operationen und Geschichte. Die Planung militärischer Operationen war während fünf Jahren meine Arbeit als Chef der Operationsplanung der Schweizer Armee gewesen. Die hierfür notwendige Ausbildung bei der Schweizer Armee und bei der Nato war schwach, diejenige an der Militärakademie des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation in Moskau im Vergleich dazu erheblich besser. Zum Schluss meiner Berufstätigkeit in der Schweizer Armee habe ich Operationsplanung noch ausgebildet, im Stab für Operative Schulung. Ich weiss, wovon ich spreche, wenn ich den Begriff der militärischen Operation verwende. Geschichtswissenschaft habe ich an der Universität Zürich gelernt. Zusammengefasst: Im Bereich Militärgeschichte bin ich ein Profi.

Revisionistischer Unsinn

Und seit ich mich wieder mit Militärgeschichte befasse, werde ich zunehmend mit revisionistischen Theorien über den Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Die sowjetischen Partisanen seien militärisch wertlos gewesen, sagte man mir kürzlich, sie seien ein Haufen aus Deserteuren und Kriminellen gewesen, gefährlicher für die Zivilbevölkerung in Belarus als für die deutschen Besatzer. Die Geschichtsschreibung über sie sei eine Mischung aus sowjetischer Propaganda und Romantik. Mit den sowjetischen Partisanen habe ich mich daraufhin beschäftigt und kam zum Schluss, dass sie ab Sommer 1943 durchaus effektiv waren, mindestens so wirkungsvoll wie die französische Résistance1.
  Die estnischen Angehörigen der Waffen-SS seien Freiheitskämpfer für die Unabhängigkeit Estlands von der Sowjetunion gewesen, sagte vor Jahren einmal die Ständige Vertreterin Estlands bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Wien, wo ich sechs Jahre lang arbeitete. Es sei unschön, dass sie dabei die schwarze Uniform der SS getragen hätten, aber trotzdem seien sie Freiheitskämpfer gewesen. Als ich das damals hörte, war ich überrascht: Ich hatte bislang die Waffen-SS nicht mit Freiheitskampf in Verbindung gebracht.
  Bestens erinnere ich mich auch noch an einen älteren Herrn in Österreich, der behauptete, die deutsche Wehrmacht – von ihren europäischen Verbündeten sprach er nicht – sei am 22. Juni 1941 einem sowjetischen Überfall auf Westeuropa zuvorgekommen und habe einen Präventivkrieg geführt.2 Aha, dachte ich, der Mann will mir wohl einreden, dass der deutsche Überfall ein Akt legitimer Selbstverteidigung des nationalsozialistischen Dritten Reichs gegen die Sowjetunion gewesen sei. Da ist die Theorie, wonach die Nazis in der Sowjetunion für Westeuropa gegen den Bolschewismus gekämpft hätten, nicht mehr weit. Diese Theorie hatte mir vor Jahren ein junger Mann in einem Buchladen im Zentrum von Kiew zu erklären versucht – und wollte mir bei dieser Gelegenheit auch ein Portraitbild von Adolf Hitler verkaufen. Damals sparte ich das Geld für das Portrait und gab es für ein kühles Bier aus – definitiv die bessere Investition.
  Das sind nur drei Beispiele aus einer ganzen Reihe von derartigen Ereignissen, die ich erlebte.

Unkenntnis und Erstaunen

Es zeigt sich, dass die Berichte über die Leiden zum Beispiel der Belarussen in den Jahren 1941 bis 1945 vielen im Westen unbekannt sind. Viele kennen weder die Tragödien von Ozarichi3 und Khatyn4, noch die Operation Bagration5. Auch die unzähligen Verbrechen der deutschen Wehrmacht – nicht nur der SS und der Gestapo – sind ihnen kaum bekannt. Der Grund dafür ist mir als Militärhistoriker klar: Nach 1945 heuerte der militärhistorische Dienst der US-Armee eine grosse Zahl deutscher Generäle an, damit sie die Geschichte des eben zu Ende gegangenen Kriegs niederschrieben.6 Und die Herren nutzten die Gelegenheit, um ihre eigene Rolle zu beschönigen, das Märchen von der stets ehrenhaft kämpfenden deutschen Wehrmacht zu erfinden und zu erklären, weshalb sie als eigentlich überlegene Soldaten trotzdem von der Roten Armee besiegt worden waren.7 Viele davon waren ihrer nationalsozialistischen Überzeugung treu geblieben und hielten die Soldaten und Offiziere der Roten Armee immer noch für «Untermenschen». Ihre Selbstrechtfertigung bestimmte jahrzehntelang die Geschichtsschreibung im deutschsprachigen Raum. Und dieser Geist bestimmt heute wieder die Berichterstattung über die russische Armee und den Krieg im Donbass.

Strategie der Geschichtsrevision

Hinter alledem steckt eine perfide Strategie: Derzeit will der Westen die Ordnung revidieren, die 1945 in San Francisco durch die Charta der Vereinten Nationen geschaffen worden ist. Die Hüter dieser Ordnung müssten eigentlich die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs sein, neben den USA, Grossbritannien und Frankreich eben auch Russland als Nachfolger der Sowjetunion und China. Seit Jahren schon möchte der Westen diese Ordnung beseitigen und die neue «regelbasierte Ordnung» an ihre Stelle setzen, die er bestimmen kann, ohne sich mit den Ländern absprechen zu müssen, die er schon als Feinde deklariert hat. Deshalb muss nun der Beitrag der Sowjetunion am Sieg über den Nationalsozialismus relativiert werden. Und weil man die Neonazis Europas als nützliche, aber fanatische Idioten gegen Russland in den Krieg schickt, muss man vorsichtig sein mit Kritik an den Nazis.8 Die Richtung dieser Bemühungen ist klar: Russland soll diskreditiert, isoliert und ausgegrenzt werden.
  Aber es geht noch weiter: Ganz generell sollen die Russen als Volk dämonisiert werden, man spricht ihnen ab, eine Kulturnation zu sein, und sie sollen nicht als Menschen dargestellt werden, sondern als aggressive Monster, die man an einem Angriff auf den zivilisierten Westen hindern müsse.
  Die Urheber dieser Strategie wissen aber auch, dass die Grenzen mehrerer Republiken der ehemaligen Sowjetunion 1945 auf der Konferenz von Jalta gezeichnet wurden. Eine dieser Republiken ist Belarus. Noch heute leben in vielen Republiken des postsowjetischen Raums zahlreiche Russen, und diese Republiken stehen vor der Aufgabe, ihre nationale Identität zu klären. Diese Leute wissen auch, dass die Erinnerung an den Grossen Vaterländischen Krieg für viele Menschen wichtig ist und eine wichtige Rolle spielt für die nationale Identität dieser Länder. Diese nationale Identität und den Zusammenhalt der Gesellschaften zu schwächen, ist Teil einer grösseren Strategie: Aufteilung und Beherrschung sind das Ziel davon.
  Deutschland hat fünf Jahre lang, vom Herbst 1939 bis Herbst 1944, Krieg auf fremdem Boden geführt. Die USA und die westeuropäischen Kolonialmächte haben nach Kriegsende 45 Jahre lang Kriege auf fremden Kontinenten geführt. Und seit 1991 hat die Nato, die eigentlich einmal als Instrument der Selbstverteidigung gegründet worden war, mehrere Kriege ausserhalb ihres Bündnisgebiets geführt. Viele wissen nicht, was Krieg im eigenen Land bedeutet, und sie gehen mit Krieg deswegen sorglos um. Geschichtsrevision ist Kriegsvorbereitung, und man muss entschlossenen Widerstand leisten, bevor es zu spät ist.  •



1 siehe «Lernen aus der Geschichte: Können Partisanen kriegsentscheidend sein?», bei Global Bridge, 18.5.2023, online unter globalbridge.ch/lernen-aus-der-geschichte-koennen-partisanen-kriegsentscheidend-sein/ 
2 Hauptzeuge dieser Theorie ist der sowjetische Überläufer Wladimir Bogdanowitsch Resun (russisch Владимир Богданович Резун), der unter dem Pseudonym Viktor Suworow im Jahr 1989 unter dem Titel Der Eisbrecher: Hitler in Stalins Kalkül eine Darstellung zu diesem Thema veröffentlichte. 
3 In einem Sumpfgebiet bei Ozarichi nördlich der Stadt Mosyr betrieb die deutsche Wehrmacht vom 12. bis 19. März 1944 ein Lager für arbeitsunfähige Zivilisten und liess dort in eisiger Kälte, ohne Verpflegung, sanitäre Anlagen oder medizinische Hilfe innerhalb einer Woche mindestens 9000 Menschen erfrieren und verhungern. Das Lager war auf Initiative des damaligen Oberkommandierenden der 9. Armee der Wehrmacht, General Josef Harpe, errichtet worden, der für dieses Verbrechen nie zur Verantwortung gezogen wurde. Siehe Dieter Pohl. Die Herrschaft der Wehrmacht: deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2008, S. 328
4 Die Bevölkerung des Dorfes Khatyn (Chatyn) nördlich von Minsk wurde am 22. März 1943 als Reaktion auf Partisanenangriffe in der Umgebung von Angehörigen des berüchtigten SS-Sonderverbands Dirlewanger und ukrainischen Kollaborateuren ermordet, das Dorf selbst niedergebrannt. Siehe «Massenmord aus Gewohnheit», bei Global Bridge, 5.6.2023, online unter globalbridge.ch/massenmord-aus-gewohnheit-siehe-dazu-auch-den-redaktionellen-nachsatz/
5 Zur Operation Bagration, in deren Verlauf die Rote Armee die deutsche Heeresgruppe Mitte zerschlug und die Deutschen aus Belarus vertrieb, siehe «Operation Bagration – Die erfolgreichste Operation der Alliierten im Zweiten Weltkrieg» bei Global Bridge, 7.6.2024, online unter globalbridge.ch/operation-bagration-die-erfolgreichste-operation-der-alliierten-im-zweiten-weltkrieg/ und «Operation Bagration – wie die Sowjets die Wehrmacht austricksten», bei Global Bridge, 1.7.2024, online unter globalbridge.ch/operation-bagration-wie-die-sowjets-die-wehrmacht-austricksten/.
6 Die historische Abteilung des Generalstabs der US-Armee wurde im Juli 1943 gegründet, zu deren erstem Leiter Oberstleutnant John M. Kemper ernannt wurde. Er stellte ein Team aus Historikern, Übersetzern und Kartografen zusammen, welche die offizielle Geschichte des Zweiten Weltkriegs aufzeichneten. Die Abteilung veröffentlichte insgesamt 78 Bände in der Reihe United States Army in World War II. Die deutsche Sektion davon wurde zeitweilig vom ehemaligen Generalstabschef Franz Halder geführt. Einer der wenigen Wehrmachts-Generäle, die sich nach dem Krieg weigerten, am Postwar Historical Debriefing Program der US Army teilzunehmen, war General Hermann Balck. Die wichtigsten Werke von ehemaligen Wehrmachts-Generälen stammen unter anderem von Franz Halder (Hitler als Feldherr, 1949), von seinem Nachfolger Heinz Guderian (Erinnerungen eines Soldaten, 1951) sowie von Admiral Karl Dönitz (Zehn Jahre und zwanzig Tage, 1958), von den Generalfeldmarschällen Albert Kesselring (Soldat bis zum letzten Tag, 1953) und Erich von Manstein (Verlorene Siege, 1955). Erwin Rommels Memoiren (Krieg ohne Hass) wurden 1950 postum veröffentlicht. Aus dem Oberkommando der Wehrmacht berichteten nach dem Krieg Adolf Heusinger (Befehl im Widerstreit. Schicksalsstunden der deutschen Armee 1923–1945, 1958) und Walter Warlimont (Im Hauptquartier der deutschen Wehrmacht, 1939–1945, 1964). General Siegfried Westphal schrieb 1964 das Werk Heer in Fesseln. Aus den Papieren des Stabschefs von Rommel, Kesselring und Rund-stedt, und verfasste 1945 zusammen mit vier weiteren Generälen die Denkschrift der Generäle mit dem offiziellen Titel Das Deutsche Heer von 1920–1945. Der Divisionskommandant Heinrich Greiner veröffentlichte 1968 seine Darstellung Kampf um Rom, Inferno am Po. Eine wichtige Quelle für die Ereignisse nach der westalliierten Invasion in der Normandie ist Hans SpeidelsInvasion 1944. Ein Beitrag zu Rommels und des Reiches Schicksal von 1949. General Günther Blumentritt veröffentlichte in den fünfziger Jahren mehrere militärgeschichtliche Bücher.
7 Unter Halders Leitung wurde die deutsche Abteilung des militärhistorischen Diensts zu einem zentralen Bestandteil der Verbreitung des Mythos der «sauberen» Wehrmacht in den Vereinigten Staaten. Siehe hierzu Ronald Smelser/Edward J. Davies: The Myth of the Eastern Front: The Nazi-Soviet War in American Popular Culture. New York, S. 65, online unter dokumen.pub/the-myth-of-the-eastern-front-the-nazi-soviet-war-in-american-popular-culture-0521833655-9780521833653.html
8 Trotz gegenteiliger Beteuerungen spielen Neonazis in Freiwilligenverbänden der ukrainischen Streitkräfte eine Rolle. Der Autor war auf seinen zahlreichen Dienstreisen in der Ukraine mehrfach mit solchen Verbänden konfrontiert, unter anderem in Kiew, Kramatorsk und Mariupol.

Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee. Im Anschluss daran folgte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er unter anderem als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz tätig war.

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